von Ingo Arend
Internationale Grüne Woche – Hüftgoldschnitte und Insekten-Burger: Ein kultureller Blick auf ein Event, das sich das Ende des Hungers auf die Fahnen geschrieben hat.

Erst kommt das Fressen, dann die Moral. So lautet der Leitsatz, der den Vorrang des Bauchs vor der Metaphysik behauptet. Daran denkt unwillkürlich, wer dieser Tage kurz vor zehn Uhr die Berliner Messehallen von der Ostseite her betritt. Eine kritische Masse älterer Herrschaften, in der Hand eine grüne Tragetasche mit Ährensymbol, leckt erwartungsvoll die Lippen und wartet darauf, dass sich die Stahltüren nach oben rollen. Der Run auf die Fleischtöpfe kann beginnen.

Die Grüne Woche, dem ökofloralen Subtext im Titel zum Trotz, ist noch immer der Karneval der Karnivoren. Rotes Fleisch, wohin das Auge reicht auf den 116.000 Quadratmetern der größten Ernährungsmesse der Welt. Besonders in Österreich wachsen die Wurstträume noch in den Himmel. Wie ein Symbol der allgemeinen kulinarischen Horizontverengung hängen bei einem brandenburgischen Anbieter geringelte „Sauschwänzchen“ wie Gardinen am Stand.

Vor der Weihnachtsbauminstallation einer belgischen Schinkenräucherei schwinden manchem Kostgänger die Sinne. Und vor den Ständen Schwedens stauen sich die Schlangen für Elchburger. Man sollte meinen, die Zeiten der Grünen Woche als Fett- und Kraftreserve des Nachkriegs seien vorbei. Es mögen Kaffeekirschen und Gemüsechips ja inzwischen auf dem Vormarsch sein – doch noch regiert Fleisch die Welt und den Geschmack.

Der Prozess der Zivilisation ist also mühsam. Und er hat ein Ost-West-Gefälle. Manche deutsche Hersteller hungern ihr Rindfleisch bei 75 Grad zu kohlehydratarmen und eiweißreichen Lean-Meat-Barren ab. Andere haben sich den Künstler Dieter Roth zum Vorbild genommen, der schon 1974 Georg Wilhelm Hegels gesammelte Werke zerschnipselte und in Wurstdärme presste. Sie ersetzen den „Geschmacksträger“ Fett mit Sushi-Ingwer oder Guarana.

Die Ukraine huldigt dem Kosakenschnitzel

Unsere Nachbarn dagegen greifen noch gern ins Volle. Die Ukraine huldigt dem Kosakenschnitzel, Lettland der Blutwurst im Darm und Ungarn natürlich dem Gulasch. Die nie erlahmende Fleischeslust des Homo sapiens muss tief sitzende anthropologische Gründe haben, sonst würde ein deutscher Hersteller nicht mit dem Slogan vom „kussechten Knoblauchspeck“ werben.

Heute freilich kommt kein Essen mehr ohne Moral aus. Sie sitzt schon im Hinterkopf, bevor noch das erste Mettbrötchen verdrückt ist. Zu viel Fett? Woher kommt das Fleisch? Verrate ich damit nicht den Klimawandel? Keine Lakritzstange mit Himbeerfüllung auf der Messe, bei der nicht die Erzeuger mit planetarem Verantwortungsgefühl argumentieren: zuckerarm, energieeffizient und nachhaltig hergestellt und genießbar.

Kaum jemand bekennt sich noch derart offen für Genuss ohne schlechtes Gewissen oder Social-Responsibility-Überbau wie ein fliegender Händler auf dem neu eingerichteten Street-Food-Markt für seine „Hüftgoldschnitte“: ein krosses Bauernbrot, verschwenderisch mit Griebenschmalz mit Röstzwiebeln einbalsamiert.

Die Quadratur des Kreises ist ein paar findigen Jungs aus dem Ruhrgebiet gelungen. Die Mülheimer Schaschlikbrüder Dietmar Haubold und Timo Winter haben so lange mit Tomatenmark, Zwiebeln, Johannisbeergelee, Curry „und einer Extraportion Idealismus“ experimentiert, bis eine gendergerechte und chemiefreie Sauce dabei herauskam.

Gegen den Hunger? Sanddorn, Algen, Krokodile

Ihr „Ruhrfeuer“ adelt den Verzehr des berüchtigten Lebensmittels vom Fast-Food-Delikt zur Gourmet-Geste. Eine echte Geschmackswende ist damit vielleicht noch nicht erreicht. Womöglich weitet es sich aber zu einem kulinarischen Flächenbrand bis hinauf zu Konopke’s Imbiss in Prenzlauer Berg aus.

Selbstverständlich wirbt das Entwicklungsministerium für globale Moral: „Eine Welt ohne Hunger ist möglich“ steht über seinem Stand. Mit Schokoladeskulpturen eines Künstlers von der Elfenbeinküste und einem echten Baumwollfeld will es demonstrieren, wie mit fairem Einkauf und fairer Produktion der Hunger bis 2030 besiegt werden kann.
Wenig Skrupel begleiten die Versuche, das Gespenst des globalen Hungers zu bannen. Sanddorn, Algen oder Krokodile gehören zu deren Klassikern. Jetzt kommt das Gerstengras dazu. Der Erstschnitt des Getreides, der früher ins Schweinefutter wanderte, soll jetzt als vielleicht nicht direkt schmackhafte, aber doch lindgrüne Geheimwaffe Menschenkost werden.

„Ich sage mal Vitalstoffbombe“, strahlt der Erfinder Interessenten an, denen er eine Probe des Pulvers, das siebzehn Mal so viel Vitamin C wie ein frischer Apfel hat, mit „Wohlfühlgarantie“ zusteckt.

Nicht jeder mag gebackene Heuschrecken essen

Inzwischen treibt der wachsende Hunger aber auch weitaus misstrauischer beäugte Spezies in den menschlichen Magen. Am Stand der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) sah man den Besuchern die gemischten Gefühle an, mit denen sie in eine gebackene Heuschrecke bissen.

Dem Brät zwischen den zwei Brötchenscheiben eines Osnabrücker Start-ups sahen sie dagegen nicht an, dass er aus samtbraunen Buffalowürmern gemahlen war. Der Insektenburger ist das jüngste Beispiel für die unaufhaltsame Ausdehnung der Essbarkeitszone.

Ethisch bedenklich ist das wahrscheinlich nur für tierliebende Atheisten. „Und herrschet über alles Lebendige, was auf Erden kriecht“, befiehlt freilich schon das 1. Buch Moses im ältesten Kochbuch der Welt. So gesehen ist der neueste Food-Hit nur die Vollendung des Evangeliums. Und er befreit aus einem alten Dilemma: Fressen und Moral fallen hier glücklich in eins.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme von taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.

Über Ingo Arend:

Der Autor ist Politologe und Historiker, er schreibt über Kunst und Politik. Stationen machte er beim Freitag, bei der taz und beim Deutschlandfunk Kultur. Er ist Mitglied im Präsidium der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK).