Wie der humanitäre Interventionismus in Haiti gescheitert ist

Wer über Haiti schreibt, kann in schlechten Nachrichten untergehen. Die Ziffern der Katastrophe veranschaulichen nicht, was sich abspielt. Die UNO, die nicht ganz unschuldig an der akuten Katastrophe ist, veröffentlicht regelmäßig Berichte. So lauten die Zahlen für 2024: eine Million Binnenvertriebene, über 5000 Tote nach Auseinandersetzungen mit Gangs, die Hälfte der Bevölkerung chronisch unter­ernährt, darüber hinaus über zwei Millionen Menschen in der nächsten Hungerkategorie, der Notfallstufe. Katja Maurer hat die Hintergründe des Dramas recherchiert.

Die Schuldigen für die dramatische Situation in Haiti scheinen auf den ersten Blick schnell ausgemacht. Unzählige Gangs kontrollieren 80 Prozent der Hauptstadtregion Port-au-Prince und sind auch in anderen Landesteilen aktiv. Sie sind mit High-Tech-Waffen ausgerüstet, die problemlos aus den USA eingeführt werden, extreme Brutalität ist ihr Markenzeichen. Die argentinische Anthropologin Rita Segato hatte bereits Frauenmorde im mexikanischen Ciudad Juárez, deren Opfer willkürlich ausgesucht wurden, als eine Kommunikationsform des patriarchalen Parastaats bezeichnet. Ähnlich agieren die Gangs in Haiti. Die totale Verschreckung ist ihr Markenkern und eine Botschaft an die Welt. Auf die Spitze trieb es ein Gangführer in Cité Soleil, einem der ältesten Armenviertel der Hauptstadt. Im Dezember letzten Jahres ließ er über 100 Frauen über 60 Jahre in einer Art Hexenverfolgungsrausch umbringen. Er machte sie für den Tod seines Sohnes verantwortlich. Die Nachricht über diese Morde schaffte es in die weltweiten Medien. Das sollte sie auch.

Die eingangs erwähnten Zahlen können die Welt nicht schocken. Haiti trägt seit Jahrzehnten den Titel des „ärmsten Landes der westlichen Hemisphäre“. Hier schwingt das Ressentiment schon mit, das in manchem Außenministerium auf die Formel gebracht wird: Haiti sei nicht entwickelbar. Die Ganggewalt hingegen ist ein Gruselfilm in Endlosschleife, mit dem Haiti immer wieder die Aufmerksamkeit der internationalen Medien erringt. Gleichzeitig werden die Armutszahlen als Naturzustand eines Schwarzen Inselstaats, der sich seit 1804 selbst regiert, schulterzuckend zur Kenntnis genommen. Dass es den Gangs noch dazu gelungen ist, den vom US-Hegemon bis zum bitteren Ende gestützten Ministerpräsidenten Ariel Henry im April 2024 zu stürzen, den Flughafen der Hauptstadt immer wieder zu schließen und die wichtigsten Häfen zu kontrollieren, hat sie zu einem Player im geopolitischen Feld gemacht.

Die Biden-Administration hatte trotz der Niederlage in Afghanistan in Haiti noch einmal versucht, das stumpfe Schwert der humanitären Intervention zu zücken, um die Krise einzuhegen. Seit Juni 2024 fährt eine von der UNO genehmigte, mehrere hundert Mann starke Polizeitruppe unter Leitung von Kenia in gepanzerten Wagen durch Haiti und soll für Sicherheit sorgen. Ergänzt unter anderem durch ein paar hartgesottene Männer, die der salvadorianische Präsident Bukele kürzlich zur Verfügung gestellt hat. Er hält sich schließlich für einen Spezialisten in der Bekämpfung von bewaffneten Jugendlichen. Tatsächlich aber ist die Polizeimission ein Riesenflop. An der sogenannten Sicherheitslage im Land hat sie nichts ändern können. Der Flughafen ist seit Monaten geschlossen (wer raus will, muss sich einen einige tausend Dollar teuren Helikopterflug nach Cap Haïtien buchen, um von dort nach Miami zu fliegen). Ein Drittel des Geldes, das die USA zur Verfügung gestellt hatten, ist für Logistik bereits ausgegeben. Eine US-amerikanische Firma hat daran gut verdient. Mittelzuweisungen anderer Länder, um die UN-Generalsekretär Guterres in einem Appell dringend gebeten hat, gibt es bislang nicht. Bis März reichen die Gelder noch.

