Zum neuen Krieg gegen den Terror und zum Verlust von Menschlichkeit – Israel, Palästina, USA, Deutschland, die Ukraine und auch Russland

Ruchloser Terror wie der der Hamas ist verbrecherisch und muss kompromisslos verurteilt werden. Unverzeihlich aber ist ebenfalls, wenn die Reaktion auf Terror zu nichts anderem als Terror führt. Das war die Mahnung von Barbara Lee im Kongress 2001, als nach den Abschlägen des 11. September 2001 der „Krieg gegen den Terror“ begann: Lasst uns nicht zu dem Bösen werden, das wir beklagen.

Damals waren die USA im Schock und mit ihr die Welt. Damals, in einem Zustand von tiefer Betroffenheit, von Verzweiflung und Wut über das Geschehene wurde das alles ausgenutzt, um längst geplante Kriege führen zu können. In seinem Gefolge standen massenhafter Tod und millionenfache Flucht. Der „Krieg gegen den Terror“ führte zur Beschneidung wichtiger bürgerlicher Rechte in den USA, zur willkürlichen Verhaftung und Folterung von mutmaßlichen Terroristen und dazu, dass das Töten von Menschen durch Drohnen zum legitimen Mordinstrument erhoben wurde, obwohl es gegen alles verstößt, was zum demokratischen Wertekanon gehört: die Achtung des Lebens, die Geltung rechtstaatlicher Prinzipien im Verdachtsfall. Mutmaßliche Terroristen, die sich dann später häufig als Zivilisten herausstellten, blieben ohne Verteidiger. Ihr Ankläger wurde zum Richter und Vollstrecker in einer Person, und in der Folge zog sich eine noch größere Blutspur durch die Welt. In der weiteren Folge wurde die internationale Diplomatie schwer beschädigt. Beweislose politische Anschuldigungen sind nicht mehr geächtet, sondern wurden regelrecht ein Standard-Mittel jeglicher Konfliktanheizung.

Auch aktuell, angesichts des Hamas-Terrors in Israel gehen die Emotionen hoch. Wer fühlte nicht mit den israelischen Opfern, den Toten, den Verwundeten, den Vermissten, den von Hamas Entführten? Und doch entbindet uns das nicht von der Pflicht, der Frage nachzugehen, warum es so weit kommen konnte und was getan werden muss, damit sich die Welt nicht in einer weiteren Spirale von Terror verliert. Und wieder einmal geht es um unsere Menschlichkeit. Immer wieder müssen wir neu entscheiden, wer wir sind oder besser gesagt, wer wir sein wollen: ein primitives unbewusstes Etwas oder ein denkendes, fühlendes und nach moralischen Grundsätzen handelndes Wesen? Beides ist in uns angelegt. Im Mythos der Sinti und Roma von den Urmen ist es aufgehoben: wonach drei Schicksalsengel den Menschen begleiten, einer verkörpert das Gute, einer das Böse, und einer ist der „schiedsrichternde Engel der Vernunft“.

„Wir stehen mit Israel“, ist ein zutiefst vereinfachender, im Grunde unverbindlicher Slogan, der verdeckt, dass die erste politische Reaktion der EU auf die Geschehnisse in Israel in die richtige Richtung wies: Eine Verurteilung des Terrors ohne Wenn und Aber, ein Bestehen auf dem Völkerrecht und eine Erinnerung daran, dass nur eine Zwei-Staaten-Lösung, die die internationale Gemeinschaft nun schon seit so vielen Jahren vergeblich fordert, die Gewaltspirale unterbrechen kann.

Archaische Rechnung ist übererfüllt

Aktuell zieht Israel in den Krieg und der ganze Gaza-Streifen ist betroffen, neuerdings auch die West Bank.

Politico.com berichtete, dass sich Israel nicht darum zu scheren scheint, dass die USA (die EU ist dort nicht im Blick) die Geltung humanitärer Grundsätze einfordern. Die Times of Israel berichtete, dass neben den 1500 Terroristen, die die israelische Armee in den ersten drei Tagen während der Niederschlagung des Terrorangriffs getötet hat, durch die Luftangriffe auf den Gaza-Streifen inzwischen bereits weitere 1400 Menschen gestorben sind und über 6000 verwundet wurden. Die archaische Rechnung Auge um Auge, Zahn um Zahn um Zahn, ist längst übererfüllt.

