Unsere Autorin war schon oft wütend über demagogische Äußerungen von Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer. Bislang hat sie geschwiegen.
An den regelmäßigen Boris-Palmer-Festivals habe ich mich bislang nur selten beteiligt. Zu kindlich wirkt das Streben des Oberbürgermeisters von Tübingen nach Aufmerksamkeit. Eigentlich sollte man ihm nicht den Gefallen tun, das zu bedienen. Aber dieses Mal hat er gewonnen, jedenfalls was mich betrifft. Ich bin zu wütend – nein, das stimmt nicht: Allzu verletzt bin ich, um zu schweigen.
Boris Palmer hat sich in die lange Reihe all derer gestellt, die – offen oder versteckt – versuchen, meine Tochter aus ihrer Heimat auszugrenzen und als „Minderheit“ zu definieren, seit sie vor 31 Jahren in Köln geboren wurde. Nora hat einen kenianischen Vater, folglich eine dunklere Hautfarbe als Herr Palmer.
Sie ist allerdings so deutsch wie er und hat einst in der Schule sogar den Dichter Ludwig Uhland durchgenommen, der in Tübingen geboren und gestorben ist. Ob Palmer das ihr gegenüber milder stimmen würde? Keine Ahnung. Was ich hingegen weiß: Ich bin diese Ausgrenzung unendlich Leid. Und sie hört nicht auf. Sie hört einfach nicht auf.
In einem Facebook-Post vor einigen Tagen hatte Palmer gefragt, was für eine Gesellschaft mit Fotos auf der Internetseite der Deutschen Bahn eigentlich abgebildet werden solle, die mehrheitlich Menschen mit Migrationshintergrund zeigten. Als die von ihm erwartete – und wohl erwünschte – Kritik über ihn hereinbrach, behauptete er, es sei diskriminierend, wenn Personengruppen wie beispielsweise alte, weiße Männer auf einer solchen Fotostrecke nicht gezeigt würden.
Scheinheilig und verlogen
Das ist scheinheilig und verlogen. Herr Palmer ist zu intelligent, um nicht zu wissen, wie Werbung funktioniert. Aber ich will mal so tun, als hielte ich ihn wirklich für so dumm, wie er sich stellt, und es ihm leicht verständlich erklären. Werbung will Aufmerksamkeit erregen, überraschen, manchmal belustigen, manchmal provozieren, manchmal sogar verstören. Werbung bildet nicht die Realität ab. Wer glaubt, dass sie das täte, muss ein niedliches Bild von den Regeln des Kapitalismus haben.
Übrigens eint alle von der DB abgebildeten Personen, so weit wir wissen, eines: Sie sind fabelhaft in diese Gesellschaft integriert. Ist es nicht genau das, was diejenigen immer fordern, die behaupten, Angst vor „Überfremdung“ zu haben? Das nützt Leuten gar nichts, die anders aussehen als die meisten hierzulande. Fremd bleibt fremd.
Ein Wort wie „Überfremdung“ würde Herr Palmer übrigens nie in den Mund nehmen. Er ist Profi. Deshalb formuliert er so, dass er genau richtig verstanden wird – von Freund und Feind – , ihm aber mit noch so genauer Sprachanalyse nichts nachgewiesen werden kann. Seine Posts sind demagogische Meisterwerke.
Jetzt behauptet er, wenig erstaunlich, er sei „falsch verstanden“ worden. Wie fast alle Rassisten, immerzu. Die Hautfarbe habe außerdem gar nicht er als wesentliches Merkmal eingeführt, das sei von anderen gekommen. An welches Kriterium hatte Boris Palmer denn gedacht, um Menschen „mit Migrationshintergrund“ zu erkennen? (Übrigens ist „Migrationshintergrund“ gar nicht so leicht zu definieren. Aber ich möchte es für den Oberbürgermeister auch nicht zu kompliziert machen. Also lasse ich das mal so stehen.)
Meine Tochter arbeitet seit einigen Jahren in London. Bis vor drei Tagen hatte sie noch nie von Boris Palmer gehört. Die vermutlich ultimative Kränkung für jemanden wie ihn, da dürfte auch kein Uhland helfen.
Eine SWR-Korrespondentin findet die ganze Aufregung übertrieben und empfiehlt: „Macht Euch mal locker, Leute!“ Sagt sich leicht. Ich werde mich nicht locker machen in dieser Frage. Und bin jedem und jeder persönlich dankbar, die das auch nicht tut.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme von taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autorin und Verlag.
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