Abschiebungen eskalieren

Was aber prima funktioniert, sind die Abschiebeflüge aus den USA nach Haiti. Sie landen nun auch in Cap Haïtien. Nach dem Erdbeben 2010 hatten die Haitianer*innen einen temporären Schutzstatus. Das hinderte die US-Administration schon ein Jahr nach dem Erdbeben nicht daran, straffällig gewordene Haitianer*innen abzuschieben, selbst wenn sie einen legalen Aufenthaltstitel in den USA besaßen. Trump hob nach seiner ersten Wahl 2016 diesen Schutzstatus auf und wollte sukzessive 60 000 Haitianer*innen abschieben. Joe Biden setzte die Politik Trumps gegenüber den Haitianer*innen schonungslos fort. Der doppelte Standard liberaler Politik offenbarte sich gerade in dieser Frage. Biden ernannte 2021, wenige Wochen nach der Ermordung des haitianischen Präsiden Jovenel Moïse (dessen Tod noch immer nicht aufgeklärt ist), Daniel Lewis Foote zum Haiti-Beauftragten. In Haiti atmete man auf. Zum ersten Mal schien nach Jahrzehnten der Einmischung und Bevormundung ein Diplomat ernannt worden zu sein, der nicht nur Kreol und Französisch spricht, sondern über vielfältige Kontakte in die haitianische Politik und Gesellschaft verfügte. Foote wollte einen nationalen Dialog zur Überwindung der Krise befördern und setzte auf das sogenannte Montana-Bündnis aus Politik und Zivilgesellschaft. Das schlug einen Übergangsprozess von mehreren Jahren vor, um tatsächlich durch die Bevölkerung legitimierte Wahlen durchzuführen. Daniel Foote wäre der richtige Ansprechpartner für einen solchen Prozess gewesen, der eine staatliche Infrastruktur und ein Ende der Straflosigkeit hätte befördern können. Foote war und ist ein unverblümter Kritiker der Einmischungspolitik durch die USA und die UNO, die seit dem Erdbeben 2010 Haiti quasi von außen regieren. Nach sechs Wochen trat er aus Protest gegen die anhaltenden Deportationsflüge aus den USA zurück: Die Abschiebepraxis verhindere eine Lösung der Krise und eskaliere die Situation in Haiti. Offensichtlich wollte er sich nicht als Feigenblatt benutzen lassen, indem er weiterhin eine „haitianische Lösung“ hätte propagieren sollen, während die USA und die Nachbarstaaten nur ein Interesse haben: Geflüchtete nach Haiti abzuschieben. Die Biden-Administration schob letztlich mehr Haitianer*innen ab als Donald Trump in seiner ersten Amtszeit. So wurde die vorerst letzte Chance verpasst, eine tatsächliche Lösung unter der Führung haitianischer Kräfte zu finden.

Die Biden-Administration, aber auch die europäischen Vertreter*innen in der damals noch existierenden, nach dem Erdbeben installierten Core-Group, zeigten keinerlei politischen Willen, ihre bisherige – gescheiterte – Politik zu beenden. Sie wollten weiterhin die Kontrolle behalten, setzten Premier Henry ein und hielten ihm eisern die Treue. Gleichzeitig eskalierte die Gewalt, der Henry schließlich zum Opfer fiel. Diese Aktion diente dazu, die Kontrolle zu behalten – um sie dann endgültig zu verlieren.

Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze beschrieb Haiti vor zwei Jahren als DAS Beispiel für eine extreme Polykrise. Die akute Krise (die sich seit der Veröffentlichung seines Textes noch extrem verschärft hat) sei Ergebnis, so Tooze, von „einer langen Geschichte gescheiterter Staatlichkeit, gescheiterter Intervention, Gewalt, Ausbeutung, die bis zum historischen Aufstand Haitis gegen die Sklaverei zurückreichen“. Kurz: Man kann die heutige haitianische Entwicklung nicht verstehen und erst recht nicht in eine andere Richtung drehen, wenn man sich nicht mit dieser Geschichte auseinandersetzt.

