Ecuador: Wie „Mama Lucha“ sich die Macht über Quitos Märkte eroberte

Quitos Altstadt ist heute fein herausgeputztes Weltkulturerbe. In den 1970er-Jahren sah das noch anders aus. Da interessierten sich die Lokalbehörden nicht für die traditionellen Märkte der Altstadt, auf denen Indigene und ehemalige Landarbeiter*innen ihre Waren verkauften. Märkte wie San Roque waren vermeintlich chaotische Orte, die nicht zum kultivierten Ideal der Hauptstadtelite passten. So entstanden hier Organisationsformen jenseits der behördlichen Kontrolle. Und eine Legende wurde geboren: Luz María Endara (1934-2006), besser bekannt als Mama Lucha, knüpfte Beziehungen in den Machtapparat und eroberte Schritt für Schritt die Kontrolle über Quitos Märkte. Ihre Methoden waren skrupellos, doch die Händler*innen feierten ihre Schutzpatronin. Über eine „Frau mit hartem Charakter“.

Eskortiert von einer Gruppe von mehr als zehn Polizisten der Spezialeinheit, erreicht Luz María Endara die Generalstaatsanwaltschaft. Sie wird eine Aussage in einem der gegen sie anhängigen Verfahren machen. Es ist Ende 1996, Luz María Endara ist 62 Jahre alt und steht unter anderem wegen Erpressung, Verkauf von Diebesgut und Betrug vor Gericht. Diese Frau mit dem harten Blick und der aufrechten Haltung bedankt sich für die Anwesenheit der Menschen, die auf sie warten und sie feiern. Sie begleiten sie zum Prozess, der gleich stattfinden wird.

Wer ist diese Frau im fortgeschrittenen Alter und warum benötigt sie höchsten Polizeischutz? Luz María Endara wird die Schaffung des „größten kriminellen Imperiums Quitos der 80er-Jahre“ (Telégrafo 2012) zugeschrieben. Ihre Aktivitäten steuerte sie von den traditionellen Märkten Quitos aus. Um die „Mama Lucha“, wie Luz María Endara auch genannt wurde, sind Legenden entstanden, die bis heute Teil der kollektiven Erinnerung der Ecuadorianer*innen sind, vor allem in den Arbeiter*innenvierteln von Quito.

Sie ist eine Figur der tiefen Gegensätze. Während Luz María Endara für die Medien der Kopf einer der größten kriminellen Banden der Hauptstadt ist, ist sie für viele Händler*innen die Beschützerin. Die Anführerin der Arbeiter*innenviertel, die einen Großteil ihres Lebens damit verbracht hat, die von der städtischen Verwaltung ignorierten öffentlichen Räume zu organisieren. Sie löste verschiedenste Konflikte und vermittelte gegenüber der Polizei, damit Leute die Märkte für formellen und informellen Handel nutzen konnten. Erinnert wird sie auch für ihren Einsatz bei den Festen der Arbeiter*innenvierteln und Märkte. Fast zwei Jahrzehnte nach ihrem Tod ist „Mama Lucha“ ein Symbol für die Arbeiter*innenviertel Quitos geworden, die sie geführt und organisiert hat.

Stück für Stück weitete sie ihre Kontrolle aus

Luz María Endara wurde 1934 geboren und wuchs in den traditionellen Vierteln Colmena und Panecillo auf. Ihr Vater war Polizist und ihre Mutter Anwaltsgehilfin. Nach ihrem Studium übernahm sie den Beruf ihrer Mutter. Das erlaubte ihr schon in jungem Alter, ein weites Netzwerk von einflussreichen Persönlichkeiten der Nationalpolizei und der Politik aufzubauen. Später arbeitete sie als Händlerin auf dem Markt Ipiales.

Ihre Verwandten und Bekannten beschreiben sie als Frau mit „hartem Charakter“. Der trug dazu bei, dass viele Händler*innen in ihr eine potenzielle Anführerin sahen. Sie gewann das Vertrauen der Menschen und leitete schließlich mehrere Organisationen der popularen Märkte, darunter Panecillo, La Colmena und San Roque. Sie knüpfte Beziehungen in die Politik, unterstützte Wahlkämpfe und brachte wichtige politische Persönlichkeiten mit den Händler*innen ihres Netzwerks zusammen. So verschaffte sie ihnen tausende Stimmen.

Luz María hatte bis dahin genug Macht akkumuliert, um den formellen und informellen Handel auf den Märkten im nördlichen Zentrum Quitos zu kontrollieren. Erst in den 1980er- bis 90er-Jahren brachte man sie mit der Bande „Los Chicos Malos“ in Verbindung. Laut Polizeiberichten bestand die Bande aus nahen Familienmitgliedern und wurde zu großen Teilen von ihren Töchtern geführt.

