Den Neoliberalismus in seinem Lauf hält weder Grün noch Sozi auf

An die Schalthebel politischer Macht gelangte der Neoliberalismus in Deutschland 1982 mit der Wende der FDP zur CDU. Obwohl: auch Kanzler Schmidt (SPD) personifizierte ihn schon, weswegen er berechtigten Ärger mit den Gewerkschaften bekam, was wiederum die FDP von seiner Seite vertrieb. Zu den Ahnfiguren dieser reaktionären Ideologie gehören im Rückblick neben Ronald Reagan (USA) und Margret Thatcher (UK) zweifellos auch die Deutschen Helmut Kohl und sein ewiger Kronprinz Wolfgang Schäuble. In der öffentlichen Debatte ist diese Ideologie heute von gestern – in der Ökonomie regiert sie dagegen mehr denn je (dieser Link verschwindet in einigen Tagen in einem Paywall-Archiv). Und führt bis heute zum Zerfall von Solidarität, Organisationen und Parteien.

Denn abseits proklamierter Polit-Debatten regiert gesellschaftlich der Individualismus (inkl. “Selbstoptimierung”), für den die asozialen Netzwerke ab Ende der 90er als schwergewichtiger Hebel hinzukamen. Das gesellschaftliche Sein prägt die Individuen, die – mit einigem Recht – immer weniger zugunsten Anderer (oder gar einer Gruppe/Organisation) eigene Bedürfnisse und ihre zügige Befriedigung zurückzustellen bereit sind. Für welche Zukunft sollte das gut sein?

Gegenbeispiele?

Die Schüler*innen-Bewegung Fridays For Future war zweifellos eins. Mit 18/19 wird die*der Schülerin allerdings irgendwas Anderes. Die Lebensumstände ändern sich, nicht selten fundamental. Das erschwert organisationspolitische Kontinuität, macht sie in der Regel unmöglich. Wenn dann noch eine öffentlichkeitsfeindliche Pandemie dazukommt … Dagegen gibt es kein Gegenmittel. Ich weiss keins. Aktuell haben wir die millionenstarke Bewegung für die Verteidigung der bürgerlichen Demokratie gegen Rechts. Sie dokumentiert bürgerliche Potenziale. Die jedoch finden keine adäquaten Angebote, sich dauerhaft zu engagieren oder gar zu organisieren.

Ein kleines gutes Beispiel mit wachsender öffentlicher Relevanz: die Fussball-Ultras gegen recht grosse Kapitalmacht (und mit wachsendem Frauenanteil).

Womit ich bei der SPD bin

Um mal ausnahmsweise nicht über meine eigene Partei wehzuklagen. Dieses Mal ist es keine Kanalarbeiter-Intrige, sondern es sind kopfschüttelnde Senioren. Ich war nicht da. Die Thalia-Buchhandlung am Bonner Marktplatz betrete ich nicht. Hier wurde das schönste Bonner Kino “Metropol” rücksichtslos vernichtet. Es war das Kino, an dem ich 1972 ganz altmodisch von Mensch zu Mensch an der Kinokasse das sensationelle Abstimmungsergebnis zum Misstrauensvotum gegen Willy Brandt erfuhr. Nicht von einem bösen ausländischen Investmentfond wurde dieses wichtige Denkmal der Stadt und ihrer Kultur zerstört, sondern von einem rücksichtslosen Bonner Kaufmann, den ich sogar als damaliges Kulturausschussmitglied kennenlernen musste. Und dem die SPD-geführte Stadtspitze keinen ausreichenden Widerstand entgegensetzte.

Dort war aber Blogkollege Alfons Pieper. Er war bei einer Lesung seines Kollegen Hartmut Palmer. Der war selbst, wie Pieper, der SPD gegenüber nie feindlich eingestellt, und dennoch prinzipienfest. Ich begann gerade als Jugendlicher Fan des Kritischen Tagebuchs (WDR3, bis 2003) zu werden, als er dort einen flammenden Kommentar gegen den faschistischen Militärputsch in Chile (1973) hielt – und die schmutzige Solidarität der Regierungen des kapitalistischen “Westens” mit diesem schweren Verbrechen. Später, in den 80ern sass er oft mit seinen Spiegel-Kollegen (die wenigen Frauen mitgemeint) des Bonner Hauptstadtbüros am Nebentisch, wenn wir von der Jungdemokraten-Bundesgeschäftsstelle in der “Laterne” (Ermekeilstrasse) Mittagspause machten. Nach meiner Beobachtung ist der Kerl so aufrecht geblieben, wie er hier von Pieper beschrieben wird.

Kritischer und böser lässt sich über den Bundeskanzler und seine persönliche Interpretation dieses Staatsamtes kaum schreiben. Und das Schlimme ist: es stimmt.

Wie konnte es so weit kommen?

Wenn Sie ein Beispiel suchen, wie welt- und wirklichkeitsabgewandt die heutigen Akteur*inn*e*n von SPD-Bundespolitik denken und agieren, dann “empfehle” ich Ihnen als schlechtes Beispiel den unsere Region repräsentierenden MdB und Innenpolitiker Sebastian Hartmann/ipg-journal: Humanitäre Ordnungshüterin – Die EU-Asylreform ermöglicht Migrationssteuerung, ohne die Rechte Geflüchteter zu beschneiden. Gefragt ist die Solidarität der Mitgliedsstaaten.” Tja lieber Roland, da muss mann erstmal drauf kommen!

Das entsteht in der Blase, in der dieser Kanzler regiert.

Was wäre die Alternative?

Christoph Habermann kritisierte hier eben mit Recht das ewige “Mitte-Tremolo”. Wenn es jemals gestimmt hat, ist es heute so falsch wie der Neoliberalismus. Spätestens seit der ersten Wahl eines gewissen Donald Trump zum “mächtigsten Mann der Welt” ist es faktisch damit zuende. Wahlen gewinnt keine “Mitte”, sondern wer zum Wählen mobilisiert. Wann ist ein*e Wahlberechtigte*r motiviert, an einer Wahl teilzunehmen? Die, die meinen, “die da oben machen ja doch, was sie wollen” jedenfalls nicht. Ausser, sie glauben, “die da oben” mal so richtig ärgern zu können. Grundsätzlich ist bereit zu wählen, wer glaubt, mit ihrer*seiner Stimme eine Botschaft übermitteln zu können.

Welche Botschaft könnte das sein?

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net