In jüngster Zeit sind mehrfach Skandale über Schäden für die Umwelt, die öffentliche Ge­sundheit und Sicherheit und die öffentlichen Finanzen bekannt geworden, die nur dank der Initiative von Personen publik wurden, die Fehlverhalten und Verstöße meldeten, die sie in Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit bemerkten (Whistleblowing, auf Deutsch: Verpfei­fen). Schätzungen besagen, dass dadurch zwei Drittel aller Fälle von Wirtschaftskriminali­tät aufgedeckt würden.

Allerdings hätten mehr als 50 % der Informant/innen Angst vor rechtlichen und finanziellen Konsequenzen; viele befürchten schwerwiegende und langwierige Folgen für Beruf, Finan­zen, Gesundheit und Ruf. Um zu vermeiden, dass Missstände aus Furcht vor Repressali­en nicht gemeldet werden und unentdeckt bleiben, will die EU einen wirksamen Schutz für Hinweisgeber schaffen und damit gleichzeitig öffentliche Interessen wahren.

Zwar verfügen einzelne EU-Staaten schon über einschlägige Rechtsvorschriften, doch er­fassen diese oft nur Teilbereiche. Eine einheitliche Regelung wird insbesondere deshalb für sinnvoll gehalten, weil eine unzureichende Mitwirkung von Hinweisgeber/innen auch negative Konsequenzen für andere Mitgliedstaaten haben kann, z.B. durch Umweltver­schmutzung, Handel mit unsicheren Erzeugnissen oder grenzüberschreitenden Risiken im Umwelt- und Verkehrssektor. Hinzu kommt das Eigeninteresse der EU auf Ahndung von widerrechtlichen Handlungen gegen ihre finanziellen Belange.

Deshalb hat die EU 2019 eine Richtlinie der EU über Schutz und Rechte von Hinweisge­ber/innen (Whistleblowern) verabschiedet. Der Koalitionsvertrag von 2021 verspricht, diese Richtlinie rechtssicher und praktikabel umzusetzen. Whistleblower/innen sollen nicht nur bei der Meldung von Verstößen gegen EU-Recht vor rechtlichen Nachteilen geschützt werden, sondern auch bei der Aufdeckung anderer erheblicher Verstöße, die im besonde­ren öffentlichen Interesse liegt. Dazu soll auch die Durchsetzbarkeit von Ansprüchen we­gen Repressalien gegen den Schädiger verbessert werden. Es werde geprüft, inwieweit dafür Beratungs- und finanzielle Unterstützungsangebote infrage kommen.

In der Tat wird es Zeit, dass Deutschland die Whistleblower-Richtlinie der EU in nationales Recht umsetzt. Dies sollte bereits bis zum 17. Dezember 2021 erfolgen, ist jedoch im April 2021 an Differenzen in der schwarz-roten Koalition gescheitert. Der damals vorgelegte Gesetzentwurf hatte nicht nur die Vorgaben der EU übernommen, sondern den Schutzbe­reich auf korrespondierendes nationales Recht ausgeweitet. Die EU-Kommission hat in­zwischen ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet. Solange die Richtlinie nicht verabschiedet ist, besteht Unsicherheit über ihre Anwendung. Zwar entfal­ten Europäische Richtlinien nach Ablauf ihrer Umsetzungsfrist unmittelbare Wirkungen, doch ist umstritten, ob dies hier nur für die Rechte der Whistleblower/innen gegenüber dem Staat oder auch für Auseinandersetzungen zwischen Privaten gilt.

Die EU will Personen schützen, die aufgrund beruflicher Tätigkeiten Informationen über Rechtsverstöße erlangen, die EU-Recht oder andere öffentliche Interessen berühren. Vor­aussetzung ist, dass triftige Gründe die Annahme rechtfertigen, dass die übermittelten In­formationen wahr sind oder dass widerrechtliche Handlungen beobachtet wurden. Die neuen Vorschriften gelten für Bereiche wie Finanzdienstleistungen, Geldwäsche, öffentlic­he Auftragsvergabe, Produkt- und Verkehrssicherheit, Wettbewerbs- und Steuer­recht, Um­weltschutz, Gesundheitswesen, nukleare Sicherheit sowie Verbraucher-, Le­bensmittel- und Datenschutz. Dazu liegt der Richtlinie eine Liste aller relevanten Hand­lungsfelder bei. Die Mitgliedstaaten können bei der Umsetzung weitere aufnehmen.

