Orwell heute – intrigante geheimdienstliche Durchstechereien heissen jetzt “Recherche”

Sie lesen hier ja sowieso freiwillig. Wenn Sie sich für die Gründe meiner persönlichen Mediendiät interessieren, bleiben Sie dran. Hier folgt ein aktueller Anlass für die Diät, ein Hinweis auf die Diagnose, sowie am Schluss – zu – wenige Gegenmittel. Bei mir persönlich endet das heute Abend dann wieder beim Fussball (der Herren, die Bundesliga-Damen waren gestern fast genauso langweilig).

Zunächst der Anlass

Der deutsche Auslandsgeheimdienst BND soll herausgefunden haben, dass das Covid-19 Virus aus Wuhan aus einem Labor sein soll. Dä. Das habe er beinahe von Anfang an gewusst. Aber die Bundesregierung habe das “geheim” gehalten. Aktuelle Parlamentsmitglieder, und zwar insbesondere die, deren parlamentarische Aufgabe es war, Geheimdienste zu “kontrollieren”, bringen es fertig, sich vor Kameras und Mikrofonen darüber aufzuregen. Keiner hat ihnen was gesagt. Angebliche Premiumjournalisten, angeführt von den Herren Stark und Mascolo, prahlen, das hätten sie nun “aufgedeckt”. Geht es noch peinlicher?

Wenn die Welt untergeht, merkt es der deutsche BND fünf Jahre später. Deutsche Qualitätsmedien merken es überhaupt nicht. Erst wenn der BND ihnen einen Arschtritt gibt, berichten auch sie darüber … Mascolo und Stark haben es in ihrer Zeit beim Spiegel nicht anders gelernt.

Meine steile These: der BND hat offenbar erst jetzt diesen ein Jahr alten telepolis-Text von Jeffrey D. Sachs gelesen: Covid-19 und die Laborthese: Was schulden die USA der Welt nach der Pandemie? – Forderungen nach Untersuchung im Kongress und globalen Maßnahmen. US-Regierung unter Druck. Einige Thesen zur Debatte.” Sachs referiert hier auch nur, was er in real recherchierenden US-Medien gelesen hat. Erste Indizien dazu gab es schon zu Pandemiebeginn 2019/20.

Als die Grünen noch die Abschaffung der Geheimdienste forderten – zu denen zähle ich mich dazu – war ein zentrales Argument, dass forschende Wissenschaftler*innen mit entsprechenden Sprach- und Kulturkenntnissen die gleichen “Ergebnisse” besser, schneller, billiger und transparenter/überprüfbarer liefern können, als intrigante, konspirierende Geheimdienste. Das ist heute immer noch so. Nur das mit den Grünen leider nicht.

Wenn die BND-Fuzzis nun vor einem Jahr oder später Sachs/telepolis gelesen haben, hat sie das offenbar auf einige schlechte, aber kreative Ideen gebracht. Z.B. das mit den USA einfach wegzulassen. Denn die USA waren gut und China ist bekanntlich böse. Dass die zusammengearbeitet haben sollen, macht die Story unnötig kompliziert und schwer vermittelbar.

Im Ruhrgebiet sagen wir dazu: “Verarschen kann ich mich selber”.

Nun zur Diagnose

Zu meiner eigenen Überraschung fand ich die exakt heute in der Jungen Welt durch den mir bislang unbekannten Autor Jan Kadel: Masse und Klasse – Zensur ohne Zensor. Über die Funktionsweise von Massenmedien im Kapitalismus”. Ironischerweise war dieser Text am seinem gestrigen Erscheinungstag noch paywallvermauert, und wird dort in einigen Tagen auch wieder im digital vergrabenen Archiv landen.

