Über das schwierige Verhältnis der brasilianischen Militärs mit der neuen Lula-Regierung

Die Bilder gingen um die Welt: Am 8. Januar dieses Jahres stürmten militante Anhänger*innen des Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro in Brasília den Nationalkongress, den Präsident*innenpalast sowie das Gebäude des Obersten Gerichtshofes. Erst nachdem erhebliche Verwüstungen angerichtet worden waren, schritt die Polizei ein. Ein großer Teil der Vandal*innen konnte ungehindert in ihr Camp abziehen, das in einem militärischen Sperrgebiet lag. Eine unmittelbare Räumung des Camps wurde von den Militärs verhindert. Unser Autor analysiert: Nicht die militanten Bolsonaristas sind die größte Gefahr für die brasilianische Demokratie, sondern die Streitkräfte, die sich noch immer nach den Zeiten der Militärdiktatur sehnen.

Während die Parallelen zum Sturm auf das US-amerikanische Kapitol schnell gezogen waren, nehmen die Ereignisse in Brasilien einige Wochen später klarere Konturen an. Offensichtlich handelte es sich um einen Putschversuch. Die militanten Anhänger Bolsonaros erkennen dessen Niederlage bei den Präsidentschaftswahlen nicht an und mobilisieren seit dem Wahlsieg Lulas gegen dessen Präsidentschaft. Sie sammelten sich in zahlreichen Camps vor Militärkasernen und forderten die Militärs auf, zu intervenieren und die angeblich unrechtmäßigen Wahlen zu annullieren. Die Ereignisse des 8. Januar waren also der Kristallisationspunkt einer längerfristigen Kampagne.

Kurzfristig war die Aktion des 8. Januars sicherlich ein totaler Fehlschlag für die militanten Bolsonaristas. Die Verwüstungen provozierten eine breite Ablehnung, laut Umfragen sollen 93 Prozent der Brasilianer*innen die Aktionen missbilligen. Auch die mit Unterstützung Bolsonaros gewählten Gouverneur*innen der größten brasilianischen Bundesstaaten verurteilen die Ausschreitungen. In den Tagen nach dem 8. Januar wurden die Camps endgültig geräumt, der sichtbare militante Widerstand der radikalen Bolsonaristas kann zumindest vorläufig als gebrochen gelten. Aber der 8. Januar hat noch etwas anderes in den Mittelpunkt der politischen Debatte gerückt, nämlich die Beziehungen zwischen Militärs und der Regierung Lula. Die dürften für die neue Regierung ein viel größeres Problem sein als die militanten Anhänger*innen Bolsonaros. Das zögerliche Eingreifen der verschiedenen Einheiten von Militär und Militärpolizei sowie Kongress- und Bundesautobahnpolizei ebenso wie die wochenlange Komplizenschaft mit den Protestaktionen der militanten Bolsonaristas sind dabei nur die Spitze des Eisberges.

Amnestiegesetz von 1979: alle Verbrechen der Militärs straffrei

Denn am 8. Januar zeigte sich auf drastische Weise, dass die Stellung der Militärs in der brasilianischen Gesellschaft immer noch ungeklärt ist. Unter Bolsonaro hatten die Militärs massiv an Einfluss gewonnen: Nicht nur dass der Vizepräsident Brasiliens nach dem Wahlsieg Bolsonaros nun ein Militär war, auch lukrative Regierungsämter wurden massiv mit Militärs besetzt. Absurderweise waren in der Regierung Bolsonaro mehr Militärs vertreten als zur Zeit der Militärdiktatur. Aber die politische Rolle der Militärs wurde nicht durch Bolsonaro erfunden, das Problem geht auf die Verfassung von 1988 zurück, die nach dem Ende der Militärdiktatur die neue, demokratische Republik begründen sollte. Das Ende der Militärdiktatur wurde in einem langen, von den Militärs kontrollierten Übergang vollzogen. Dessen Kernstück war das Amnestiegesetz von 1979, nach dem alle Verbrechen der Militärs straffrei bleiben sollten. So verhinderten die Militärs eine systematische Aufarbeitung der Diktatur und sahen sich als wichtige Säule der neuen Republik. Ausdruck dieser politischen Gemengelage ist der Artikel 142 der Verfassung, der als Rolle der Streitkräfte eben nicht nur die Landesverteidigung, sondern auch die Garantie der Verfassung definiert. Und genau auf diesen Artikel berufen sich die radikalen Bolsonaristas, wenn sie eine Intervention der Militärs fordern, auch wenn eine solche Interpretation der Verfassung von fast allen Jurist*innen abgelehnt wird.

