Die Regierung realisiert aktuell eine Reform der Einkommensteuersätze, um zu verhin­dern, dass Inflation und Einkommenssteigerung unter dem Strich zu einem Minus bei den Steuerpflichtigen und einem Plus bei der Öffentlichen Hand führen. Steigende Löhne und Gehälter haben im mittleren Einkommensbereich automatisch steigende Steuersätze zur Folge. Man spricht dann von einer schleichenden Progression. Auch frühere Regierungen haben solche Entwicklungen korrigiert.

Zumeist wird jedoch nicht erwähnt, dass dies nicht allen Erwerbstätigen bzw. Steuerpflich­tigen hilft. 6% (2,7 Mio.) zahlen nämlich aufgrund ihres niedrigen Einkommens keine Steuern und sind – wenn sie nicht im Zuge der Entwicklung den Grundfreibetrag über­schreiten – nicht von der Progression erfasst. 9,3% (4,2 Mio.) zahlen für ihr Spitzenein­kommen den Höchstsatz von 42%, sind also von einer schleichenden Steuererhöhung eben­falls nicht betroffen. Der Spitzensteuersatz wird von einem Einkommen von 57.918 €/a (bei Einzelpersonen) an fällig, ab 277.826 €/a greift die sogenannte „Reichensteuer“ von 45%.

Für den Finanzminister geht es darum, dem Eindruck entgegenzuwirken, der Staat wolle von der Inflationsentwicklung profitieren. Immerhin geht es um rund 10 Mrd. € an inflati­onsbedingten Mehreinnahmen. SPD und Grüne gingen zunächst zu Lindners Vorschlag auf Distanz und wollten andere Prioritäten setzen. Sie betonen, dass reiche Haushalte und Menschen mit geringeren Einkommen die gleichen hohen Energiepreise zahlen. Reiche könnten das verkraften, Geringverdiener/innen nicht. Daher sollten kleinere Einkommen absolut mehr profitieren als hohe. Lindners Konzept laufe in die entgegengesetzte Rich­tung. Auch aus der Wissenschaft, von den Sozialverbänden und von den Gewerkschaften kam die Forderung nach einer anderen Schwerpunktsetzung.

Verdi betont, dass die hohen Preissteigerungen bei Energie und Lebensmitteln die ärme­ren Haushalte am stärksten belasten. Diese haben aber am wenigsten von diesem „Inflati­onsausgleichsgesetz“, wie es Lindner nennt. Am meisten profitieren die Einkommensstar­ken. Personen mit einem Monatseinkommen von 2.000 € werden um 67 €/mtl. entlastet, bei 5.000 € sind es schon 334 €/mtl. und ab 7.000 € immerhin 536 €/mtl. Wer so wenig verdient, dass gar keine Steuer anfällt, hat nichts davon, auch nicht von der Anhebung des Grundfreibetrags. Davon profitieren ansonsten alle, auch die Spitzenverdiener/innen.

Doch Lindner setzte sich durch, zumal Kanzler Scholz sich spürbar zurückhielt. So soll der jährliche Grundfreibetrag, bis zu dem gar keine Einkommensteuer gezahlt wird, 2023 von 10.347 Euro auf 10.632 Euro steigen und 2024 auf 10.932 Euro (bei gemeinsamer Veran­lagung der doppelte Betrag). Entsprechend bewegen sich auch die weiteren Stufen, ab denen man in einen höheren Steuertarif rutscht, nach oben. Der Spitzensteuersatz von 42 Prozent soll nicht mehr ab 58.597 Euro, sondern erst ab 61.972 Euro (2023) und 63.515 Euro (2024) greifen. Der sogenannte Reichensteuersatz bleibt unverändert. Das meiste Geld kommt also bei den Topverdiener/innen an. Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung erklärte, dass 70% der Steuerentlastung bei den 30% mit den höchsten Einkommen landen.

Nun kann man zwar zugestehen, dass die Benachteiligung Einkommensschwacher bei ei­ner solchen Reform der Einkommensteuersätze systembedingt ist. In der aktuellen wirt­schaftlichen Lage ist sie jedoch nur schwer nachvollziehbar und zu vermitteln. So bleibt abzuwarten, wie die Ankündigung von Scholz letztendlich ausgeht, wonach Lindners Re­form nur Teil ei­ner Entlastung sei und Menschen mit wenig Einkommen zusätzlich gezielt unterstützt wer­den müssten.