Die sich selbst klassenkämpferisch gerierende Junge Welt gibt Kadels systemischer Diagnose auf diese Weise in vollem Umfang recht. Einige Zitate: “Denn das hauptsächliche Ziel eines Großteils der Medienunternehmen ist notwendigerweise die Gewinnmaximierung. Dabei werden durch den Zwang, die Medien möglichst einfach und an eine große Masse vermarkten zu können, die Inhalte weiter eingeschränkt. … Die Verbindung von Privatbesitz, Profitorientierung und Machtanwendung hat unausweichliche Auswirkungen auf Journalisten. … Diese systemische Verzerrung führt zu einer ideologischen Normalität, in der kapitalistische Realitäten nicht hinterfragt, sondern als alternativlos dargestellt werden. … Dabei werden durch das Auslassen gewisser Fakten und Perspektiven öffentliche Diskurse maßgeblich beeinflusst.” wofür, füge ich hinzu, Paywalls ein ganz ausgezeichnetes Instrument sind, oder, wie Kadel ganz richtig formuliert: “Indem schließlich auch die Sichtbarkeit der Themen selbst durch Platzierung bestimmt wird, kann dieser Effekt noch verstärkt werden. … Kritische, progressive und systemexterne Positionen werden gedämpft, abweichende Positionen in ihrer Reichweite limitiert oder gänzlich unterdrückt. Marktwirtschaftliche »Freiheit« der Presse und staatliche Kontrollorgane helfen, die Einhaltung der propagandistischen Funktion zu garantieren. … Eine fundierte Medienkritik ist daher kein Selbstzweck, sondern ein Akt der Selbstverteidigung. Doch Auseinandersetzung mit und Argumentation gegen die kapitalistische Propaganda allein reichen nicht aus – es braucht auch Widerstand gegen die materiellen Strukturen, die sie überhaupt erst ermöglichen. “ Perfekt. Damit ist alles gesagt.

Hier die Gegenmittel des Tages

Von bewährter Qualität auch heute wieder von Philipp Lemmerich und Stefanie Otto die DLF-Gesichter Europas: Kalabrien: Das toxische Erbe der Chemieindustrie – Die italienische Kleinstadt Crotone war einst ein Zentrum der Chemieindustrie. Heute gilt sie als einer der am stärksten kontaminierten Orte Europas. Schwermetalle im Boden und in der Luft belasten die Umwelt und die Gesundheit der Bevölkerung. Die Fabriken mit einst tausenden Arbeitsplätzen sind längst verschwunden. Geblieben sind nur Industriebrachen – und eine Offshore-Förderanlage des Öl- und Gasriesen Eni, die wenig Geld, aber weitere Umweltprobleme mit sich bringt. Crotones Bürgermeister Vincenzo Voce, ein Chemiker und langjähriger Umweltaktivist, kämpft für Entschädigungszahlungen und eine umfassende Sanierung der kontaminierten Gebiete. Doch die Herausforderungen sind immens. Zwar verspricht die italienische Regierung nun immerhin ein beschleunigtes Verfahren für die Schadstoffsanierung, aber die Skepsis in der Bevölkerung ist groß. Solange nichts passiert, bleibt Crotone ein Symbol für die bitteren Folgen von Deindustrialisierung und politischer Untätigkeit.” Nur Audio, 55 min.

Verschlafen habe ich heute morgen das gewiss ebenfalls spannende “DLF-Wochenendjournal” von Thilo Schmidt Ehrenamt – Wenn Menschen machen statt meckern – Millionen Deutsche engagieren sich ehrenamtlich. Ohne ihren Einsatz wäre unsere Gesellschaft um vieles ärmer. Passend zum diesjährigen Denkfabrik-Thema von Deutschlandfunk ‘Machen statt meckern – Was passiert, wenn alle mit anpacken…’ stellen wir Menschen vor, die viel bewegen: Sie retten eine Bibliothek vor der Schließung, bilden Hunde für die Suche nach Vermissten aus oder helfen Senioren beim Umgang mit Medien.” Ebenfalls ärgerlicherweise nur Audio 45min.

Wenn Ihnen die Zeit verständlicherweise zu kostbar ist, und Sie es auch nicht belohnen wollen, dass der DLF die von Ihnen und mir schon bezahlten Manuskripte nicht online stellt, dann gibts hier als Trost noch zwei lesenswerte Texte.

Andreas von Westphalen (Interview)/telepolis: Wird Syrien der nächste gescheiterte Staat? – Nach Massakern steht Syrien am Abgrund. Die Übergangsregierung kämpft um Kontrolle im zerrissenen Land. Wird das einst stolze Syrien nun endgültig zerfallen? Interview mit Stephanie Doetzer.” Frau Doetzer kannte ich bisher nicht. Mir hat sie hier was zu sagen.

David Goeßmann/telepolis: Ukraine-Krieg: Warum Putin kein zweiter Hitler ist – USA drängen auf Gespräche zwischen Kiew und Moskau. Europa bleibt kritisch. Rennen wir wie 1938 in die Appeasement-Falle?” Der Autor schreibt auf, was vor gar nicht langer Zeit politische Allgemeinbildung war. Kein Grund, sie verloren zu geben.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net