Laut Politico.com kommt in Israel nur die US-Solidaritätsadresse an. Tatsächlich werden wir auf ein Blutbad eingeschworen, das der Terror-Hydra Haupt und Glieder abschlagen soll. Koste es, was es wolle. Wenn jemand wie der ehemalige Nato-Oberbefehlshaber Breedlove sagt, dass es „hässlich werden wird“, dann ist alles eingepreist: die zivilen Opfer, die vielen Leben israelischer Soldaten, die der Häuser- und Tunnelkampf kosten wird, und womöglich auch der Tod der Geiseln. Bei Sky konnte man hören, dass es keinen Krieg gibt, in dem nicht auch ein substantieller Anteil der Zivilbevölkerung zu Schaden kommt. Der sogenannte „Kollateralschaden“. Der israelische Präsident erklärte in einem Pressebriefing, im Gaza-Streifen rage ein Maschinengewehr aus jeder Küche.

Das ist doch merkwürdig. Der Gaza-Streifen ist so engmaschig überwacht, dass dort nichts passiert, was der israelische Geheimdienst nicht mitbekommt. Und dennoch, Israel wurde vom Terror völlig überrascht, schlug auch die Warnung der Ägypter in den Wind und kennt nun angeblich die Orte, wo die Hamas sich versteckt: in jeder Küche?

Menschen in Gaza sind Geiseln der Hamas

Angeblich agiert die Hamas in Tunneln und hält dort auch die Geiseln fest. Wieso zerbombt sich die israelische Armee ihren Weg auf der Jagd nach der Hamas, mit der Folge, dass nicht nur viele Zivilisten sterben, sondern auch die Kriegsführung gegen die Hamas schwieriger wird? Durch den vielen Schutt kommen doch keine Fahrzeuge mehr durch. Im Gaza-Streifen sitzen die Menschen auf einem Präsentierteller. Sie sind in gewisser Weise ebenfalls Geiseln von Hamas. Es gibt nichts, wohin sie fliehen könnten. Da ist alles zu. Auch das wissen alle seit Jahren, so wie alle seit Jahren wissen, dass die Hamas sehr wahrscheinlich eine Kreation des israelischen Staates ist, um die Palästinenser zu spalten und gleichzeitig einen Buhmann zu haben. Haaretz schreibt offen darüber, dass der aktuelle israelische Ministerpräsident es seit dem Jahr 2009 für eine gute Idee hielt, die Palästinenser zu spalten. Und zitierte auch eine Veröffentlichung der Jerusalem Post, wonach das eigentliche Ziel in der Verhinderung eines eigenen palästinensischen Staats lag, wie Netanyahu in einem privaten Treffen von Parteimitgliedern erklärt haben soll.

Nun hat sich das Hamas-Monster als unkontrollierbar erwiesen, aber noch immer taugt es dazu, die Brutalität des Vorgehens gegen den Gaza-Streifen zu rechtfertigen. Laut Washington Post wurden durch Israel inzwischen mehr Bomben auf den Gaza-Streifen abgeworfen, als die USA in einem Jahr Krieg in Afghanistan abwarfen. Wohin sollen denn die nun vom Krieg bedrohten Einwohner des Gaza-Streifens hingehen? Die Aufforderung der israelischen Armee, das Gebiet zu verlassen, ist nicht realisierbar.

Propaganda vergrössert das Grauen – auch in Gaza gibt es Kinder

Warum machte die israelische Propaganda das Grauen des Terrors noch schlimmer und brachte die Mär von 40 enthaupteten Babys in Umlauf, die der US-Präsident noch weiterdrehte und von Fotos sprach, die er gesehen habe. Nur kurz darauf musste das Weiße Haus klarstellen, dass niemand ein Foto gesehen hatte. Die einzige Berufungsgrundlage kam aus dem Umfeld des israelischen Premierministers, während die israelische Armee sie nicht bestätigen konnte.

Tote Kinder, misshandelte, missbrauchte und schauerlich ermordete Babys sind nicht zum ersten Mal Teil einer Kriegserzählung, weil das in jedem Menschen ein sofortiges Gefühl größter Abscheu erzeugt, was die Klarsicht trübt: Was sind das für Bestien, die so handeln?