15 Jahre Erdbeben

Vor 15 Jahren ereignete sich das schwere Erdbeben in Haiti, bei dem über 200 000 Menschen ums Leben kamen. Die Hauptstadt und die nahe gelegene Kleinstadt Léogâne, das Epizentrum, wurden dabei zerstört und erheblich beschädigt. Das Erdbeben und auch die Flut, die wenige Monate später in Pakistan stattfand, lösten eine Welle weltweiter Hilfsbereitschaft aus. Die Spenden erreichten fast die Höhe der Summen, die 2005 für die Opfer des südasiatischen Tsunami aufgebracht wurden. Es waren die Hochzeiten der humanitären Hilfe, des Humanitarismus, der heute noch an den Hochschulen der westlichen Länder unterrichtet wird (wenn der Studiengang nicht dem Trumpismus zum Opfer fällt).

Die humanitäre Hilfe war in ihrer Praxis aber schon 2010 eine Konfusionsmaschine. Sie versprach Hilfe für alle, die sie benötigten, wollte aber von den sozialen Ursachen der Verheerungen nichts wissen. Die internationale Hilfsoperation in Haiti nach dem Erdbeben ist das beste Beispiel für einen humanitären Interventionismus der liberalen Weltordnung – und für sein Scheitern. Man könnte noch Afghanistan als zweites Beispiel nennen.

Die humanitäre Intervention in Haiti setzte die gewählte Regierung ab, ließ ein Jahr nach der Katastrophe neu wählen und die Wahlergebnisse so zurechtrücken, dass der ihr genehme Kandidat Martelly gewählt wurde. Ein Jahr lang regierte man vom UN-Compound am Flughafen, wo nur Englisch gesprochen wurde, und überging gezielt alle haitianischen Vertreter*innen in der Vergabekommission, die die Milliarden an Hilfsgeldern verwaltete. Nach den Wahlen überließ man Martelly das Geschäft, der im Namen der Kompradoren-Bourgeosie Haitis das viele Geld privatisierte. Das nannte sich „Haiti is open for Business“. Unterdessen verwalteten internationale NGOs das Elend und bauten Lager außerhalb von Port-au-Prince für Hunderttausende von Menschen. Nach drei Jahren zogen sie ab und überließen das Elend sich selbst (nicht ohne sehr viele Hilfsgelder für die Besoldung ihrer Mitarbeiter*innen verwendet zu haben). Die Minustah, eine der längsten Militärmissionen der UNO und geführt von lateinamerikanischen Offizieren, die noch in der berüchtigten Escuela de las Américas ausgebildet worden waren, harrte immerhin bis 2017 in Haiti aus. Gewalttäter und Vergewaltiger unter ihnen wurden ohne Gerichtsurteil nach Hause geschickt. Der internationale Militäreinsatz kostete eine Million Dollar täglich. Angesichts der Ganggewalt muss man sagen, dass sie unverrichteter Dinge abzogen. Als die Minustah 2004 nach dem Sturz des gewählten Präsidenten Aristide eingesetzt wurde, gab es zwei Gangs. Sie wurden mit einer gut ausgestatteten Truppe bekämpft und deren Auflösung wurde mit viel Geld für eine brasilianische NRO, die in den entsprechenden Elendsvierteln agierte, sozial abgefedert. Heute sprechen wir von mehreren hundert Gangs. Sie sind eng verzahnt mit der Regierungspartei PHTK (1), die seit dem Erdbeben die Präsidenten in fragwürdigen Wahlen stellt.

80 Prozent der Erdbebengelder, so stellte das haitianische Menschenrechtsnetzwerk RNDDH fest, verließen Haiti wieder: über Gehälter und Gewinne internationaler Firmen, besonders aus der benachbarten Dominikanischen Republik. Die Intransparenz der internationalen staatlichen, suprastaatlichen und privaten Hilfe machte es unglaublich schwer zu verstehen, wie die Gelder versandet waren. (2)

