„Ich bin ein Berliner“: So war der Tag, an dem John F. Kennedy vor 60 Jahren nach West-Berlin kam – Am 26. Juni 1963 hielt John F. Kennedy seine berühmte Rede, kurz darauf sprach er vor großem Publikum an der Freien Universität. Unser Autor war damals dabei.
Those were the days. Es waren die Tage, da neben dem Rock ’n’ Roll der Twist (West) und der Lipsi (Ost) die Tanzflächen beherrschten, da die Blumenkinder in Kalifornien mit dem Drogenprofessor Leary ins Bild rückten und Hermann Hesse eine Renaissance erlebte. Der alte Gospel „We Shall Overcome“ durchzog die USA, an der Seite von Angela Davis und Martin Luther King. Woodstock dämmerte herauf („Give Peace a Chance“), die weltbedrohende Kuba-Krise war im Oktober 1962 beigelegt worden und in Bonn wurde der Ökonomieprofessor Ludwig Erhard von CDU/CSU als Nachfolger des 87-jährigen Bundeskanzlers Konrad Adenauer designiert.
In West-Berlin machte sich hingegen der Regierende Bürgermeister Willy Brandt als SPD-Konkurrent berechtigte Hoffnungen auf die Nachfolge Adenauers. Seit 1961 residierte und regierte im Weißen Haus in Washington ein jugendlicher Präsident, auf dem seither die Hoffnungen der westlichen Welt ruhten. John F. Kennedy hatte im ersten Jahr seiner Regierungszeit erst einmal eine tiefe Verstimmung bei Willy Brandt verursacht, die bei einigen Unionspolitikern bis heute anhält.
Er hatte sich im Juni 1961 in Wien mit Kremlchef Nikita Chruschtschow getroffen, der ihn als Jungspund erkennbar nicht ganz ernst nahm. Ende Juli fragte Kennedys außenpolitischer Vertrauter, der demokratische Senator Fulbright, warum denn die DDR angesichts der Massenflucht ihrer Bevölkerung nicht ihre Grenzen abriegele. Und am 13. August wurde die Mauer gebaut. Washington und die Westmächte nahmen das stillschweigend hin. Alle Kontaktbemühungen Brandts stießen in Washington, London und Paris auf eine Mauer des Schweigens.
Der kritikvolle Brief, den Brandt in jenen Tagen an Kennedy schrieb, rief beim US-Präsidenten keine Begeisterung hervor. Irgendwann soll dann Kennedy gesagt haben „Eine Mauer ist besser als Krieg“. Doch die Verstimmung blieb. JFK wollte daher – nicht zuletzt auf Anraten seines Bruders Robert – an alte Verbundenheit und Gemeinsamkeiten erinnern und reiste zum 15. Jahrestag der Blockade nach Berlin.
An seiner Seite der „Held der Luftbrücke“, General Lucius D. Clay. Dazu im Gepäck ein ganzes Bündel neuer Ideen für eine neue Weltordnung, mit denen er Deutschland und die Welt überraschen wollte. Dabei ging Kennedy während seiner acht Stunden in Berlin klug und abgestimmt vor. Nicht seine Rede vor den Massen am Rathaus Schöneberg sollte der Höhepunkt sein, sondern die letzte Station vor seinem Abflug, die Ansprache in der Freien Universität in Dahlem.
Rede an der Freien Universität
Bevor es in die FU ging, stattete Kennedy der US-Garnison in West-Berlin, den 6000 GIs und ihren Angehörigen, einen Besuch ab. In der Clayallee am „Outpost Theatre“ (heute Sitz des Alliierten-Museums) war ein Rednerpult aufgebaut. Auch diesen rein englischsprachigen Teil der Visite ohne deutsche Politprominenz übertrugen die an diesem 26. Juni 1963 zusammengeschlossenen West-Berliner Sender Rias und SFB live für alle Anstalten der ARD sowie für die Radiostationen in Österreich und der Schweiz.
Das Fernsehen war noch weitgehend unbedeutend und konnte erst zur Fußball-Weltmeisterschaft 1966 in England auch in Deutschland West seinen Siegeszug antreten. Nun stand Lucius D. Clay an der schon zu seinen Lebzeiten nach ihm benannten Allee neben John F. Kennedy, der seinen Soldaten klar machte, dass sie in Berlin das gesamte amerikanische Volk repräsentierten – „Speerspitze als Verteidiger der Freiheit“, denn es ging immer wieder um das Recht der drei Westmächte auf Anwesenheit in West-Berlin.
Auch an der Clayallee herrschten Trubel und Begeisterung. Teenager kreischten, als ob die Beatles nahe wären. Kinder rannten kreuz und quer über die Straße bis zum Rednerpult, wo sie ihrem Präsidenten die Hand schüttelten. Es war erhebend auch für einen jungen Radioreporter wie mich, dem an diesem Junitag die Ehre zuteil wurde, über Kennedy en famille berichten zu dürfen. Eine Simultanübersetzung seiner Rede war nicht beabsichtigt – schließlich sollte der Präsident im Originalton zu hören sein. Wohl aber eine Zusammenfassung seiner auch hier aufmunternden Worte.
