Günter Netzer wird heute 80. In meiner Lebenszeit war er der grösste Fussballer. Als Geschäftsmann dagegen …, siehe unten. Wenn meine Borussia ihn heute mit einem Heimsieg ehrt, soll es mir recht sein. Anders als Hans Schäfer, wofür ich meiner Ex-Arbeitskollegin Bettina Tull lebenslang dankbar sein werde, und Ewald Lienen, wofür ich Karin Knöbelspies ebenso lange dankbar sein werde (beide übrigens: Bickendorferinnen), war ich ihm zwar oftmals räumlich nahe, habe ihn aber nie persönlich kennen gelernt. Das Folgende wird ihm also vielleicht nicht gerecht, weil es meine Geschichte ist.

Erstmals wahr nahm ich ihn in der Saison 1964/65 der Regionalliga West. Netzer schoss 17 der 92 Mönchengladbacher Tore. Viele davon sah ich sonntags in der Sportschau am Schwarz-Weiss-Fernseher meines Opas, der selbst ein RWE-Fan war, wie es Friedrich Küppersbusch heute noch ist. Netzer war 20, mein Onkel, der seinerzeit bei Mannesmann in Mönchengladbach arbeitete, behauptete, vom jugendlichen Netzer in der dortigen Betriebskantine noch bedient worden zu sein. Helmut Rahn, der Fussballgott meines Opas, war schon Gebrauchtwagenhändler an der Altenessener Strasse (mit Foto im WM-Buch von Ernst Huberty und Willy B. Wange 1966).

Dieser Netzer also spielte zusammen mit Bernd Rupp (25 Tore) und Jupp Heynckes (24 Tore) die Regionalliga West schwindelig und holte auf den letzten Metern auch die lange führende Alemannia Aachen noch ein. In der folgenden Aufstiegsrunde wurde der stärkste Konkurrent SSV Reutlingen am Bökelberg mit 7:0 erledigt (3 x Rupp, je 2 x Heynckes und Netzer). Diesem Aufsteiger flogen die Herzen aller Fans zu, die schönen, ansehenswerten Fussball liebten. Eins davon war meins. Und verantwortlich dafür war der Fussballgott Hennes Weisweiler, einerseits ein autoritärer Starrkopf, aber an der Spitze des damaligen Fachiwssens und mit hoher Menschenkenntnis und Intelligenz ausgestattet. Heribert Fassbender, langjähriger WDR-Sportchef (1982-2006), war schon als Jura-Student mit ihm befreundet, und bekennender Borussia-Fan.

Dieser Weisweiler war der entscheidende Reibungspunkt für die Entwicklung des Fussballers Netzer. Der war nämlich charakterlich ein ähnlich fauler Sack wie ich, und immer auf die Effizienz zwischen (körperlichem) Aufwand und Ergebnis bedacht. Darum war er als Fussballer immer ein Vorbild für mich. Nicht so viel rennen, dafür viel Übersicht (heute heisst es neudeutsch: “ein Spiel lesen können”), lange präzise Pässe, oft angeschnitten, die die gegnerische Abwehr irritierten. Auch direkt verwandelte Eckbälle gehörten zu seinem Repertoire (Freistösse sowieso). Mit all diesen Fähigkeiten war der Mann überragend ausgestattet.

Ausserdem war er schon in seiner aktiven Zeit nicht so doof, wie viele der damaligen Fussballer, die mangels Coaching durch Berater (das führte alles später erst Netzer selbst ein) Probleme hatten, drei Sätze geradeaus zu sprechen (“Ja gut, ääh …”). Berüchtigt war er für das Betreiben einer Diskothek (sogar der Name “Lovers Lane” prägte sich mir ein) – das erregte allgemeines Misstrauen eingebetteter Medien: hätte er nicht besser mehr trainiert? Auch seine Autos – heute kein Thema bei Profifussballern mehr (ausser, sie fahren, wie Marco Reus, ein fussballerischer Erbe Netzers, jahrelang ohne Führerschein). Seine Autos waren mir egal. Aber die durch sie medial transportierte und zu jener Zeit symbolisierte Autonomie – auch gegenüber dem Reibungspunkt Weisweiler und den konservativen Vereinsfunktionären – die überzeugte mich vollends.

