Der jährlich von Freedom House herausgegebene Bericht zur ‘Entwicklung der Freiheit in der Welt’ ist eine traurige Lektüre. Er dokumentiert, dass die demokratischen Freiheiten in der Welt seit 16 Jahren kontinuierlich abnehmen. Nur noch 20% der Weltbevölkerung leben heute in Staaten, die von freedom house als frei klassifiziert werden. Sechzehn Jahre zuvor waren es noch mehr als doppelt so viel. Dem Bericht zufolge galten im Jahre 2022 83 Staaten bzw. Territorien als „frei“ – das waren 20,3% der Weltbevölkerung – , 57 Staaten als „partiell frei“ (41,3%) und 55 Staaten als „nicht frei“ (38,4%, wovon mehr als die Hälfte in einem einzigen Land lebte, der Volksrepublik China).
Politikwissenschaftler/innen sprechen schon von einer globalen Rezession der Demokratie. Seit dem Beginn der globalen Talfahrt um 2006 verzeichneten 113 Länder einen Nettorückgang und nur 62 eine Nettoverbesserung. In den verbliebenen Demokratien sind vielerorts Populisten mit nationalistischen oder protektionistischen Parolen auf dem Vormarsch. Auch westliche Staaten sind davor nicht gefeit, wie die Slogans ‘take back control’, ‘america first’, ‘la France insoumise’ und ‘prima gli italiani’ zeigen.
Der Freiheitsbericht 2022 veranschaulicht die rückwärts gewandte Entwicklung mit sechs Beispielen: 1. Wahlen werden ausgehöhlt und manipuliert. Autokratien kontrollieren deren Ergebnisse. 2. Das Prinzip der Amtszeitbegrenzung wird aufgegeben. 31 Staaten haben diese Vorgabe in den letzten 12 Jahren gestrichen. 3. Das Recht auf freie Meiungsäußerung wird eingeschränkt. Es gibt staatliche Eingriffe, Verbote, Verhaftungen von Journalist/innen. In der Türkei laufen 20.000 Strafverfahren wegen „Beleidigung des Präsidenten“. 4. Neue und wirksame Formen des digitalen Autoritarismus wie Internetüberwachung und -zensur greifen um sich. 5. Die Rechte von Migranten und Flüchtlingen werden eingeschränkt. In den letzten 4 Jahren gab es Rückschritte in 8 Demokratien. 6. Dissidenten im Ausland werden durch Schikanen, Auslieferungsanträge, Überwachung, Entführungen und Morde verfolgt. Für 24 Länder ist dieses Praxis belegt.
Freedom House ist eine internationale Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Washington/USA. Ihr Ziel ist es, weltweit liberale Demokratien, politische Rechte, individuelle Freiheiten und Pressefreiheit zu fördern. Bekannt ist sie vor allem durch ihre jährlich veröffentlichten Berichte ‘Freedom in the World’. Darin bewertet die Institution für 210 Länder und Territorien den Zugang der Menschen zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten – vom Wahlrecht über Meinungsfreiheit bis zur Gleichheit vor dem Gesetz.
Allen untersuchten Ländern wird eine Punktzahl für politische Rechte und für bürgerliche Freiheiten zuerkannt. Deren Summe bestimmt dann den Rang in der Länderliste und die Einstufung als frei, teilweise frei oder nicht frei. Bei einzelnen Staaten werden wichtige freiheitsrelevante Entwicklungen beschrieben und bewertet. 2022 waren dies Chile, Iran, Irak, Myanmar, Nikaragua, Russland, Slowenien, Sudan, Thailand und Sambia. Bei fünf Staaten wird eine Statusänderung vorgenommen und begründet (Ekuador von teilweise frei zu frei, Guinea von teilweise frei zu nicht frei, Haiti von teilweise frei zu nicht frei, Peru von teilweise frei zu frei und Tunesien von frei zu teilweise frei). Ausführlich gewürdigt werden die regionalen Trends in Afrika, Amerika, Asien-Pazifik, Eurasien, Europa und Naher Osten.
Die Staaten mit den wenigsten Pluspunkten sind Syrien (1 Punkt), Südsudan 1, Eritrea 3, Nordkorea 3, Turkmenistan 2, Äquatorialguinea 5, Saudi-Arabien 7, Somalia 7, Zentralafrika 7, Belarus 8, Tadschikistan 8, Aserbeidschan 9, China 9, Jemen 9, Libyen 9, Myanmar 9 und Afghanistan 10. Kuba hat 12 Punkte, der Iran 14 und Russland 19. 25 Staaten erreichen 90 Punkte oder mehr, darunter fast alle westeuropäischen Länder, Australien, Costa Rica, Japan, Kanada, Neuseeland, Taiwan und Uruguay. An der Spitze liegen Finnland, Norwegen und Schweden mit maximal erreichbaren 100 Punkten. Deutschland hat 94 Punkte. Die USA kommen auf 83 Punkte, die Ukraine auf 61 und die Türkei auf 32.