Behörden, Unternehmen sowie öffentliche und private Organisationen werden verpflichtet, sichere Kanäle für die Meldung von Verstößen zu schaffen, damit dies möglichst gefahr­los erfolgen kann. Hinweisgeber/innen (ggf. auch unterstützende Personen) werden vor Repressalien geschützt. Hierfür enthält die Richtlinie einen Katalog von unzulässigen Ver­geltungsmaßnahmen. Dazu zählen etwa Kündigung, Versagung einer Beförderung, Ge­haltskürzung, Mobbing, Diskriminierung, Schädigung in den sozialen Medien, Entzug einer Lizenz oder Genehmigung, negative Leistungsbeurteilung. Den Hinweisgeber/innen wird ein Katalog unterstützender Maßnahmen angeboten. Die betroffenen Unternehmen oder Behörden sind verpflichtet, binnen drei Monaten auf die Meldung von Missständen zu re­agieren, diese zu verfolgen und der/dem Hinweisgeber/in Rückmeldung zu erstatten.

Um dies sicherzustellen, müssen alle Unternehmen mit mehr als 50 Beschäftigten oder ei­nem Jahresumsatz von mehr als 10 Mio. € sowie alle staatlichen und regionalen Verwal­tungen bis hin zu Gemeinden mit mehr als 10.000 Einwohnern interne Meldekanäle ein­richten, die die Vertraulichkeit der Identität der Hinweisgeber/innen wahren. Zudem muss eine Stelle benannt werden, die Folgemaßnahmen veranlasst. – Unternehmen im Finanz­dienstleistungsbereich fallen stets unter die Richtlinie.

Parallel dazu müssen die nationalen Behörden externe Meldekanäle mit den gleichen Aufgaben bzw. Befugnissen errichten. Hinweisgeber/innen können sich nämlich auch di­rekt an solche zentralen staatliche Behörden wenden, wenn die internen Meldekanäle nicht ordnungsgemäß funktionieren, wenn Bedenken gegen ihre Funktionsfähigkeit oder die Wahrung der Vertraulichkeit vorliegen oder wenn die Befürchtung der Vertuschung bzw. einer unmittelbar drohenden großen Gefahr besteht. Diese staatlichen Behörden müssen alle für Hinweisgeber/innen wichtigen Sachverhalte auf ihrer Webseite veröffentli­chen. – Bei Geldwäsche, Finanzdienstleistungen oder Betrug mit EU-Geldern kann die Meldung direkt bei der EU erfolgen.

Erfolgt aufgrund des Hinweises keine angemessene Reaktion bzw. oder verstreichen die vorgegebenen Fristen, so darf der Hinweis (als letzte Möglichkeit) direkt publik gemacht werden, z.B. in den Medien, per Internet, in den sozialen Medien, bei Amtsträger/innen oder zivilgesellschaftlichen Organisationen. Interne Kanäle sollen allerdings Vorrang ha­ben, um Verstößen frühzeitig und wirksam entgegenzutreten. Meldungen können auch an­onym erfolgen.

Für den Fall, dass trotz vertraulicher Meldekanäle gegen Hinweisgeber/innen vorgegan­gen wird, verpflichtet die EU ihre Mitgliedstaaten, Repressalien unter Strafe zu stellen und abschreckende Sanktionen vorzusehen. Hinweisgeber/innen sind Schutzmaßnahmen an­zubieten: Rechtsberatung (auch bei der Absicht von Meldungen), Rechtsschutz und Um­kehr der Beweislast bei „Vergeltungsmaßnahmen“. Hinweise gelten nicht als Vertragsver­letzung und können nicht zu Schadensersatzforderungen führen. Die Richtlinie gewährt Schutz vor Klagen wegen vermeintlicher Verleumdung, Verletzung von Urheberrechten oder von Geschäftsgeheimnissen.

Die EU berücksichtigt, dass (anonyme) Hinweise auch in böser Absicht erfolgen können. Daher gelten für die Unternehmen und Institutionen, denen Verstöße vorgeworfen werden, die Unschuldsvermutung und der Anspruch auf ein faires Verfahren. Gegen den Miss­brauch der Schutzfunktion der Richtlinie sollen die Mitgliedstaaten Sanktionen vorsehen.

Die Richtlinie ist relevant für alle Personen, die Verstöße offenlegen, die ihnen im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit zur Kenntnis gelangt sind. Im deutschen Gesetzentwurf heißt es, dass der Begriff „Zusammenhang mit der beruflichen oder dienstlichen Tätigkeit“ weit zu verstehen und jeweils im Lichte aller relevanten Umstände zu interpretieren ist. „Damit soll ein möglichst breiter Kreis von Personen geschützt werden, der aufgrund seiner berufli­chen Tätigkeit, unabhängig von der Art dieser Tätigkeit sowie davon, ob diese vergütet wird oder nicht, Zugang zu Informationen über Verstöße hat.“ Einbezogen sind also ggf. auch Selbständige, Freiberufler, Berater, Auftragnehmer, Lieferanten, Ehrenamtler, Prakti­kanten und Stellenbewerber.

