Ich schicke voraus: ich bin kein Finanzpolitiker. Aber ich habe in meiner Laufbahn als Politiker und Unternehmer gelernt, wirtschafts- und finanzpolitische Markroentwicklungen zu analysieren und Schlüsse zu ziehen. Von allen üblichen “Sachverständigen” und Unverständigen in Politik, Kapital und Journalismus wurden die Zinserhöhungen der US- und der Europäischen Zentralbank herbeigewünscht und beklatscht, als ob sie das Manna des Allmächtigen für die Wirtschaft mit sich bringen und die “Inflation” stoppen könnten. Ich glaube hingegen, dass Zweifel an der Eignung der Maßnahmen und am Verstand ihrer Initiator*innen angebracht sind.
Inflation: Mangel an wirtschaftlichem Gegenwert zum gedruckten Geld
Denn anders als in den gängigen Wirtschaftsteilen der Zeitungen und bescheiden gestrickten Sendungen für Laien wie “Börse vor acht” vermittelt, handelt es sich bei der derzeitigen Wirtschaftsentwicklung nicht um eine “Inflation” im klassischen Sinne eines Kaufkraftverlustes, weil Währungen ihre Glaubwürdigkeit verlieren, wie etwa in der Weltwirtschaftskrise 1929/30 oder der des US-Dollar zwischen 1970 und 1977 von DM-Dollar 1:4 zu DM-Dollar 1:2,5. Ursache des Kaufkraftverlustes waren damals die Folgen des Vietnamkrieges, während dem Milliarden in Rüstung, Munition und Bomben gesteckt, aber als volkswirtschaftlicher Gegenwert des Geldes vernichtet wurden – also sank der Wert der bedruckten ($) Geldscheine, weil damals das internationale Währungsgefüge der kapitalistischen Staaten noch viel sorgfältiger darauf achtete, dass für gedrucktes Geld auch wirtschaftliche Werte oder Gold der Zentralbank hinterlegt waren. Und Napalm ist kein Gegenwert.
Finanzwelt der 90er durchbricht Schranken der 70er Jahre
Seit der Entfesselung der Finanzwelt in den 90ern ist das anders. Schon das zu bauende Haus einer Familie gilt als Wertschöpfung und erlaubt den Kreditinstituten, die Finanzierung zu “schöpfen”, ohne dass die €- oder $-Kreditsumme in Gold in der Zentralbank hinterlegt sein und die Bank sich bei der Bundesbank oder EZB refinanzieren muss. Das hat zur Maximierung einer Finanzindustrie beigetragen, aber in der Immobilien- und Finanzkrise 2008/2009 gezeigt, dass das ganze System platzen kann, wie eine Seifefenblase, wenn die Gegenwerte – damals die faulen Immobilien in den USA – nicht vorhanden sind. Die gleiche Krise wird Europa nach der Beendigung des Krieges – wann auch immer – drohen, wenn deutlich wird, dass die ganzen Gelder, die für Waffen und Munition in die Ukraine geflossen sind, keine Werte geschaffen haben, sondern vernichtet sind. Auch Rheinmetall schafft keine Werte, sondern verdient an ihrer Vernichtung. Nur soweit sind wir ja heute noch lange nicht. Diese Kriegsfolgen werden erst in einigen Jahren als übernächste Wirtschaftskrise wirksam werden, wenn obendrein die 100 Mrd. Kriegs-Sonderschulden fällig werden. Zurück zur Gegenwart:
Wogegen soll Hochzinspolitik wirken?
Gegen welche inflationäre Entwicklungen wurde die Finanzpolitik der höheren Zinsen entwickelt? Höhere Zinsen können in einer Phase der “überhitzten Konjunktur”, die in Zeiten hoher Prosperität und Wirtschaftswachstums zu einem Kreislaufwettbewerb von Preissteigerungen, Lohnsteigerungen und Spekulationsgewinnen führt, dämpfen und kann den Kaufkraftverlust der sozial benachteiligten Schichten vermindern oder mildern. Aber was wir heute beobachten, ist weder eine solche kunjunkturelle Inflation, noch eine Inflation, wie sie als Folge des 1., oder 2. Weltkrieges oder des Vietnamkrieges zu beobachten war (und die Europa nach einigen Jahren Krieg bevorsteht), sondern eine vorweg genomenne Teuerung durch Spekulanten und Kriegsgewinnler.
Preistreibende Faktoren der aktuellen Preissteigerungen
Preistreibende Ursachen sind in erster Linie Energie – Erdgas, Kohle, Strom, vor allem aber Oel und Kraftstoffe für den Individualverkehr. Dazu Grundstoffe und Rohstoffe der Industrie auf den Weltmärkten: Stahl, Metalle, chemische Grundstoffe, seltene Erden, Uran, Düngemittel, aufgrund des Krieges. Dazu Chips und Halbleiter im Zuge der Corona-Krise, sowie alle Zwischen- oder Halbfertigprodukte aus China, sowie Medikamente aus Indien, die durch die Corona-Pandemie, die von den Logistikproblemen in Folge oder im Nachgang zur Corona-Kriese und den Folgen für die Lieferketten betroffen sind. Hinzu kommen noch als besondere Perversität die Spekulationen an den Weltbörsen mit Nahrungsmitteln, wie Weizen, Mais, Zucker, Soja, Palmöl oder Reis.
