Mit wachsender Digitalisierung wird das Problem deutlicher, dass Personen von der Grund- und Daseinsversorgung ausgegrenzt werden, weil sie nicht über Smartphone oder Internet kommunizieren. Teils haben sie den Umgang mit digitalen Medien nicht gelernt, teils wollen sie nicht für jeden (Un)Sinn eine App laden, teils sind ihnen Anschaffung und Betrieb zu teuer, teils wollen sie sich nicht dem Digitalzwang unterwerfen, teils wollen sie vermeiden, Datenspuren zu hinterlassen. Manche befürchten einen Missbrauch ihrer Daten und Verstöße gegen den Datenschutz.
Oder sie haben Angst vor Pannen und dem Verschwinden ihrer Daten. Hacker könnten sich illegal ihre persönlichen Angaben verschaffen. Im entscheidenden Moment kann der Akku leer sein. Oder der PIN-Code ist nicht parat. Das Handy liegt zu Hause oder ist gestohlen worden. Der Gebrauch von Handys ist untersagt. Es besteht kein Netzempfang. Die Abhängigkeit vom Netz kann dazu führen, dass bei technischen Problemen des Versorgers/Anbieters bestimmte Leistungen vorübergehend nicht verfügbar sind. Oder es gibt weltweit massive IT-Störungen wie am 19. Juli.
Digitalisierung ist nicht für jeden eine zukunftsorientierte Lösung, die die Problembewältigung erleichtert, sondern kann auch zu neuen Problemen führen. Vielfach ist sie ein Störfaktor für das menschliche Zusammenleben. Jede digitale Internetnutzung erzeugt eine Fülle von Daten, die oftmals gar nicht benötigt werden. Und es werden mehr Personen beteiligt als nötig und als analog üblich. Oft werden die Daten zweckwidrig für Werbezwecke genutzt. Nicht zu vergessen ist der Missbrauch durch Cyberkriminalität und Geheimdienste.
Eine große Zahl von Geschäftsvorgängen soll heute per Internet erledigt werden. Die Liste ist lang und wird immer länger: Bahn-Card und Deutschland-Ticket; Boarding-Pass für Flug, Reise, Mietwagen und Hotel; Lieferdienste, Paketzustellungen, Banküberweisungen, Arzttermine, Elektronische Patientenakte, Energie- und Wasserversorgung, Abfall- und Sperrmüllentsorgung, Kfz.-Zulassung, Arzttermine, Steuererklärungen. Selbst zum Lesen der Speisekarte braucht man oft ein Smartphone. Manchmal sind die Kosten einer analogen Leistung höher als die der digital erworbenen. Oder die analogen Leistungen verschlechtern sich, wenn sie auch digital angeboten werden.
Auch wenn die Wahrnehmung mancher Geschäftsmodelle heute ohne digitale Medien kaum noch möglich ist, garantieren uns unsere Grundrechte ein Recht auf Teilhabe, nicht nur digital. Die Freiheit, etwas zu tun, muss auch beinhalten, etwas nicht zu tun (negative Handlungsfreiheit). Das Recht auf Informationelle Selbstbestimmung garantiert uns, selbst über den Umfang der bekannt gegebenen persönlichen Daten zu entscheiden und ggf. digitale Medien zu meiden. Und das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 1 und 2 GG) und das Recht auf Gleichbehandlung (Art. 3 GG) schützen die freie Entfaltung der Persönlichkeit.
Bei manchen dieser Angebote gibt es gewiss auch analoge Verfahren, doch nimmt die Zahl dieser Alternativen stetig ab. Daher hat sich kürzlich ein Bündnis aus 28 zivilrechtlichen Organisationen an den Bundesbahnvorstand gewendet mit der Bitte, neben digitalen auch analoge Angebote für Bahnleistungen vorzuhalten.
Vermehrt taucht die Warnung davor auf, Personen ohne Internet- und Smartphonezugang auszugrenzen, von der Nutzung bestimmter Leistungen und damit von Teilen der Gesellschaft auszuschließen und sie in ihrer Handlungsfreiheit einzuschränken. Menschen ohne Endgerät werden für Teile der Gesellschaft unsichtbar und unerreichbar, wenn es für sie keinen analogen Zugang gibt. Es sind nicht nur alte, arme und obdachlose Leute, die davon betroffen sind. Vor allem die Ausübung von Grundrechten muss für jeden sowohl auf analoger wie auf digitaler Weise möglich sein. Gerade Verwaltungen sind gefordert, auch analoge Zugangswege anzubieten. Ansonsten könnte eine unzulässige Diskriminierung vorliegen.
Verstärkt wird daher derzeit ein ‘Grundrecht auf ein analoges Leben‘ gefordert. Das Bundesverfassungsgericht könnte dies in gleicher Weise erschaffen wie 1983 das Recht auf Informationelle Selbstbestimmung. Immerhin hat das Gericht schon 2020 vorgegeben, dass der Gesetzgeber tätig werden muss, wenn neue technologische Entwicklungen zu Grundrechtsgefährdungen führen. Ein solches neues Grundrecht würde es ermöglichen, das Recht einzuklagen, (gewisse) digitale Medien nicht benutzen zu müssen und auf analoge Alternativen zurückgreifen zu können. Ein lautstarker Vertreter dieser Forderung ist der Buchautor und frühere SZ-Ressortchef Heribert Prantl.
Auch die Gewerkschaft Verdi hat sich dieses Anliegen zu eigen gemacht. 44% der Bevölkerung unterstützen diese Forderung. Die Kleinstpartei „Die Basis“ hat die Forderung in ihr Programm aufgenommen (sie setzt sich aus vergleichbaren Gründen auch für den Erhalt des Bargelds ein). Der Verein Digitalcourage hat im Juli 2024 eine Petition für die Aufnahme eines Rechtes auf analoges Leben ins Grundgesetz gestartet. Inzwischen gab es bereits einige Klagen gegen den Digitalzwang. Sie blieben allerdings zumeist erfolglos, außer wenn gleichzeitig noch andere Bürgerrechte verletzt worden waren.
Jeder Zehnte besitzt gar kein Smartphone. Bei den über 65-Jährigen ist es die Hälfte, sagt der Branchenverband Bitkom. Laut Statistischem Bundesamt lebten 2023 knapp 3,4 Mio. Bürger/innen offline. Mehr als drei Millionen Menschen waren noch nie im Internet. Bei den über 80 Jahre alten Personen haben zwei Drittel keinen Zugang zum Internet.
Aufgrund der Altersentwicklung wird natürlich die Zahl der Personen immer geringer, die ohne digitale Unterstützung auskommen wollen oder müssen. Junge Menschen wachsen automatisch in die digitale Welt hinein und erwerben die nötige Kompetenz. Vermutlich wird die Teilnahme an der digitalen Welt auch einfacher. Ein Recht auf analoges Leben würde also im Laufe der Jahre an Bedeutung verlieren. Doch ist es deshalb heute nicht obsolet.
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