Die EU nimmt für sich in Anspruch, mit ihrer Richtlinie den investigativen Journalismus zu fördern, weil Hinweisgeber/innen eine wichtige Quelle sind. Allerdings gehören Journalis­ten wohl nicht zum Kreis derjenigen Personen, die die Informationen aufgrund ihrer berufli­chen Tätigkeit erlangen. Sie sind daher in der Regel nicht vom Schutz der Richtlinie er­fasst, können sich jedoch rechtlich auf den Quellenschutz berufen. Allerdings schließt dies Klagen wegen Verleumdung oder Geschäftsschädigung nicht aus, womit das Problem der Be­weisführung auftaucht. Gleiches gilt für gesellschaftliche Organisationen.

Mit ihrer Richtlinie will die EU „einen ausgewogenen und effizienten Hinweisgeberschutz“ schaffen und dokumentieren, dass sie die Aktionen und den Schutz von Whistleblowern ernst nimmt und keinen Papiertiger schaffen will. Deshalb ist es bedeutsam, dass sie nicht nur eine Meldung an interne Kanäle vorsieht, sondern – unter bestimmten Bedingungen – auch an staatliche Stellen und an die Öffentlichkeit. Allerdings bleibt abzuwarten, inwieweit die internen Kanäle tatsächlich genutzt werden. Bei manchen Hinweisgeber/innen könnte die Meinung vorherrschen, dass dies ohnehin nicht zu Änderungen führt, dass damit eine Ver­tuschung angestoßen wird, dass die Vertraulichkeit nicht gewahrt bleibt oder dass auf Um­wegen doch Sanktionen erfolgen.

Die Richtlinie gilt nicht für die EU-Organe, weil – so die EU zur Begründung – das Statut ihrer Bediensteten bereits seit 2004 entsprechende Bestimmungen über die Meldungen von Missständen enthält. Viel wesentlicher sind jedoch die Ausnahmen in § 5 des Ent­wurfs des Bundesgesetzes für einen besseren Schutz hinweisgebender Personen. Da­nach fallen Informationen nicht unter das Gesetz, die die nationale Sicherheit oder wesent­liche Sicherheitsinteressen des Staates, insbesondere militärische oder sonstige sicher­heitsempfindliche Belange betreffen, die die Vergabe bestimmter öffentlicher Aufträge und Konzessionen behandeln sowie Daten, die einer Geheimhaltungs- oder Vertraulichkeits­pflicht unterliegen.

Damit sind wichtige Handlungsfelder der Richtlinie entzogen und eventuelle Hinweisge­ber/innen schutzlos. Gerade das Militär und die Nachrichtendienste sind Berei­che, wo die Öffentlichkeit und der investigative Journalismus auf Insiderinformationen an­gewiesen sind. Wie Untersuchungsausschüsse und Medienberichte der Vergangenheit ge­zeigt ha­ben, gibt es dort eine Vielzahl von Pannen, Missständen und Verstößen aufzude­cken. Wie rigoros Staaten jedoch bei der Aufdeckung von militärischen Verbrechen oder Straftaten der Geheimdienste gegen Whistleblower vorgehen, zeigen die USA.

Einerseits werden dort Staatsbedienstete, die Rechtsverletzungen, Ressourcenver­schwendung oder Missbrauch hoheitlicher Befugnisse aufdecken, nach dem Whistleblow­er Protection Act von 1989 geschützt. Einzelne Bundesstaaten haben zudem gesetzliche Re­gelungen zum Schutz von Hinweisgebern in der Privatwirtschaft erlassen. Diese Geset­ze verbieten es, einem Whistleblower zu kündigen oder ihn anderweitig zu diskriminieren. Bei Verstößen gegen diese Regelungen haben die Betroffenen Anspruch auf Wiederein­stellung, Nachzahlung des Gehalts, Schadensersatz und Erstattung der Anwaltskosten.

Anderseits gehen die US-Regierungen unter Bezug auf ein uraltes Gesetz vehement we­gen Spionage gegen Whistleblower vor, die Informationen aus dem Militär oder Geheim­dienst publik machen. Der „Espionage Act“ ist bereits seit 1917 in Kraft und soll verhin­dern, dass durch die Weitergabe oder den Missbrauch von Informationen die Landesver­teidigung gefährdet wird. Besonders unter Trump wurde dieses Gesetz vermehrt zur Ver­folgung und Disziplinierung potentieller Informant/innen genutzt. In seinem ersten Amtsjahr betrug die Zahl der Ermittlungen wegen Herausgabe geheimer Informationen 120. Die be­kanntesten Personen, die unter Bezug auf dieses Gesetz verfolgt werden, sind Edward Snowden und Julian Assange.