Zinserhöhungen komplett kontraproduktiv
All diese Ursachen sind durch Zinserhöhungen weder ursächlich beeinflussbar, noch ihre Ursachen in irgendeiner Weise kausal zu beeinflussen. Werden die Container in Shanghais Lockdown etwa schneller verladen, wenn die Zinsen steigen? Fahren die Schiffe dann schneller und werden Container zügiger entladen? Warum soll ein Speditionsunternehmen, das wegen Lieferverzögerungen aus China Strafzahlungen an seinen Kunden leisten muss, obendrein durch höhere Zinsen belastet werden? Was wird dadurch besser? Warum soll ein Unternehmen, das Altglas einschmilzt und zu Bierflaschen verarbeitet, und das nun von einem Gasofen auf einen elektrischen Schmelzofen umstellen und dafür Millionen Investieren muss, durch höhere Zinsen betraft werden? Warum soll eine Familie, die ihr Eigenheim mit Gasheizung geplant hatte und nun die Investition einer Luftwärmepumpe stemmen muss, für die ökologische Investition drastisch höhere Zinsen zahlen?
Die Zinserhöhung der EZB offenbart den ganzen Schwachsinn konventioneller Ökonomen und ihrer Finanzinstrumente. Das meine ich nicht böse. Sie können nach 70 Jahren relativem Frieden einfach den Krieg nicht denken. Ihre Kreativität reicht nicht aus. Sie verursachen damit aber möglicherweise eine finanzpolitische Katastrophe, die die gesamte Europäischen Gemeinschaft gefährdet.
Zinserhöhung – Schaden statt Nutzen
Wird die Zinserhörung die Mineralölkonzerne etwa davon abhalten, ihre durch nichts begründeten Spekulationsgewinne, die sie nach 2 Jahren Corona-Flaute nun meinen nachholen zu müssen, davon abhalten, inclusive Tankrabatt Kasse zu machen? Nein. Wird die Zinserhöhung Wohnkonzerne wie Vonovia davon abhalten, Mieten und Nebenkosten weiter zu erhöhen? Nein. Wird die Zinserhöhung der EZB die Explosion der Preise im Lebensmittelhandel des Oligopols aus Edeka, Rewe, Aldi, und Lidl stoppen, obwohl davon bei den Erzeugern so gut wie nichts ankommt? Nein. Wird die Zinserhöhung der EZB Juniper und andere Gashändler, Stadtwerke und Versorger in die Lage versetzen, dem Preisauftrieb zu widerstehen und die Versorgung aufrecht zu erhalten? Nein.
Invest in staatliche Infrastruktur und private Wirtschaft abgewürgt
Stattdessen werden Wirtschaft und die öffentliche Hand durch erhöhte Zinsen daran gehindert, den dringend notwendigen ökologischen Umbau der Energieerzeugung auf klimaneutrale und nachhaltige Techniken zu finanzieren. Gastronomie, die Corona überlebt hat und modernisiert, um Kunden zurückzugewinnen, wird daran gehindert. Der Umstieg auf Elektromobilität für die breite Masse wird ebenso verunmöglicht, wie dringend nötige Investitionen in Ladeinfrastruktur. Die Infrastrukturinvestitionen in milliardenschwere marode Brückenbauten (Kölner Ring, Sauerlandlinie, Bundesbahn) verteuern sich drastisch. Gleichzeitig wird keine einzige der Ursachen der Teuerung und der Spekulationsgewinne wirksam bekämpft.
Wirkungsvolle Eingriffe unterbleiben
Starke Kartellgesetze, die Mineralölwirtschaft wie den Lebensmittelkartellen wirkungsvoll das Handwerk legen, Knebelverträge mit den landwirtschaftlichen Erzeugern wirkungsvoll entgegentreten und konsequente Maßnahmen gegen Bodenspekulation, Mietwucher und Nebenkostenabwälzungen würden die Menschen wesentlich wirkungsvoller entlasten, als die Zinspolitik der EZB. Die von Cem Özdemir vorgeschlagene Mehrwertsteuerbefreiung von Nahrungsmitteln könnte sozial gezielter entlasten und der Teuerung entgegenwirken. Die EZB hat offensichtlich noch nicht begriffen, dass sich die EU im Wirtschaftskrieg mit Russland befindet und die Rezepte von 70 Jahren friedlichem Kapitalismus im Geiste des (durchaus richtigen) “Wandel durch Annäherung” derzeit nicht gelten. So ist die Leitzinserhöhung einzig und allein im Interesse der Banken, die so am Krieg in der Ukraine profitieren.
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