Chancen vertan

Einzig die transnationale Antikorruptionsbewegung, die sich an der Veruntreuung der venezolanischen Petrocaribe-Gelder entzündete, brachte Licht ins Dunkel des Hilfsmissbrauchs. Die Mittel, die Venezuela Martelly zur Verfügung gestellt hatte, kamen aus dem teuren Weiterverkauf des zum solidarischen Sonderpreis an Haiti vergebenen venezolanischen Erdöls. Das waren die einzigen Mittel, die direkt an die Regierung flossen, und somit einer gewissen Transparenz unterlagen. Die haitianische Elite, die ihre eigene Bevölkerung verabscheut, hielt es nicht für nötig die Verschwendung zu kaschieren. So fiel es der Bewegung relativ leicht nachzuweisen, dass die meisten angekündigten Projekte, die aus diesen Mitteln finanziert werden sollten, gar nicht realisiert wurden. Nun gab es 2017 und 2018 riesige Demonstrationen, selbst in der Provinz und in den Kirchen des Landes. Der Untersuchungsbericht einer Senatskommission belegte die Vorwürfe. Noch gab es Richter, die aufgrund dessen Urteile hätten fällen können. Die Absetzung von Präsident Jovenel Moïse auf legalem Weg stand auf der Tagesordnung. Ein Massaker im Stadtteil La Saline mit über 70 Toten, verantwortet vom heutigen Gangführer Jimmy Chérizier, setzte der Bewegung jedoch ein Ende. Moïse blieb an der Macht, die US-Regierung hielt ihre schützende Hand über ihn.

Wieder war eine Chance vertan, der haitianischen Entwicklung auf konstitutionellem Weg eine neue Richtung zu geben. Seither herrschen das Chaos und die Gangs. Sie sind Profiteure der Krise, gleichzeitig ihr Ausdruck. Eines aber sind sie nicht: ihre Ursache.

Der neue US-Präsident ist ein erklärter Gegner des humanitären Interventionismus à la Haiti. Das kostet nicht viel, weil das Ganze ohnehin gescheitert ist. Eine Wiederbelebung der Monroe-Doktrin deutet sich allerdings an. Dann rückt Haiti, das Trump mal als „shithole-country“ bezeichnete, wieder ins unmittelbare Blickfeld der US-Regierung. Der blanke Rassismus von Trump gegenüber Haitianer*innen ist sprichwörtlich. Aber auch Biden fiel mit ziemlich schlimmen Äußerungen auf. Durchaus möglich, dass Haiti eines der ersten Länder für den Einsatz eines neuen Regionalimperialismus der USA sein wird. Dass man dafür auch mit Gang-Führern reden wird, haben US-Diplomaten, die Trump nahestehen, nicht ausgeschlossen.

(1) Pati Ayisyen Tèt Kale (2012 gegründet): „Partei der Kahlköpfe“ in Anspielung auf Ex-Präsident Michel Martelly.

(2) Dass das Hilfsbusiness mit den Geldern eine zweite Katastrophe auslöste, gilt als ausgemacht. Zwei US-amerikanische Wissenschaftler weisen das in ihren Büchern nach: Mark Schuller, „Killing with Kindness: Haiti, International Aid, and NGOs“, 2012, und „Humanitarian Aftershocks in Haiti“, 2016; sowie Jake Johnston, „Aid State: Elite Panic, Disaster Capitalism, and the Battle to Control Haiti“, 2024.

Katja Maurer war lange Leiterin der Öffentlichkeitsabteilung und Chefredakteurin des „rundschreiben“ bei medico international. Seit 2010 publiziert sie regelmäßig zu Haiti und hat gemeinsam mit Andrea Pollmeier das Buch veröffentlicht: „Haitianische Renaissance – der lange Weg zur postkolonialen Befreiung“, erschienen 2020 bei Brandes & Apsel. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 483 März 2025, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Einige Links wurden nachträglich eingefügt.

Über Katja Maurer / Informationsstelle Lateinamerika:

Die Informationsstelle Lateinamerika e. V. (ila) ist ein gemeinnütziger Verein mit Sitz im Oscar-Romero-Haus in Bonn. Das Ziel des Vereins ist die Veröffentlichung kritischer und unabhängiger Informationen aus Lateinamerika. Der Schwerpunkt liegt auf Nachrichten und Hintergrundinformationen aus basisdemokratischer Perspektive. Die Informationsstelle Lateinamerika begreift sich als Teil der politischen Linken und engagiert sich in übergreifenden politischen Bündnissen wie der Friedens- und Antikriegsbewegung oder Attac. Der Verein besteht seit 1975 und gibt die gleichnamige Zeitschrift ila heraus. Alle Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit freundlicher Genehmigung.