Es war ein windiger Tag in Berlin, und immer wieder kam es zu der für Kennedy typischen Handbewegung, dass er sich gegen Wind und Wetter seine Haarpracht aus dem Gesicht strich. Ihm so nah gegenüberzustehen, schien für einen 24-Jährigen damals so etwas wie die Erfüllung eines Reporterlebens – nicht wissend, dass die Welt noch viele Überraschungen und Erlebnisse barg, die ebenso überwältigend wie die Kennedy-Begegnung sein sollten.
Als JFK sich auf den Weg in die nahe gelegene FU machte, ahnten wir noch nicht, welche historische Bedeutung sein Auftritt dort einmal haben würde. Vor den Zehntausenden am Rathaus Schöneberg war er ganz offenkundig beseelt gewesen von der Vorstellung, mit seinen guten Worten für die Berliner einen Vergleich zur römischen Antike zu ziehen. Dass in Rom – der Metropole eines Weltreichs – mehr Sklaven als Freie lebten, focht ihn dabei wohl kaum an. Civis romanus sum – „Ich bin ein Bürger Roms“ war sein Zauberwort, das er sich, ins Deutsche übertragen, vom Rias-Intendanten Robert H. Lochner in Lautschrift auf einen Zettel kritzeln ließ: „ich bin ine bear-LEAN-ar“.
Zweimal fiel der Satz unter dem Jubel der Menge. Diesen Satz verstand jeder und jede sofort – ohne Kleines oder Großes Latinum und ohne Kenntnisse von der römischen Antike. Es war eine Reverenz vor den Menschen im tatsächlich oder vermeintlich bedrohten West-Berlin. Der Harvard-Historiker Andreas W. Daum hat 2003 als erster versucht, Ursprung und Hintergründe jenes elektrisierenden Satzes zu erläutern.
Die Strategie des Friedens
Für Daum war dieser 26. Juni 1963 der Höhepunkt einer „Emotionsgeschichte des Kalten Krieges“. Allgemein wird die Kennedy-Rede als Glanzstück außenpolitischer US-Rhetorik gewertet. Wer ihre Wirkung betrachtet, hat zweifellos recht. Von JFK war sie allerdings nicht als Höhepunkt seines Berlin-Besuchs gedacht. Den Schlusspunkt setzte Kennedy an jenem 26. Juni nach dem Aufenthalt in der US-Garnison in der wenige Meter entfernten Freien Universität.
Hier erneuerte er seine „Strategy of Peace“, die Strategie des Friedens, die er wenige Tage zuvor – am 16. Juni 1963 – in der American University in Washington erstmals verkündet hatte. Die wissenschaftliche Beurteilung dieser Ansprache übertrifft sogar in weiten Teilen noch die großartige Bewertung des „Ich bin ein Berliner“-Bekenntnisses. Wohl überlegt hatte sich der US-Präsident seine Vision einer künftigen Weltordnung für einen krönenden Abschluss in West-Berlin aufgehoben.
Er sprach von den Möglichkeiten der Kooperation und der Koexistenz mit der Sowjetunion. Ja – sogar eine Wiedervereinigung Deutschlands zog er in Betracht, auch wenn das sehr, sehr viel Geduld erfordere. Egon Bahr – Willy Brandts Pressechef zu jener Zeit – bemerkte, dass sich bei Kennedys Rede in der FU die Miene des greisen Kanzlers Adenauer verfinsterte, während Willy Brandt jetzt erleichtert und gelassen dreinschaute – genau das Gegenteil zur Kennedy-Rede am Rathaus Schöneberg einige Stunden zuvor.
Brandt und Bahr wussten nun, dass sie ihre eigenen Ideen für eine „Neue Ostpolitik“ in Deutschland und Europa umsetzen konnten. Am 26. Juni 1963 war mit der Kennedy-Rede in der FU die Entspannungspolitik geboren. Als am 22. November 1963 die Nachricht von der Ermordung Kennedys Berlin erreichte, saß der Schock tief. Die West-Berliner stellten brennende Kerzen in die Fenster, was sie sonst nur zu Weihnachten im Gedanken an die „Brüder und Schwestern in der DDR“ taten.
Spontan formierte sich ein Fackelzug von FU-Studenten, der zum Rathaus Schöneberg zog. Ungeachtet dessen konnte Willy Brandt an seinem 50. Geburtstag am 18. Dezember 1963 einen ersten Erfolg neuer Ost-West-Beziehungen registrieren: Zum ersten Mal seit 1961 öffnete sich die Mauer mit einer Passierschein-Regelung für West-Berliner zum Besuch Ost-Berlins an Weihnachten und Neujahr. Für Brandt war das erklärtermaßen „Der glücklichste Tag meines Lebens“.
Alexander Kulpok ist Journalist und Autor. Er arbeitete im Sender Freies Berlin, zunächst im Jugendfunk, dann als Reporter, Redakteur, Moderator und schließlich lange als Leiter der ARD-/ZDF-Videotextredaktion.
Letzte Kommentare