Das deutsche Steuersystem ist komplex. Und während die Finanzen vonArbeitnehmer*innen weitgehend transparent sind, haben Reiche und Unternehmen viel Gestaltungsspielraum
Alle Jahre wieder kommt die Einkommenssteuererklärung auf den Tisch. Sie wirkt wie ein völlig spaßfreies Quiz mit unendlich vielen Zeilen. Dazu sind die Dokumente in einer Sprache verfasst, die auch des Deutschen kundige Menschen kaum verstehen. Was sind unmittelbare Begünstigungen? Wohin bitte schön gehört der Beitrag zur Berufsunfähigkeitsversicherung, der Teil eines Riestervertrags ist? Neben dem Hauptformular gibt es fast 30 Anlagen wie N, KAP, R oder AV. Durchschnittlich vier Stunden benötigen Arbeitnehmer*innen, um den Wust zu bewältigen, hat der Bund der Steuerzahler ausgerechnet. Und auch wer alles nach bestem Wissen und Gewissen ausgefüllt hat, empfindet anschließend oft das mulmige Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben.
Steuererklärungen sind immer detaillierter geworden. Kein Wunder: Der zugrundeliegende Gesetzestext hat sich binnen 40 Jahren verdoppelt. Im Prinzip steht hinter jeder Änderung die Absicht, Klarheit und Gerechtigkeit für jeden Einzelfall zu schaffen. Außerdem will die Politik mit dem Steuerrecht lenken und bestimmte Entwicklungen fördern. Dass haushaltsnahe Dienstleistungen seit 2003 absetzbar sind, zielt darauf ab, Schwarzarbeit einzudämmen. Auch die Unterstützung von Eltern und pflegenden Angehörigen soll unterstützt werden. An vielen Stellen spielen aber auch Lobbyisten-Interessen eine große Rolle.
122 Paragrafen
Inzwischen umfasst das Einkommenssteuergesetz (EStG) 122 Paragrafen – und fast jeder besteht aus mehreren Absätzen. Viele benennen Änderungen und Ausnahmen – und dann gibt es wieder Ausnahmen von den Ausnahmen. Wer sich das Konvolut anschaut, sieht sich mit einem Stakkato von Halbsätzen und Verweisen konfrontiert. Föderalismus, Datenschutz und politische Interessen haben die Komplexität ständig erhöht.
Der Andrang bei Steuerkanzleien, Lohnsteuerhilfevereinen und auch beim ver.di-Lohnsteuerservice ist groß. Etwa 10 Millionen Arbeitnehmer*innen verzichten heute ganz darauf, eine Einkommenssteuererklärung abzugeben. Damit schenken sie dem Staat schätzungsweise eine Milliarde Euro, die sie zurückbekommen könnten. Doch einen teuren Steuerberater wollen sich viele nicht leisten – und der lohnt sich bei kleineren Einkommen auch nicht. Außerdem vergeben die Steuerprofis ihre Termine sowieso lieber an Menschen, die Unternehmen, Immobilien und Finanzdepots besitzen und mit denen sich viel mehr verdienen lässt.
Arbeitnehmer*innen sind für den Staat transparent. Ihre Steuern und Sozialabgaben werden direkt vom Lohn abgezogen. Inzwischen trägt das elektronische Programm Elster alle dem Finanzamt bekannten Daten direkt ins Dokument ein und die Steuerpflichtigen müssen nur noch besondere finanzielle Belastungen ergänzen. So können sie beispielsweise für ihren Homeoffice-Arbeitsplatz maximal 1.260 Euro jährlich geltend machen. Auch Weiterbildung, die Anschaffung von Arbeitsgeräten und Bewerbungskosten sind absetzbar. Für diese sogenannten Werbungskosten setzt das Finanzamt eine Pauschale an – wird sie überschritten, müssen die Belege bei Nachfrage vorzeigbar sein. Im Finanzamt prüft eine Software die eingehenden Elster-Formulare auf Plausibilität. Nur wo dem Programm etwas Ungewöhnliches auffällt, prüfen Menschen im Finanzamt die Angaben genauer.