Soweit die Einkommensteuerreform. Wenn man von systembedingter Unausgewogenheit spricht, sollte man vergleichend die Mehrwertsteuer heranziehen. Einkommens- und Mehr­wertsteuer sind die weitaus ergiebigsten Einnahmepositionen der öffentlichen Hand (Bund, Länder und Gemeinden). 2021 erbrachten Lohn- und Einkommensteuer 355 Mrd. €, zu­sammen mit anderen einkommensbezogenen Steuern (Körperschaftsteuer, Abgeltungs­steuer) waren es 434 Mrd. €. Das Mehrwertsteueraufkommen betrug im gleichen Jahr 251 Mrd. €.

Die Mehrwertsteuer wird auf nahezu alle Waren und Dienstleistungen erhoben. Der regu­läre Steuersatz beträgt bekanntlich 19%. Auf die meisten Lebensmittel einschl. Trinkwas­ser und auf Bücher und Zeitschriften, lebende Tiere, Übernachtungen, Kunstgegenstände, orthopädische Hilfsmittel u.a. werden 7% erhoben. Zudem gibt es eine Reihe von Vorgän­gen, die entweder steuerfrei sind (z.B. Mieten – soweit nicht für Gewerbeflächen, Aus­landslieferungen, Kreditverträge, Kauf von Wertpapieren, medizinische Betreuung und öf­fentliche Leistungen wie Abfall/Abwasserentsorgung oder Straßenreinigung). Manche Transaktionen unterliegen einer speziellen Steuer (Versicherungen, Grunderwerb). Arznei­mittel, Strom und Gas, Verkehrsmittel und Benzin werden mit 19% besteuert. Für Gas gilt jedoch von Oktober 2022 bis März 2023 eine Reduzierung auf 7%.

Eine irgendwie gestaltete Differenzierung des Mehrwertsteuersatzes nach Einkommens­höhe gibt es nicht (und könnte es wohl auch nur mit erheblichem Verwaltungsaufwand ge­ben). Obwohl der Anteil der Einkünfte, der für Mehrwertsteuer ausgegeben wird, je nach Einkommenshöhe erheblich schwankt. Laut Bundeszentrale für Politische Bildung betrug 2018 das Einkommen privater Haushal­te durchschnittlich 3.726 €/mtl. Davon wurden rund 900 € für Wohnen ausgegeben und 1.700 € für private Konsumzwecke, also für mehrwert­steuerpflichtige Ausgaben (Lebens­mittel, Kleidung, Verkehr, Haushalt, Gesundheit, Frei­zeit, Bildung). Selbstverständlich sind die Konsumausgaben umso höher, je mehr Geld den Haushalten zur Verfügung steht.

Das gilt jedoch nur für die absoluten Beträge, nicht für die Prozentsätze: Haushalte mit Einkommen unter 1.300 € geben monatlich 65% für Wohnen, Ernährung, Bekleidung und andere Konsumgüter aus, Haushalte über 5.000 € nur 46%. Mit steigendem Einkommen sinkt dieser Anteil weiter, dafür nimmt der Prozentsatz der Ausgaben für Verkehr, Freizeit und Unterhaltung deutlich zu. Das Institut der Deutschen Wirtschaft hat die relevanten Zahlen ermittelt und gegenübergestellt. Die untere Hälfte der Einkommen zahlt nur 7% des Einkommensteueraufkommens, aber 38% der Mehrwertsteuer. Die oberen 30% der Einkommensbezieher/innen erbringen 80% der Einkommensteuer, aber nur 42% der Mehrwertsteuer.

Diese Zahlen zeigen die Diskrepanz zwischen einer Steuer, die sich wie die Einkommen­steuer an der finanziellen Leistungskraft bemisst, und einer Steuer, die wie die Mehrwert­steuer keine sozialen Kri­terien berücksichtigt. Die Bezieher unterer und mittlerer Einkom­men zahlen einen erheb­lich größeren Anteil ihrer Einkommen für Mehrwertsteuer als die oberen und die Spitzen­verdien/er – genau entgegengesetzt zur Einkommensteuerregelung.