Mit dieser Organisation kontrollierte sie die Stände innerhalb und außerhalb der Märkte. Gegen wöchentliche Zahlungen garantierte sie den Händler*innen Schutz vor Kriminalität. „Lucha-Steuern“, so hießen die Geldbeträge, die die Händler*innen für die Gnade von Luz María und ihrer Organisation zahlen mussten. Wegen ihrer gewalttätigen Methoden nahm die Polizei immer wieder Beschwerden gegen sie auf. Von mehreren Anklagen wurde sie freigesprochen oder gegen Kaution freigelassen.

Machtkämpfe

Luz María Endaras Leben ist untrennbar mit den Märkten von Quito verknüpft, vor allem mit dem Markt San Roque, ihrer Schaltzentrale. Dieser Ort repräsentiert die kulturellen und symbolischen Grenzen, an denen das Hauptstadtideal der mächtigen Sektoren scheitert. Er wird als marginal, dreckig und chaotisch gesehen.

Doch San Roque war auch, beschreibt der Anthropologe Eduardo Kingman, ein Zufluchtsort für viele Indigene und Landarbeiter*innen, die durch die Agrarreformen in den 1960er-Jahren von ihren Territorien vertrieben und vom Ölboom in den 1970er-Jahren angezogen wurden. Diese Bevölkerungsgruppen verlagerten ihre gemeinschaftlichen Netzwerke auf die Märkte. Nach und nach entstanden neue Organisierungsformen gegen die Gleichgültigkeit der Behörden. Angesichts einer abwesenden lokalen Regierung führte Luz María Endara alias „Mama Lucha“ eine „parallele Regierung“ an.

Erst Mitte der 1990er-Jahre werden die Orte der historischen Altstadt zum Streitpunkt. Die Altstadt sollte modernisiert, das Kulturerbe wiederhergestellt und geschützt werden. So entstand ein Konflikt zwischen den Organisierungsformen, die auf den Märkten entstanden waren, und den Interessen der Stadtregierung, die für die Aufwertung des Kulturerbes den öffentlichen Raum „sozial säubern“ wollte, so beschreiben es mehrere ecuadorianische Historiker*innen. Bis dahin waren die aggressiven Methoden von „Los Chicos Malos“ – Handel mit Diebesgut, Schutzgeldzahlungen, Drohungen und körperliche Gewalt – lediglich als „Kleinkriminalität“ betrachtet worden.

Im Januar 1996 erreichte der Konflikt seinen Höhepunkt. Luz María Endara wurde mehrmals niedergestochen. Der mutmaßliche Täter konnte fliehen, Luz María wurde ins Militärkrankenhaus in Quito eingewiesen und überlebte. Wenige Tage nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, wurde der Leichnam von Cesar Unapucha gefunden, der Vater des mutmaßlichen Täters. Laut Angaben der Polizei wurde der Mord der Bande „Los Chicos Malos“ zugeschrieben, als Rache für den Angriff auf „Mama Lucha“, der diese fast das Leben gekostet hätte.

Die Tat erregte öffentliche Aufmerksamkeit, damit war die feine Linie zwischen „Kleinkriminalität“ und Straftat überschritten worden. Das Präsidentenamt der Republik ordnete eine umfassende Untersuchung an. Luz María Endara war zwei Jahre lang im Frauengefängnis in Quito inhaftiert und musste sich mehreren Gerichtsverfahren stellen, wurde aber nie verurteilt. Sie wurde gegen eine Kaution aus dem Gefängnis entlassen und freigesprochen. 1998 kehrte sie auf die Märkte zurück und wurde von den Händler*innen mit Jubel und Blumen begrüßt.

Das Gegenteil einer Frau

Ihre letzten Lebensjahre, als man Luz María Endara schon mehr unter ihrem Alias „Mama Lucha“ als unter ihrem eigentlichen Namen kannte, verbrachte sie in ihrem Haus in Panecillo. Und während ihre Tätigkeit als Bandenführerin und Organisatorin der Märkte immer mehr der Vergangenheit angehörte, entstand die Legende von „Mama Lucha“, der Heiligen der Dieb*innen und Händler*innen.

Luz María Endara ist das Gegenteil von dem, was die ecuadorianische Gesellschaft als „Frau“ versteht, ein Idealbild, das maßgeblich die von der weiß-mestizischen Dominanzgesellschaft geprägten Medien bestimmen. Luz María stellt diese Vorstellung in Frage und unterwandert sie: Ihr Studium ermöglichte ihr, sich in der Welt des Rechts zu bewegen, ihr Charakter, ihre Stärke und ihre Führungsqualitäten erlaubten ihr, im Streit um den öffentlichen Raum Richtern, Polizei und städtischen Behörden die Stirn zu bieten.

Der Name „Mama Lucha“ durchzieht die kollektive Vorstellung bis heute. Ihre Geschichte handelt von der Vergangenheit einer Stadt, von Auseinandersetzungen mit Lokalbehörden und der Polizei. Die Erzählungen der Arbeiter*innenviertel machten sie zur Legende.

Übersetzung: Ximena Juárez Villalpando. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 478 Sep. 2024, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika.

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