Edward Snowden, Jahrgang 1983, arbeitete als Techniker für amerikanische Geheim­dienste. Dort hatte er Zugang zu streng geheimen Informationen, u.a. über die weltweiten Überwachungs- und Spionagepraktiken, überwiegend jenen der USA und Großbritanni­ens. Seine Kenntnisse übermittelte er Journalisten, die sie 2013 ohne Quellenangabe in Teilen veröffentlichten. Anschließend gab Snowden in Hongkong seine Identität bekannt, worauf ein Haftbefehl gegen ihn erwirkt wurde. Seit 2014 hat er ein Aufenthaltsrecht für Russland und lebt in Moskau. Snowdens Enthüllungen über die illegalen Überwachungs­programme lösten weltweit Empörung aus und führten in den USA zur NSA-Affäre. Mehr­fach wurde Snowden von nichtstaatlichen Organisationen ausgezeichnet, u.a. mit dem Al­ternativen Nobelpreis2015 empfahl das Europäische Parlament, alle Vorwürfe fallen zu lassen und Snowden als Menschenrechtler Schutz zu gewähren.

Julian Assange, 1971 in Australien geboren, ist Journalist, Programmierer und Gründer der WikiLeaks (Enthüllungsplattform). Diese will geheim gehaltene Dokumente allgemein verfügbar zu machen, sofern sie unethisches Verhalten von Regierungen, Unternehmen oder militärischen Einrichtungen betreffen und somit von öffentlichem Interesse sind. 2010 veröffentlichte WikiLeaks interne Dokumente von US-Streitkräften und -Behörden, die sie von der Whistleblowerin Chelsea Manning erhalten hatte. Die darin enthaltenen Tagebü­cher der Kriege in Afghanistan und im Irak deckten, so der UN-Sonderberichterstatter über Folter, „mutmaßliche Kriegsverbrechen und Korruption“ auf.

Obwohl sich Assange damit um die Verteidigung demokratischer Werte verdient gemacht hatte, leiteten die USA Ermittlungen gegen ihn ein und erließen einen Haftbefehl. Assange lebte daher sieben Jahre unter dem Schutz der Londoner Botschaft von Ekuador und ist seit 2019 in Haft. Der Oberste Gerichtshof Großbritanniens hat nunmehr seine Ausliefe­rung an die USA genehmigt, wo ihm 175 Jahre Haft drohen. Die Letztentscheidung liegt bei der britischen Innenministerin. Skandalös ist, dass sich weder die zuständigen EU-Kommissare noch das EU-Parlament für die Meinungs- und Pressefreiheit und für Assan­ge einsetzen. Nicht nur russische, auch US-amerikanische Kriegsverbrechen müssen an­geprangert werden. Diesen Skandal hat Roland Appel kürzlich im Beueler Extradienst mit Nachdruck angeprangert.

Ein aktuellerer Fall ist die Whistleblowerin Reality Winner, der die Weitergabe von Infor­mationen über die Landesverteidigung vorgeworfen wurde. Sie hatte einer Zeitung ei­nen Bericht des Geheimdienstes NSA zugespielt, der Erkenntnisse über die Versuche Russ­lands enthielt, den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2016 zu beein­flussen. Ihre Einschätzung, dass derartige Manipulationen der Öffentlichkeit bekannt ge­macht wer­den müssen, kann durchaus nachvollzogen werden. Dennoch wurde Winner 2018 wegen Spionage zu mehr als fünf Jahren Haft verurteilt.

Anonyme Informant/innen haben in Zusammenarbeit mit investigativen Journalist/innen in den USA Tradition und eindrucksvolle Erfolge erzielt. (z.B. Watergate, Pentagon-Papers, Abu Ghraib). Diese Leistungsbilanz wird zunehmend konterkariert. Whistleblower werden verfolgt, inhaftiert und verurteilt. Die Justiz zieht mit, wie das hohe Strafmaß gegen Winner belegt. Mit gewagten Interpretationen werden viele Enthüllungen als Gefährdung der Ver­teidigungsfähigkeit und der inneren Sicherheit eingestuft, um Whistleblower und Journalist/innen zu verfolgen und potentielle Informant/innen abzuschrecken.

Über Heiner Jüttner:

Der Autor war von 1972 bis 1982 FDP-Mitglied, 1980 Bundestagskandidat, 1981-1982 Vorsitzender in Aachen, 1982-1983 Landesvorsitzender der Liberalen Demokraten NRW, 1984 bis 1991 Ratsmitglied der Grünen in Aachen, 1991-98 Beigeordneter der Stadt Aachen. 1999–2007 kaufmännischer Geschäftsführer der Wassergewinnungs- und -aufbereitungsgesellschaft Nordeifel, die die Stadt Aachen und den Kreis Aachen mit Trinkwasser beliefert.