„Vieles wird durchgewunken“
Doch der jährliche Nerv mit der Steuererklärung verstellt den Blick aufs große Ganze. Da, wo für den Staat viel Geld zu holen wäre, sind seine Datengrundlagen schwach und die Gestaltungsspielräume der Steuerpflichtigen groß. Zugleich sind die Finanzämter unterbesetzt, arbeiten mit veralteter IT und verfügen nur über oberflächliche Risikomanagementsysteme. Qualifiziertes Personal zu gewinnen ist schwierig. „Als ich anfing, kamen auf eine Stelle 30 Bewerbungen, heute nehmen wir so gut wie jeden“, berichtet der Beamte Frank Fischer*, der seit über 40 Jahren dabei ist. Immer wieder erlebt er, wie gute Leute von Steuerberatungen abgeworben werden.
Bei Betriebsprüfungen gibt es einen massiven Bearbeitungsstau. „Vieles wird einfach durchgewunken, sonst ist die Arbeit nicht zu schaffen“, so Fischer. Lediglich ein Prozent der Unternehmen bekommt in einem Jahr Besuch von Außendienstmitarbeiter*innen des Finanzamts – und auch die haben nur Zeit für eine oberflächliche Prüfung. Fischer sieht darin ein politisches Kalkül: „Die Finanzverwaltung ist ja Ländersache – und wenn sie schwach ist, gilt das als Standortvorteil.“ In Bayern und Baden-Württemberg seien die entsprechenden Abteilungen besonders schlecht ausgestattet.
Besonders schwierig ist es, Steuern von internationalen Konzernen einzutreiben. Sie verlagern ihre Gewinne in Länder, wo sie kaum etwas an den Staat abgeben müssen. Steuerberatungsfirmen helfen ihnen, indem sie beispielsweise aufzeigen, wie mit „Anti-Hybrid-Regeln des § 4k EStG im Kontext der US-Check-the-Box-Regeln“ umzugehen ist. Laien verstehen nur Bahnhof und Finanzbeamt*innen hecheln den immer neuen Tricks hinterher. „Es ist nicht aufbauend zu sehen, dass bei manchen Leuten fünf Euro nachgefordert werden und zugleich die Millionen und Milliarden an uns vorbeirauschen“, bilanziert Fischer. So breite sich Fatalismus unter den Kolleg*innen aus.
Netzwerk Steuergerechtigkeit
Mehr Geld in die Abteilungen zur Unternehmensprüfung zu stecken, würde sich auf jeden Fall auszahlen. „Im Schnitt bringt hier ein Beamter dem Staat eine Million Euro mehr Einnahmen als er kostet“, fasst Martin Krupp zusammen, der bei ver.di für den Bereich zuständig ist. Das würde auch die Attraktivität des Berufs erhöhen. „Steuergerechtigkeit durchzusetzen ist schließlich das Ethos der Menschen in den Finanzämtern.“
Um auf diesem Weg voranzukommen, engagiert sich ver.di auch politisch als Mitglied im Netzwerk Steuergerechtigkeit. Das geht davon aus, dass dem deutschen Fiskus jedes Jahr etwa 50 Milliarden Euro durch Steuerhinterziehung verloren gehen. Es sind vor allem Reiche und Großunternehmen, die ihre Einnahmen verschleiern und so die Staatskasse betrügen können – wodurch es zu wenig Geld für Bildung, Pflege und andere Gemeinschaftsaufgaben gibt.
Den Wirrwarr des deutschen Steuersystems zu überwinden ist wünschenswert – doch bisher endeten alle Versuche im Gegenteil. Erste Schritte zur Verbesserung der Lage könnten deshalb eine automatische Datenübermittlung steuerrelevanter Geldströme, höhere Pausch-Beträge für die arbeitende Bevölkerung sowie eine weitgehend automatisierte Bearbeitung ihrer Steuererklärungen sein. Dann könnten die Finanzämter ihre Kapazitäten vor allem auf die Bereiche konzentrieren, wo viel getrickst und auch betrogen wird. „Bei den großen Unternehmen spielt die Musik“, fasst Fischer zusammen. Er hofft, dass diese Klänge endlich in der Politik und der Gesellschaft wahrgenommen werden.
* Name von der Redaktion geändert
Dieser Beitrag ist eine Übernahme von ver.di-publik, mit freundlicher Genehmigung der Redaktion. Links wurden nachträglich eingefügt.
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