Die SPD-Kanal-Fronde gegen den sozialdemokratischen Bundeskanzler

In Deutschland gibt es noch 256.000 landwirtschaftliche Betriebe. Anfang der 70er Jahre waren es noch dreimal so viele. Dort arbeiten 554.000 Erwerbstätige. 1991 waren es noch mehr als doppelt so viele. Wie viele davon mögen SPD gewählt haben? Darüber gibt es kein gesichertes Zahlenmaterial. Hängt der Job von SPD-Ministerpräsident*inn*en von ihnen ab? Ich wage es, das zu bestreiten. Mut erfordert das nicht.

Wenn der Tagesschau-Kommentator zur besten 20-Uhr-Sendezeit damit angefüttert war, dass ebensolche MPs sich öffentlich gegen ihren Kanzler stellen, dann ist das Motiv, Olaf Scholz auszuwechseln. Diese Nachtigall war selbst für uns hier weit im Westen kaum zu überhören, siehe hier und hier.

Die agroindustrielle Lobby vom sog. “Bauernverband” setzt auf die Unwissenheit der Städter*innen. Die kennen die Landwirtschaft aus idyllisierenden Bilderbüchern. Was der “Bauernverband” vertritt, ist beinharte Industrielobby. Robert Habeck müsste das mittlerweile ausreichend kennengelernt haben. Inhabergeführte Betriebe mobilisieren zur alljährlichen “Wir haben es satt”-Demo zur Grünen Woche in Berlin. Dort waren bislang noch nie Rechtsradikale zu sehen. Die interessiert gesunde Ernährung und Genussfreude nämlich nicht.

Aber die Agroindustrielobby wittert eine Chance, wie sie das deutsche Rüstungskapital schon effizient genutzt hat. Ein bisschen blasen, und die Ampel knickt um. Sie haben die Agrarwende von 2001 nicht vergessen, als Gerhard Schröder ihren Mann, den Niedersachsen Karl-Heinz Funke, als Landwirtschaftsminister feuerte und durch die Grüne Renate Künast ersetzte. Und die sah nicht nur wie eine Grüne aus und schwätzte neunmalklug durch die Landschaft, sondern sie handelte auch. Zum Beispiel machte sie in einem schlauen Bündnis mit dem Bundesverfassungsgericht die Centrale Marketing Agentur der deutschen Agrarwirtschaft (CMA) platt, die aus Steueraufkommen institutionell finanziert wurde. So gemein konnte diese Künast sein …

Nur mal angenommen, der “kriegstüchtige” Niedersachse Pistorius ersetzt den nichtsnutzigen Grossstädter (Hamburg oder Potsdam, egal) Scholz, dann ist doch allen Grosskapitalgruppen geholfen, oder? Der macht Hoffnung auf die gute alte Zeit, als Soziminister noch zuverlässige Agrarlobbyisten waren. Tja, und wenn der Pistorius gar nicht Kanzler wird, sondern Vizekanzler – was könnte es Schöneres geben? Gauland ist ja zu alt …

Gehören Sie zu den jungen Leser*inne*n?

Dann fragen Sie sich vielleicht, was die Überschrift sagen will. Die Theorie vom “staatsmonopolistischen Kapitalismus” meint, der Staat fungiere als “ideeller Gesamtkapitalist” im Interesse der jeweils dominierenden Sektoren des kapitalistischen Grosskapitals. Als der Bundeskanzler noch Studentenpolitik machte, gab er vor, dieser Sichtweise anzuhängen. Das war erforderlich, um in den Hamburger Jusos als junger Mann voranzukommen. Und nun könnte es sich wieder in einem Industriesektor, der Landwirtschaft, bewahrheiten – wenn der Bauernverband es schafft, mit ein paar fetten Treckern die “Ampel” plattzufahren.

Dass die deutsche Politik heute bis hoch hinauf in ihre elitäre Berliner Bundesspitze zunehmend medien- und schlagzeilengetrieben agiert, politische Ziele und Strategien immer weniger kennt (oder gar beherrscht), hat sich zu einer Gefahr für den Bestand der bürgerlichen Demokratie aufgetürmt. Grosse alte und neue Medien und Kapitalgruppen sehen darin keine Gefahr, sondern eine Erleichterung ihrer (Lobby-)Arbeit, sie spielen damit und sehen ihr Lobbygeld gut angelegt. Diese Gefahr ist nicht mehr mittel- oder gar langfristig. Jede*r, die*der es versucht, kann sie sehen.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net