Hier endet die Lobeshymne.

Netzer war nicht der erste, der für einen fetten Vertrag ins böse “Ausland” ging. Ein anderer Mönchengladbacher, Albert Brülls, Pokalsieger 1960 mit der Borussia, war ihm zehn Jahre zuvorgekommen, und nach Italien gegangen. Bei der WM 1966 rehabilitierte ihn Helmut Schön für seine unnationale Untreue. Anders als Hennes Weisweiler, der später zum FC Barcelona ging, entschied sich Netzer zusammen mit Nationalmannschaftskumpan Paul Breitner für das postfaschistische Real Madrid. Die Herren waren auch beim grössten Betrug der Uefa und Reals gegen die Borussia dabei – auf der falschen Seite. Seitdem schaue ich mir Gladbacher Spiele aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr live in der Glotze an, weil ich ohnmächtig und einflusslos bin, anders als im Stadion.

Netzer liess seine Fussballerkarriere 1977 bei Grashoppers Zürich ausklingen, was für seine weitere Lebensplanung wichtige Weichen stellte. Zunächst aber bewies er beim Hamburger SV 1978-86 seine Managementfähigkeiten. Aus heutiger Sicht war das die beste Zeit dieses Traditionsvereins und heutigen Zweitligisten. Er war kontinierlicher Konkurrent des Fussballkonzerns aus dem süddeutschen Raum, dreimal Meister, und einmal das, was heute Champion-League-Sieger genannt wird (1983).

In der Schweiz fand sich der Ökonom Netzer in seinem Element. Die von ihm mitgegründete Firma CWL wurde später vom Konzern des Kohl-Spenders Leo Kirch übernommen. Was Netzer nicht hinderte, eher erleichterte, dort weiter den Geschäften nachzugehen, für die er besonders talentiert war.

Dazu gehörte in vorderster Front das Strippenziehen bei den “Sommermärchen”-Deals für die Heim-WM 2006, bei der vitale Geschäftsinteressen Netzers als TV-Sportrechtehändler und auch des Kirch-Konzerns, der bei dem Kauf dieser WM korrumpierend aktiv war, auf dem Spiel standen. Der deutsche Rechtsstaat tut sich erwartbar schwer damit, diese Deals aufzuklären. Nicht zuletzt, weil der als Zeuge geladene Netzer sich weigert, zu erscheinen und auszusagen. Er will sich wohl nicht selbst belasten. Ich unterstelle, dass das Altersschicksal seines Buddies und lebenslangen Dealpartners Beckenbauer ihn zusätzlich ängstigt, sich zum Lebensende von ruchlosen Medien als Sündenbock verwursten zu lassen. Niemand weiss über derartige Risiken besser bescheid, als der Täter Netzer.

Wird er nun an seinem Geburtstag im Borussiapark sitzen? Und nicht für die Korruptionsaufklärung verhaftet und zwangsvorgeladen? Bleibt er in der Schweiz, bleibt er in Sicherheit. Oder aufgrund welcher Deals traut er sich heraus? Update 16.9.: Aus dem Heimsieg wurde so wenig, wie aus Netzers Stadionbesuch bei über 50.000 Fans, die ihn feierten. Der feine Herr blieb in dem Alpenland mit der funktionierenden Eisenbahn und dem kapitalfreundlichen Bankgeheimnis, und gab so seiner Sicherheit vor deutschen Justizermittlungen Vorrang – ein Zusammenhang den die deutsche ARD-Sportschau der Einfachheit halber wegliess.

Unter dem Strich eine stark enttäuschende Zielgerade für einen 80-jährigen.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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