Auch im Gaza-Streifen gibt es Kinder, sehr viele sogar. Sind die weniger wert? So werden inzwischen Kinderfotos gegen Kinderfotos aufgerechnet. Der Times ist anscheinend ein ganz peinlicher Fehler unterlaufen. In Solidarität mit den israelischen Kinderopfern zeigte sie verwundete palästinensische Kinder. Oder war das nur Photo-Shopping?

Der Vertreter Palästinas hielt es jedenfalls für notwendig, in seiner Presserklärung vor der Sitzung des Sicherheitsrates (in Begleitung des Botschafters der Arabischen Liga) zweimal zu betonen, dass die Palästinenser keine „Untermenschen“ seien.

Er sprach damit einen Punkt an, der in der westlichen Erzählung über Israel nicht vorkommt: Dass es in Israel eine politische Strömung gibt, die religiös-extremistisch ist und deren Ziel darin besteht, Israel in seinen biblischen Grenzen wieder zu errichten. Denen sind alle anderen Religionen verhasst. Erst Anfang Oktober stürmten religiöse Fanatiker unter den „Siedlern“ die Al Aqsa Moschee, die zu den drei großen heiligen Stätten der muslimischen Welt zählt. Gleichzeitig aber bespuckten sie auch Christen.

Das Unglück will es, dass in Jerusalem ein heiliger Ort existiert, der für drei Weltreligionen so große geistige Bedeutung hat, dass allein schon seine Benennung zum Glaubensstreit und zum politischen Konflikt führt. Ist es nun der „Tempelberg“ oder „al-Haram asch-Scharif“? Bei Wikipedia lässt sich verkürzt nachlesen, wie explosiv das ist:
„’Tempelverleugnung ist schlimmer als Holocaustleugnung’, so der Archäologe Gabriel Barkay, der zu dieser Zeit (Anm.: 2016) im Temple Mount Sifting Project engagiert war. ‘Die Unesco (Anm.: die sich 2016 für die Bezeichnung al-Haram asch-Scharif entschied) hat somit gemäss israelischen Regierungskreisen die historische Verbindung des Judentums mit dem Tempelberg geleugnet’, bemerkte Carlo Strenger in einem Beitrag für die Neue Zürcher Zeitung.“

Lessing ist für Extremisten keinen Handlungsanleitung

Die Lessingsche Ringparabel, wonach keiner der drei Ringe (drei Weltreligionen) der einzig wahre ist und sie allenfalls friedlich miteinander wetteifern sollten, ist für religiöse Extremisten keine Handlungsanleitung, obwohl es theologisch betrachtet sogar Gotteslästerung gleichkommt. Schließlich hat es Gott gefallen, die Menschheit mit großer Diversität in allem, einschließlich der Religionen, zu beglücken. Aber auch nicht religiös gebundene Menschen verstehen, dass der einzige Weg zum friedlichen Miteinander in der Toleranz liegt. Sie kann nur auf Augenhöhe ausgeübt werden. Weder Selbstüberhebung, Demütigung, und schon gar nicht Krieg oder Terror haben Platz in einer Welt, die sich im Gefolge des Zweiten Weltkrieges eine moderne Menschenrechtsverfassung gegeben hat. Deren wichtigstes Gebot, und das scheint häufig völlig vergessen, steht in Artikel 1

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“

Es ist der abwesende „Geist der Brüderlichkeit“, der an der Wiege aller großen internationalen Konflikte steht. Jede große Konfliktanheizung geht in der Regel damit einher, dass dem Gegner Vernunft und Gewissen abgesprochen werden, im weitesten Sinn die Menschlichkeit.

Im Fall Israels und des Gaza-Streifen als Brutstätte von Terrorismus ist klar: Der Gaza-Streifen schuf sich nicht selbst. Er ist das Ergebnis von Kolonialismus, Krieg und mangelnder Durchsetzungsfähigkeit der Vereinten Nationen. Gaza sei die „Hölle auf Erden“ für Kinder erklärte der UN-Generalsekretär 2021. Und doch, es hat nicht so sehr das Gewissen der Menschheit berührt, dass daran gearbeitet worden wäre, diesen Schandfleck für uns alle zu beseitigen. Alle Initiativen verliefen im Sand. Und warum?

