Koalitionsvertrag: Von der Last Ja oder Nein sagen zu dürfen
I.
Bis zum 29. April haben die Mitglieder der SPD die Möglichkeit, über den Koalitionsvertrag abzustimmen. Anders als die Mitglieder von CDU und CSU können sie Ja oder Nein sagen. Das schlechteste und das beste Ergebnis der Verhandlungen zwischen CDU, SPD und CSU stehen seit Ende März im Grundgesetz:
Die „Schuldenbremse“ gilt nicht für alle Ausgaben für Verteidigung, Zivilschutz, Nachrichtendienste und Cybersicherheit, die über ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts hinausgehen. Das ist falsch, weil es die Militarisierung des Denkens und Handelns fördert und die Illusion verbreitet, die äussere Sicherheit Deutschlands hänge in erster Linie von der Höhe der Ausgaben für Aufrüstung ab …
500 Milliarden stehen in einem „Sondervermögen“ für Investitionen in die Infrastruktur in den kommenden zwölf Jahren zur Verfügung. Das ist richtig, weil alle Bundesregierungen der vergangenen Jahrzehnten grosse Teile der öffentlichen Infrastruktur, von der Bahn bis zu Schulen und Kitas,von digitalen Diensten bis zu Forschungseinrichtungen und Hochschulen haben verkommen lassen.
Der Text des Koalitionsvertrags ist keine angenehme Lektüre. Das muss nicht gegen ihn sprechen. Manche weisen darauf hin, dass es auf den Koalitionsvertrag allein gar nicht ankomme. Sie haben Recht.
Umso wichtiger ist, dass die Parteien, die jetzt gemeinsam die Bundesregierung bilden wollen, ein gemeinsames Verständnis davon haben, was sie wollen und worauf sie sich geeinigt haben. Viele Äusserungen der vergangenen Tage zeigen, dass davon keine Rede sein kann.
II.
Friedrich Merz, der Anfang Mai mit sozialdemokratischen Stimmen zum Bundeskanzler gewählt werden will, ging mit schlechtem Beispiel voran. Aussagen im Koalitionsvertrag, die für die SPD wesentliche Bedeutung haben, stellt er in Frage. Zum Mindestlohn von 15 Euro sagt er: „Das haben wir so nicht verabredet.“ Die Senkung der Lohn- und Einkommensteuer für kleine und mittlere Einkommen solle nur dann kommen, „wenn es der öffentliche Haushalt hergibt.“
Merz´ schlechtes Beispiel hat Schule gemacht:
Torsten Frei, Geschäftsführer der Bundestagsfraktion von CDU und CSU, kündigt gegen den Text und gegen den Geist des Koalitionsvertrags Einschnitte bei den sozialen Sicherungssystemen an: „Gesundheit, Pflege und Rente, das sind die grossen Herausforderungen. Da werden auch unangenehme Entscheidungen getroffen werden müssen.“
Jens Spahn, schon seit langem als Rechtsausleger bekannter Fraktions-Vize, fordert, die AfD im Bundestag wie alle anderen Oppositionsparteien zu behandeln. Als die frühere Bundestagspräsidentin Bärbel Bas vor der Normalisierung der AfD warnt, verteidigt sich Spahn: „Das Wort Normalisierung habe ich nicht benutzt.“ Das stimmt. Wie soll man es aber sonst nennen, wenn Spahn fordert, die AfD so zu behandeln wie alle anderen Parteien?
Dann hat Friedrich Merz noch einmal nachgelegt und die Lieferung von Taurus-Raketen in Aussicht gestellt: „Nicht, dass wir selbst in diesen Krieg eingreifen, sondern dass wir die ukrainische Armee mit solchen Waffen ausstatten.“ sagte er im Gespräch mit Caren Miosga.
Olaf Scholz, noch immer amtierender Bundeskanzler, hat das mit schlechter Kommunikation, aber mit guten Gründen immer abgelehnt, weil Deutschland dadurch aus russischer Sicht unmittelbar zur Kriegspartei würde.
III.
Wer die Diskussion nach der öffentlichen Vorstellung des Koalitionsvertrags verfolgt, muss feststellen, dass der Text des Koalitionsvertrags von den unterschiedlichen Beteiligten nicht gleich gelesen und nicht gleich verstanden wird. Von Vertrauen und Verlässlichkeit ist wenig zu erkennen.
Das wiegt umso schwerer als Friedrich Merz in den vergangenen Monaten zweimal sein scheinbar unverbrüchlich gegebenes Wort gebrochen hat. Er hat im Bundestag die Mehrheit für einen Beschluss mit den Stimmen der AfD herbeigeführt. Wenige Tage nach der Wahl hat er Investitionen in Verteidigung und Rüstung einerseits und ein Investitionsprogramm von 500 Milliarden Euro für die Infrastruktur von der „Schuldenbremse“ ausgenommen, die er im Wahlkampf und unmittelbar nach der Wahl noch für nicht verhandelbar erklärt hatte.
Bei entscheidenden Fragen handelt der Kanzlerkandidat von CDU und CSU nach dem Grundsatz: Es gilt das gebrochene Wort. Niemand kann sagen, bei welchem Thema es ihn das nächste Mal überkommen wird. Das ist keine gute Ausgangssituation und keine gute Grundlage für eine auf vier Jahre angelegte Arbeit in einer Bundesregierung. Dass sich die Vorsitzenden von CDU und SPD jetzt duzen, kann Verlässlichkeit und Vertrauen nicht ersetzen.