Zu jedem untersuchten Staat bietet der Bericht eine ausführliche Darstellung, die eine große Bandbreite von freiheitsrelevanten Sachgebieten umfasst. Grundlage ist eine Kombination aus Recherchen vor Ort, Konsultationen mit lokalen Kontaktpersonen, Informationen aus Medienbeiträgen und von Regierungen, Nichtregierungsorganisationen und anderen Quellen. Fachberater und regionale Spezialisten überprüfen dann die Relevanz der Informationen.
Analysiert werden jeweils die Wahlverfahren, politischer Pluralismus und Partizipation, die Funktionsweise der Regierung, Meinungs- und Glaubensfreiheit, Vereinigungs- und Organisationsrechte, Rechtsstaatlichkeit, Presse- und Internetfreiheit sowie persönliche Autonomie und individuelle Rechte. Somit ist der Bericht eine wichtige Informationsquelle für politische Entscheidungsträger/innen, Wissenschaftler/innen, Journalist/innen oder Nichtregierungsorganisationen.
Die Datensammlung und -auswertung für Deutschland umfasst 16 Seiten. Zum Aspekt ‘Politische Rechte’ werden 39 Punkte vergeben, zu den ‘Bürgerlichen Freiheiten’ 55, zusammen 94. Im Überblick heißt es, dass alle Vorgaben weitgehend gewährleistet sind, allerdings durch den ‘Zustrom von Asylbewerbern’ und eine wachsende Zustimmung zu rechtspopulistischen Bewegungen politische Spannungen entstanden sind. Aus zwei Gründen lohnt es sich, die 25 Fragen, die geklärt und mit Punkten bedacht werden, genauer zu betrachten: Erstens um zu erfahren, welche Themen Freedom House als hinreichend bedeutsam ansieht. Zweitens zur Beantwortung der Frage, wie Deutschland jeweils abgeschnitten hat.
In fast allen Fällen hat Deutschland 4 von 4 Punkten erhalten: freie und faire Wahlen und Wahlgesetze; Freiheit für die Gründung und Kandidatur von Parteien; faire Chancen für die Opposition; unbeeinflusste politische Willensbildung; freie Entscheidungshoheit der Regierung; wirksame Schutzmaßnahmen gegen Korruption (aber mit Kritik an Parteienfinanzierung und Lobbyismus); offene und transparente Regierungsarbeit; freie und unabhängige Medien; Akademische und Bildungsfreiheit; Versammlungsfreiheit; Freiheit für Nichtregierungsorganisationen; Freiheit für Gewerkschaften; unabhängige Justiz; ordnungsgemäße Zivil- und Strafverfahren; Freizügigkeit bei der Wahl von Wohnsitz, Arbeitsplatz und Ausbildung; Recht auf Eigentum; Soziale Freiheit hinsichtlich Familie, Geschlecht etc.
In sechs Fällen erhielt Deutschland nur 3 von 4 Punkten. Die in Klammern angegebenen Gründe zeigen, wo Freedom House noch Verbesserungsmöglichkeiten sieht: Volle politische Rechte und Wahlmöglichkeiten für Minderheiten (Probleme bei Einbürgerungen); freie und öffentliche Vertretung des Glaubens (Antisemitismus, Islamophobie); freie Meinungsäußerung ohne Überwachung (Kritik an neuen Überwachungsgesetzen); Schutz vor Gewaltanwendung (politisch motivierte Straftaten); Gleichbehandlung verschiedener Bevölkerungsgruppen (Diskriminierung); Chancengleichheit und Schutz vor wirtschaftlicher Ausbeutung (Umgang mit Migrant/innen).
Summa summarum können die deutsche Gesellschaft und Politik mit der Bewertung durch Freedom House zufrieden sein. Doch es ist gewiss hilfreich, den eigenen Status in der Rechts- und Freiheitspolitik von weitgehend objektiven Außenstehenden beurteilen zu lassen. Für die deutsche Regierung bietet das Ergebnis Hinweise, wo Handeln angebracht ist.
Dass “Freedom House” umstritten ist, geht aus ihrem Wikipedia-Eintrag
https://de.wikipedia.org/wiki/Freedom_House
hervor. Das ist nicht Anlass meiner Kritik. Denn wer ist das nicht?
Was mich dagegen schon lange und immer wieder verärgert ist der grassierende – medieninduzierte – Rankingwahn, die von meinem Freund Dieter Bott zurecht beklagte “Sportifizierung” von Gesellschaft und Politik. Marktführend hierzulande meines Wissens die Bertelsmann-Stiftung und all ihre Töchter. Methodisch ist das meiner Meinung nach Verdummung, völlig ungeeignet für Analysen gesellschaftlicher Prozesse, Akteur*inn*e*n und Interessen. Bei Länderanalysen (auch z.B. bei “Pisa”) wird das auf die Spitze getrieben, alle Besonderheiten in der Wahrnehmung planiert. Erkenntnis fördert das nicht, aber Klischees werden stabilisiert.
Diese Kritik richtet sich nicht an Dich Heiner, Du bist ja nur der Überbringer. Und ich schätze Deine sachliche Art sehr, das zu tun. Du hast mir hier einen Anlass geliefert, diesen Ärger mal rauszulassen.