von Wolfgang Hippe
Besprechung mehrerer Bücher von oder mit Harald Welzer
Zu den vielverwendeten politischen Schlagworten der letzten Jahre gehört das Wort von der „Offenen Gesellschaft“ – kein Politiker, kein Feuilletonist mag auf Dauer darauf verzichten. Dabei begleitet diese Rede die deutsche Politik schon länger. Seit den 1970er Jahren haben sich alle BundeskanzlerInnen alternativlos zu dieser Popper’schen These und ihren Implikationen bekannt. Der kritische Rationalist lehnte krudes „Stammesdenken“ ab, das für „geschlossene Gesellschaften“ typisch war – hier verortete er neben dem „Nationalstaat“ auch das Gerede vom „auserwählten“ Volk, der „auserwählten“ Klasse oder der „auserwählten“ Rasse. Utopien und Visionen waren ihm ein Greul. Wer Visionen hat, sollte besser zum Arzt gehen, empfahl deshalb einer der Amtsinhaber seinem Publikum. Über die Jahre wurde die einstige „Soziale Marktwirtschaft“ und der Sozialstaat immer offener gestaltet und grenzüberschreitend nach dem Motto „Wettbewerb überall zuerst“ neoliberal umgebaut. Doch jetzt, wo wir im „postmateriellen“ und im „postideologischen Zeitalter“ angekommen sind, gilt es, „eine neue Utopie“ (!) zu entdecken und sich aus „den ideologischen Klauen eines über den Kommunismus triumphierenden Kapitalismus“ zu winden, hin zur „offenen Gesellschaft“ (!) – so einer ihrer Freunde. Drei aktuelle Bücher widmen sich dem Thema auf ihre Art.
Perfekte Zukunft
„FUTUREPERFECT“ heißt das „gemeinsame Kind“ von Goethe Institut und der Stiftung FUTURZWEI, das vor zwei Jahren ins Leben gerufen wurde, um global und vor Ort kleine Schritte zur Bewältigung der globalen Krisen zu befördern und publik zu machen. So versammeln sich in ihrem „Zukunftsalmanach“ allerlei Berichte über ökologische Himbeersorbets, mechanische Nähmaschinen, Reisfelder & Golfplätze, Dorfbeschützer, Long-Minute-Reisen, Schutt, Ödnis und Theater, kleine und große Städte. In jedem Fall geht es darum, die Welt irgendwie zu verändern (und zu retten). Das erinnert ein wenig an die Anfänge der Alternativbewegung in den 1970/80ern, ist durchweg sympathisch, zeugt es doch in jedem Fall von dem heute so gern beschworenen individuellen, bürgerschaftlichem, wenn nicht gar zivilgesellschaftlichem Engagement. Die Beispiele rund um die „Freunde der offenen Gesellschaft“ ließen sich je nach Region wahrscheinlich noch verlängern, denn auf den „westlichen Inseln des Wohlstands und der Freiheit“ sind „sozialökologische Transformationen von unten jederzeit (!) möglich“. Es mag ein Ansporn sein, sich eher vegan als beim traditionellen McDonald zu ernähren – der Verzehr von Convenience Food nimmt trotz alledem sogar in den besser gebildeten, offenen „Mittelschichten“ kontinuierlich zu. Wo also soll eine „ökosoziale Zukunftspolitik“ übergreifend Schwerpunkte setzen, um Gesellschaften perspektivisch „ökosozial zu modernisieren“ und neben kleinen Verbesserungen im Alltag auch das große Ganze in den Blick nehmen? Harald Welzer bietet dazu im Almanach drei Szenarien an: „Das erste wäre die Pfadwechsel-Welt, in der tatsächlich, gleichsam im letzten Moment, eine ökosoziale Transformation mit dem Ziel eines radikal anderen, nämlich nachhaltigen gesellschaftlichen Naturverhältnisses“ eingeleitet würde. Das zweite wäre „eine multipolare Welt, in der die wirtschaftlich stärksten Akteure mit immer härteren Bandagen um die knapper werdenden Ressourcen konkurrieren“, was noch mehr Gewalt und noch mehr Flüchtlingsströme mit sich bringen würde. Die dritte Variante: eine „Gated Community-Welt, in der die Reichen sich symbolisch wie faktisch vor den gestaffelten Gruppen der Beschäftigten, Prekarisierten, Ausgegrenzten, Überflüssigen abschotten“ – Gewalt nach draußen inbegriffen. Welzer befürchtet, dass sich die „privilegierte Einwohnerschaft der frühindustrialisierten Länder“ (= die EU) „irgendwo zwischen Scenario zwei und drei befinden“. Ähnlich analysiert er die aufziehende „Smarte Diktatur“ des „digitalen Kapitalismus“ à la Google, Amazon und Facebook, die den „Zivilisationsprozess“ insgesamt konterkariert: „Die Freiheit, die Handlungsspielräume eröffnet und zugleich für ihre Verteidigung braucht, ist heute radikal gefährdet – durch ökologischen Stress, durch räuberische Formationen, durch autokratische Regierungsformen, durch Überwachung und durch Hyperkonsum.“ Dem schließt sich die Frage an, nicht „wie wir, das sind Sie und ich, unsere Freiheit verteidigen und sichern, sondern wie wir sie zurückerobern können.“ Doch wer ist eigentlich mit „wir“ gemeint? Was ist „zurückzuerobern“, was zu „verteidigen“? „Freiheit“, notiert Harald Welzer dazu auf den ersten Seiten der „Smarten Diktatur“, „ist nicht einfach da, sondern für sie muss gehandelt werden“. Eine „moderne Staatlichkeit, die auf der Idee der Freiheit basiert“, benötige deshalb eine Verwaltung, eine Justiz, die Polizei und die Bundeswehr. Die warb 2015 mit dem Slogan „Wir kämpfen auch dafür, dass Du gegen uns sein kannst“. (Erinnert das nicht ein wenig an Rosa Luxemburgs oft zitiertes „Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden“?)