Deshalb muss man den Koalitionsvertrag umso kritischer lesen. Tut man das, stellt man fest, dass er nicht nur keine angenehme Lektüre ist, sondern eine, die mehr Fragen aufwirft als beantwortet.
Der Koalitionsvertrag ist offenbar nicht das Ergebnis einer Verständigung in der Sache zu den vielen Themen, die dort abgehandelt werden. Er gleicht eher einem trompe l´oeil, einem Artefakt, das die Illusion eines Objekts erzeugen soll, das es gar nicht gibt. Bei der Gestaltung von Decken und Wänden nicht nur in Kirchen ist das grosse(s) Kunst(handwerk), in der Politik ist das grosser Mist.
IV.
Wenn es an Verlässlichkeit und an Vertrauen in führende Personen fehlt, wird umso wichtiger, dass ein Koalitionsvertrag handwerklich sauber gearbeitet ist. Wer den Text als durchschnittlich informierter und interessierter Mensch gelesen hat, sollte wissen, was kommen wird.
Das ist leider nicht der Fall. In Zeile 1627 heisst es: „Alle Massnahmen des Koalitionsvertrags stehen unter Finanzierungsvorbehalt.“
Ernst gemeint bedeutet das, dass man sich auf nichts verständigt hat. Nichts hat Priorität. Nichts ist nachrangig. Alles steht unter dem gleichen Finanzierungsvorbehalt. Damit ist Streit programmiert. So kann niemand vernünftig arbeiten.
Dass man sich auch in der Sache zu vielen Themen nicht verständigt hat, zeigen die vielen Kommissionen und vergleichbaren Gremien, die eingerichtet werden, und von denen manche in illusorisch kurzer Zeit Ergebnisse vorlegen sollen.
Wie wenig sorgfältig am Text gearbeitet wurde, zeigen Aussagen, die – immer unterstellt, sie sind Ernst gemeint – nicht einmal Formelkompromisse sind. Drei Beispiele aus ganz unterschiedlichen Themenfeldern und von ganz unterschiedlicher Bedeutung:
In den Zeilen 2050 bis 2054 heisst es: „Auch die Verwaltungsgerichtsordnung werden wir novellieren… Verwaltungsgerichte sollen sich unter Beibehaltung des Amtsermittlungsgrundsatzes künftig stärker auf den vorgebrachten Parteivortrag und auf eine Rechtmässigkeitsprüfung konzentrieren.“
Was sollen Konzentration auf Parteivortrag und Rechtmässigkeitsprüfung bedeuten, wenn der Amtsermittlungsgrundsatz beibehalten werden soll? Zur Vereinfachung und zur Entlastung der Verwaltungsgerichte wird das bestimmt nicht beitragen. Damit ist noch kein Wort dazu gesagt, was in der Sache richtig oder richtiger ist.
In den Zeilen 2988 und 2989 heisst es: „Wir werden in Abstimmung mit unseren europäischen Nachbarn Zurückweisungen an den gemeinsamen Grenzen auch bei Asylgesuchen vornehmen.“
Dass SPD und CDU/CSU unter „Abstimmung“ ganz Unterschiedliches verstehen, war schon nach Vorlage des Sondierungspapiers klar. Daran hat sich mit dem Text des Koalitionsvertrags nichts verändert. Streit ist hier nicht programmiert sondern schon da.
In den Zeilen 3990 und 3991 heisst es: „Wir entwickeln den Bundessicherheitsrat, im Rahmen des Ressortprinzips, zu einem Nationalen Sicherheitsrat im Bundeskanzleramt weiter.“
Das wäre weltweit der erste „Nationale Sicherheitsrat“, der das Ressortprinzip respektiert. Sinn solcher Gremien ist die Zentralisierung bei der Staatschefin oder dem Regierungschef. Ob das sinnvoll ist, darüber gibt es unterschiedliche Auffassungen. Da muss man sich entscheiden. Weisse Salbe hilft nicht.
V.
Drei Beispiele dafür, wie man einen Koalitionsvertrag nicht schreiben sollte. Keine gute Grundlage für die Arbeit in einer Koalition. Eine Minderheitsregierung von CDU und CSU hätte aber nur wenige Freunde, und wahrscheinlich auch viele falsche. Gegen Neuwahlen gibt es viele gute Gründe.
Angesichts dieser Lage kann man als Sozialdemokrat fast neidisch werden auf die Mitglieder von CDU und CSU, die zum Koalitionsvertrag nicht Ja oder Nein sagen müssen und auch nicht dürfen.
Christoph Habermann hat nach Abschluss des Studiums der Sozialwissenschaften an der Universität Konstanz mehr als dreissig Jahre in der Ministerialverwaltung gearbeitet. Von 1999 bis 2004 war er stellvertretender Chef des Bundespräsidialamts bei Bundespräsident Johannes Rau. Von 2004 bis 2011 Staatssekretär in Sachsen und in Rheinland-Pfalz. Dieser Beitrag erschien zuerst im “Blog der Republik”, hier mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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