Besonders unterschiedlich ist übrigens die Verwendung der Einnahmen beim Sparen. Die Hans-Böckler-Stiftung hat ermittelt, dass die unterste Hälfte der Einkommen sich jährlich um 300 € verschuldet, während das oberste Prozent eine Ersparnis von 58.000 €/a auf­weist. Damit taucht eine weitere Ungleichbehandlung auf. Die Ersparnisse werden in der Regel nicht für mehrwertsteuerpflichtige Investitionen verwendet, sondern für den Kauf von Immobilien (je nach Bundesland 3,5-6,5% Grunderwerbsteuer), für den Erwerb von Aktien oder anderen Finanzanlagen (keine Steuer) oder für den Kauf von Unternehmen (steuerfrei, nur Veräußerungsgewinne sind steuerpflichtig).

Damit taucht die Frage auf, ob und wie man solchen Ungerechtigkeiten begegnen kann. Eine Staffelung der Mehrwertsteuer nach Einkommenshöhe ist unrealistisch und wohl auch nicht mit EU-Recht vereinbar. Denkbar und wohl auch machbar wäre eine Lösung, bei der niedrigen und mittleren Einkommensgruppen eine Transferzahlung gewährt wird, deren Höhe sich nach ihrem Einkommen und dem davon für Mehrwertsteuerzahlungen aufgewendeten Anteil richtet. Steuerfreibeträge bei der Einkommensteuer erfüllen ihren Zweck nicht, da dann die nicht steuerpflichtigen Bürger/innen leer ausgingen und die gut Verdienenden aufgrund der Steuerprogression besonders stark profitierten.

Exkurs: Die Erhebung einer Gasumlage und die Senkung der Mehrwertsteuer auf Gas le­gen nahe, die finanzielle Wirkung dieser Maßnahmen zu betrachten. Dabei gehen wir von folgenden Durchschnittszahlen aus: Ein vierköpfiger Haushalt verbraucht jährlich 15.000 kwh Gas. – Der Gaspreis für Bestandskunden beträgt 14 Cent/kwh, für Neukunden 34 Cent/kwh, im Mittel 24 Cent/kwh, ohne MWSt 20,2 Cent/kwh. – Die Neuregelung (Gasumlage, Senkung der MWSt) gilt für drei Monate (Oktober bis Dezember)

Nach bisheriger Regelung zahlt der Haushalt 15.000 x 20,2 Cent = 3.030 € jährlich bzw. 757,50 € im Vierteljahr. Bei einem MWSt-Satz von 19% entfallen darauf Steuern von 144 €. Künftig kommt zu dem Gaspreis von 20,2 Cent/kwh die Gasumlage von 2,42 Cent, zusammen 22,62 Cent/kwh. 15.000 kwh kosten dann 3.393 € jährlich bzw. 848 € im Vier­teljahr. Bei einem Mehrwertsteuersatz von 7% entfallen darauf Steuern von 59,50 €. Die Steuerbelastung ist demnach aufgrund der Senkung des MWSt-Satzes bei diesem Re­chenbeispiel beim Gasbezug einschl. Gasumlage deutlich geringer als bei der bisherigen Regelung mit 19% MWSt ohne Gasumlage.

Bislang wurde bereits hinterfragt, warum die Regierung die evtl. von der Gaspreisexplosi­on betroffenen Gaslieferanten nicht wie bei vergleichbaren Fällen in der Vergangenheit durch eine Zahlung aus dem Bundeshaushalt unterstützen kann. Und es wird vehement kritisiert, dass auch gewinnträchtige Unternehmen aus der Gasumlage bedient werden sollen. Nun zeigt sich, dass die Kombination von Gasumlage und MWSt-Senkung beim Bund unter dem Strich zu Mindereinnahmen führt. Laut Kanzler Scholz ist die Entlastung der Gaskunden beabsichtigt. Er erwARTE, dass die Gasversorger die Steuersenkung im vol­lem Umfang an die Gaskunden weitergeben. Beim Tankrabatt haben wir jedoch andere Er­fahrungen gemacht.

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Über Heiner Jüttner:

Der Autor war von 1972 bis 1982 FDP-Mitglied, 1980 Bundestagskandidat, 1981-1982 Vorsitzender in Aachen, 1982-1983 Landesvorsitzender der Liberalen Demokraten NRW, 1984 bis 1991 Ratsmitglied der Grünen in Aachen, 1991-98 Beigeordneter der Stadt Aachen. 1999–2007 kaufmännischer Geschäftsführer der Wassergewinnungs- und -aufbereitungsgesellschaft Nordeifel, die die Stadt Aachen und den Kreis Aachen mit Trinkwasser beliefert.