Welzer jedenfalls findet den Bundeswehrslogan einen „ziemlich klugen Satz“, denn man müsse bereit sein, das „Paradox“ der Freiheit „jederzeit gegen Feinde der Freiheit zu verteidigen“. Nun wissen wir seit rot-grünen Zeiten, dass „unsere“ Freiheit auch am Hindukusch verteidigt wird. Die dortigen Drohneneinsätze werden deshalb (?) vom deutschen Ramstein aus koordiniert – die Opfer sind allerdings mehrheitlich Zivilisten. Derlei hat in Offenen Gesellschaften eine gewisse Tradition. Als z.B. 1996 Madeleine Albright, die damalige US-Außenministerin und Intima des grünen Joschka Fischer gefragt wurde, ob der Tod von einer halben Million Kinder im Irak zur Liquidierung des geschlossenen Systems des Saddam Hussein vertretbar gewesen sei, antwortete sie: „Wir glauben, es ist den Preis wert.“ An dieser Nonchalance ganz im Popper’schen Sinne haben auch die Enthüllungen von Edgar Snowden und anderer über gewisse Praktiken der offenen Systeme kaum etwas geändert. Denn es ist „mit allem vorbei, wenn die Menschen aufhören, für eine offene Gesellschaft zu kämpfen“, so die Einleitung im Sammelband der „Freunde“. Schließlich ist das Ziel der „Frieden“.
Positiv denken
Denken wir also positiv. Vergessen wir den „hegemonialen Zugriff der NSA auf alles, was sich im Bereich elektronischer Kommunikation abspielt“, fragen wir uns nicht mehr, warum „unser Öl“ unter dem Sand der von uns geförderten saudischen Diktatur und ihrer Komplizen liegt, worauf Welzer hinweist. Erinnern wir uns stattdessen an Karl Poppers Überlegungen zur Weltgeschichte. „Hat die Weltgeschichte einen Sinn?“, fragt er sich und uns. Denn er will sich und uns „nicht mit dem Problem des Wortes ‚Sinn‘ beschäftigen“, er setzt voraus, „dass die meisten Menschen mit hinreichender Klarheit wissen, was sie meinen, wenn sie vom ‚Sinn der Geschichte‘ oder dem `Sinn des Lebens` sprechen. Und in diesem Sinn, in dem Sinn, in dem die Frage nach dem Sinn der Geschichte gewöhnlich gestellt wird, gebe ich zur Antwort: Die Weltgeschichte hat keinen Sinn.“
Ganz in diesem Geiste betonen die „Freunde der offenen Gesellschaft“ in ihrem Sammelband durchaus nachvollziehbar deshalb ihre prinzipielle Offenheit für den permanenten Aufbruch „ins Unbekannte, ins Ungewisse, ins Unsichere“ (Popper). Man wolle und müsse die Zukunft „neu“ denken, „nicht in nationalen Grenzen, sondern europäisch, global“. Vorangetrieben müsse derlei von der „Elite“ – „klugen Politikern, hohen Beamten, von Philosophen, den Churchills dieser Welt“, so André Wilkens, einer der Herausgeber in einem aktuellen Interview. „Angst“ habe man nur „vor der geschlossenen Gesellschaft“. Deren Anhänger seien freilich vor allem eine Minderheit jenseits der Mehrheitsgesellschaft. Jedenfalls ist die Vergangenheit „immer der Feind der Zukunft.“ (Also weg mit der hierzulande so favorisierten Erinnerungskultur?) In offenen Gesellschaften müsse man sich jedenfalls offen eingestehen, „dass das Leben nicht geradlinig, sondern mit vielen nützlichen Fehlern gepflastert ist, dass man mit Imperfektion leben kann und sollte, denn diese erzeugt die Energie, die uns vorantreibt, zu einer immer weniger imperfekten Welt.“ Jedenfalls „muss (!) eine offene Gesellschaft Krisen immer (!) als Chance begreifen“, so Ko-Herausgeber Alexander Carius.
Den Autoren der drei Bände scheint es irgendwie um eine irgendwo verortete „Deutungshoheit“ in einer zunehmend „simulativen Demokratie“ (I. Blühdorn) zu gehen. Die zeichnet sich durch ein Paradox aus. Zwar werden einerseits die Auswirkungen des eigenen Hyperkonsums durchaus kritisch und besorgt zur Kenntnis genommen. Andererseits werden etablierte Werte und Strukturen um fast jeden Preis verteidigt, wenn es um Selbstverwirklichungsideale und die eigene Lebensqualität geht. Der „Pulse of Europe“ schlägt drinnen eben nur solange, wie nach draußen Mauern errichtet und unauffällig neokolonialistische und neoimperialistische Politiken weiter betrieben werden. So fügt sich in der „offenen Gesellschaft“ alles zu einer beliebigen und beliebig großen Erzählung der Imperfektion eines ganz im Popper‘schen Sinne geschichtsvergessenen juste milieu zusammen.
Dana Giesecke/Saskia Hebert/Harald Welzer (Hg.) „Futur Zwei Zukunftsalmanach 2017/18. Geschichten vom guten Umgang mit der Welt“, 496 S., Frankfurt 2016, Fischer Verlag
Alexander Carius/Harald Welzer/André Wilkens „Die offene Gesellschaft und ihre Freunde“, 238 S., Frankfurt 2016, Fischer Taschenbuch
Harald Welzer „Die Smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit“, 320 S., Frankfurt 2016, S. Fischer Verlag
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