Ein Sommer ohne Märchen
Die Jüngeren werden sich nicht erinnern. 2006 war es. Eine korrupte Koalition aus deutscher Politik, Fußballkriminellen und mittlerweile pleitegegangenen Medienkonzernen (Kirch) kaufte bei der Mafiaorganisation Fifa eine Fußball-WM. Verbunden mit glücklichen Wetterumständen – vergleichbar zur diesjährigen Corona-Krise – gab nicht nur eine Fernsehnase bekannt, dass er aus dem Hubschrauber erkannt habe, wie “schön” unser Land sei. Es war in der Tat, so erlebte ich es im schönen Bonn, ein einziges riesiges Strassenfest. Weihnachten und Ostern vier Wochen lang an einem Tag – vor allem für die Gastronom*inn*en, die heute alle nicht mehr wissen, wie es weitergehen soll. Auch mir hat es überwiegend grossen Spass gemacht – zumal Alessandro del Piero und seine Kollegen, den Schland-Nationalismus, anders als 1990, im Halbfinale rechtzeitig ausgebremst hatten. Deutschlands Rache in der EU, ausgeführt durch Wolfgang Schäuble und die ihn gewährenlassende Bundeskanzlerin, war grausam, fürchterlich und nachhaltig.
Gestern dagegen. Deutsche Medien überschlagen sich heute vor überdrehter, selbstreferentieller Begeisterung. Geradezu verzweifelt versuchen sie das alte Karussell weiterzudrehen. Naja, sie wurden ja reingelassen, und müssen das Geld reinspielen, das sie auf unsere Kosten der Uefa in den Rachen geschmissen haben. Allein: nirgendwo in der Öffentlichkeit war Märchen, trotz Sommer. Ich fuhr gerade von einem fussballfreien, genussvollen Dinner auf dem Fahrrad nachhause, links und rechts des Rheindeiches lauter grillpartyfähige Gärten. Als das einzige Tor fiel. Ein einzelner Mann brüllte die Nachbarschaft zusammen. In Zahlen: 1. Das hatte Dimensionen wie eine Meisterschaftsfeier auf den Strassen Münchens.
Was heute wichtig ist
Vorsicht, jetzt kommt ein Kontrast. Was wichtig ist, daran erinnert ein neues Buch von Extradienst-Gastautorin Mely Kiyak. Ihr Gefühl der Erblindungsangst habe ich selbst schon durchlebt, als mir eine Augenklinik hier in Beuel meine Netzhaut retten musste. Vieles Andere hat sie mir voraus. Arno Widmann/FR-Redakteur, zu dem sie ihre besondere Beziehung hier selbst beschrieben hat, revanchiert sich mit einer mitfühlenden Buchbesprechung. Schön, welche Beziehungen eine Arbeitswelt mit sozialer Berührung stiften kann, besonders dann, wenn wir als Leser*innen mitprofitieren dürfen.
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