Band mit Israel

Zwischen den Zeilen gab der erwähnte Politico-Artikel eine Antwort: In der Hirarchie der US-Beziehungen steht Israel ganz oben und irgendwo sehr viel weiter unten sind die Interessen der Palästinenser bzw. im weiteren Sinn die der arabischen Welt angesiedelt. Es ist ja gut und richtig, wenn der US-Präsident ein „emotionales Band“ mit Israel hat.

Auch wir Deutsche müssen ein solches Band mit Israel haben, aus sehr gutem Grund. Aber das entbindet uns nicht von der Pflicht, ein gleichwertiges Band mit den mehrheitlich friedlichen Palästinensern zu haben. Sonst werden wir unfähig, zur Konfliktlösung auch nur irgendetwas beizutragen. Denn logischerweise ist ohne eine solche Konfliktlösung weder die Existenz noch die Sicherheit Israels wirklich gewährleistet.

SPD hat Angst vor Sanders

Die Position von Srenator Bernie Sanders folgt der Sprache der Vernunft. Und was tat die SPD–Chefin? Sie weigerte sich, ihn zu treffen, wenn der Bericht von t-online stimmt. Wie weit will die SPD noch sinken?

Ein paar weitere Dinge sind ebenfalls bemerkenswert. Noch vor wenigen Wochen schätzte der Nationale Sicherheitsberater der USA, Jake Sullivan, ein, die Lage im Nahen und Mittleren Osten sei ruhig und stabil. Diese Einschätzung erwies sich als absolut falsch, weil Sullivan nur die US-Perspektive auf die Lage hatte, die offenbar vom Hochsitz der „unverzichtbaren Nation“ (US-Präsident am 3.10. 2023) nicht sieht, was in den „verzichtbaren“ Nationen wirklich vor sich geht. Nun warnt der UN-Generalsekretär vor einer regionalen Ausweitung des Kriegs.

Es ist auch klar, dass der Terror, der sich in Israel entfaltete, einen Super-Gau für die Geheimdienste darstellt. Die haben inzwischen eine Antwort parat: Zuviel habe man sich auf künstliche Intelligenz verlassen. Nur eine menschliche Schnüffelnase hätte im Wust der Informationen herauslesen können, wo etwas falsch lief. Vielleicht.

Aber diese Erklärung bietet auch einen ganz wundervollen Vorwand dafür, warum in einer Welt des zunehmenden Einsatzes künstlicher Intelligenz, die durch so viele Berufe pflügen und Menschen „ersetzen“ wird, die Geheimdienste auf jeden Fall ausgespart bleiben sollen. Dort bleibt der menschliche Faktor unersetzlich. So wendet sich ein dienstlicher Super-Gau dennoch zu etwas „Gutem“.

Ukraine – jede Fahnenstange hat ein Ende

Nun ist Israel das Ziel westlicher Solidarität. Und was ist mit der Ukraine, die gerade lernt, dass das US-Versprechen einer grenzenlosen, zeitlich nicht terminierten Solidarität den Bach runtergegangen ist? Admiral Kirby hat jüngst verkündet, dass jede Fahnenstange ein Ende hat. Präsident Selenskyj wehrte sich natürlich gegen die neue Bedeutungslosigkeit und ließ die Welt wissen, dass Russland hinter allem stecke, was in Israel passierte. Nur dass diesmal das russische Schreckgespenst nicht verfing.

Nach den Planungen bestimmter US-Kreise, die den Iran hinter allem vermuten (wollen), passen die Russen einfach aktuell nicht ins Bild. Außerdem ist die ukrainische Gegenoffensive gescheitert. Da tut Ablenkung gut. Der Intercept berichtete, dass es keine Beweise dafür gebe, dass Iran mit dem Terroranschlag der Hamas etwas zu tun hätte. Ein Krieg gegen den Iran ist der eigentliche große Krieg, den das Pentagon zwar schon 2001 beschlossen hatte, aber bisher nicht führen konnte. General Wesley Clark hatte in einem öffentlichen Interview 2007 alles verraten, aber kaum einer wollte hören, was er zu sagen hatte.

Und so gebiert ein Krieg den nächsten …

Über Petra Erler / Gastautorin:

Petra Erler: "Ostdeutsche, nationale, europäische und internationale Politikerfahrungen, publizistisch tätig, mehrsprachig, faktenorientiert, unvoreingenommen." Ihren Blog "Nachrichten einer Leuchtturmwärterin" finden sie bei Substack. Ihre Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit ihrer freundlichen Genehmigung.