Aber die politische Rolle der Militärs hat in den Worten des Richters des Obersten Gerichtshofes, Gilmar Mendes, insbesondere durch das Instrument der „Garantie von Gesetz und Ordnung (GLO)“ an Muskulatur gewonnen. Dieses Instrument ermöglichte es dem Präsidenten oder der Präsidentin, das Militär für innenpolitische Aufgaben einzusetzen. Unter der Regierung Dilma Rousseff wurde dies häufig praktiziert, zum Beispiel bei der Unterdrückung der Proteste im Jahre 2013 oder im Vorfeld der Mega-Events der Fifa-WM (2014) und bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro (2016). Das GLO diente aber auch bei einer militärpolizeilichen Intervention in der Favela Maré in Rio de Janeiro zur Repression. Einen weiteren Schritt zum Aufstieg der Militärs leitete Präsident Michel Temer (2016-2018) ein, als er eine Militärintervention im Bundesstaat Rio de Janeiro dekretierte und den General Braga Neto mit umfassenden Vollmachten ausstattete. Braga Neto wurde später zu einem engen Verbündeten Bolsonaros und dessen Kandidat für die Vizepräsidentschaft. Temer und Bolsonaro brachen auch mit der republikanischen Tradition, das Verteidigungsministerium mit einem zivilen Politiker zu besetzen.

Zwei völlig gegensätzliche Narrative

Aber noch ein weiteres Element in dieser problematischen Gemengelage ist wichtig. In der brasilianischen Gesellschaft existieren zwei völlig gegensätzliche Narrative über die jüngere Geschichte. Die Machtergreifung der Militärs im Jahre 1964 gilt offiziell (zum Beispiel in Schullehrplänen) als Militärputsch. Die Militärs und ihre Institutionen (zu denen auch allgemeinbildende Schulen gehören) feiern den Putsch jedoch als nationale Revolution und Sieg über den Kommunismus. Und so kann es nicht überraschen, dass die krude rechtsextreme Ideologie Bolsonaros für viele Militärs attraktiv war und ist. Hatten sie sich mit den vorangegangenen Regierungen lediglich mehr oder weniger arrangiert, fühlten sie sich mit Bolsonaro wieder richtig gut. Insbesondere die Einrichtung einer (wenn auch nur sehr eingeschränkten) Wahrheitskommission zur Aufarbeitung der Verbrechen zur Zeit der Militärdiktatur durch die Regierung Dilma Rousseff hatte die Militärs weiter von den PT-geführten Regierungen entfremdet.

Der 8. Januar war also mehr als die hirnrissige Aktion einiger Fanatiker*innen, er bedeutet auch eine Wiederkehr des Verdrängten. Immer wieder rächt sich die fehlende Aufarbeitung der Militärdiktatur, und die gegensätzlichen Erinnerungen spiegeln eine Spaltung der Gesellschaft wider, die Bolsonaro nicht erfunden hat, sondern auf der er mit seiner Verherrlichung der Militärdiktatur aufbauen konnte.

Die Antworten von Lula und der PT verfolgen zwei unterschiedliche Strategien, um auf diese Situation zu reagieren. Zum einen hat Lula mit Ernennung des konservativen Politikers und ehemaligen Präsidenten des Rechnungshofes, Jose Múcio, zwar wieder einen Zivilisten zum Verteidigungsminister ernannt, zeitgleich aber auch ein Zeichen der Versöhnung und „Mäßigung“ an die Militärs gesendet. Múcios Ernennung hat auch dadurch Aufmerksamkeit auf sich gezogen, weil er 2016 das Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff unterstützt hatte. Nach dem 8. Januar wurde Múcio stark kritisiert, weil auch sein Ministerium nicht auf die Aktionen vorbereitet war. Dennoch hielt Lula an ihm fest, weil er als eine Person gilt, die von den Militärs respektiert wird. Auf der anderen Seite nutzte Lula den 8. Januar, um den Oberbefehlshaber des Heeres auszutauschen. Der neue Amtsinhaber, Tomás Paiva, betonte in seiner Amtseinführung nachdrücklich die Notwendigkeit, Wahlergebnisse zu respektieren. Die Tatsache, dass eine demokratische Selbstverständlichkeit so betont werden muss, zeigt, wie unübersichtlich die Perspektiven für eine demokratische Zivilisierung der Streitkräfte nach wie vor sind.

Versuch, die Militärs nicht zu „provozieren“

Dennoch, der 8. Januar kann zu einem Zurückdrängen des politischen Einflusses der Militärs beitragen. Aber ob weiterreichende Änderungen damit möglich werden, bleibt fraglich. Abgeordnete der PT haben vorgeschlagen, Artikel 142 der Verfassung zu ändern, dem werden aber geringe Aussichten auf Erfolg eingeräumt. Das Festhalten an Múcio spricht eher dafür, dass Lula dazu neigt, die Politik seiner vorangegangen Regierungen gegenüber den Militärs zu wiederholen. Lula hatte zum einen versucht, die Militärs nicht zu „provozieren“ und sie zum andern durch bedeutende Investitionen bei Laune zu halten, zum Beispiel durch den Kauf von U-Booten von Frankreich. Ergebnis war eine relativ friedliche Koexistenz mit den Militärs, die aber eben auch den Verzicht auf eine Aufarbeitung der Vergangenheit bedeutete und damit die Entpolitisierung der Streitkräfte nicht wirklich vorantrieb. Der Preis eines solchen partiellen Friedens ist die fortbestehende Gefahr, dass in der nächsten Krise das Verdrängte aus den Kellern der Geschichte zurückkehrt.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 463 März 2023, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.

Über Thomas Fatheuer / ILA:

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