Zu viel ist auch nicht gut. Würden Bürger*innen sich zu sicher fühlen, würden sie mglw. unleidlich, selbstbewusster, kritischer, widerständiger; manche kämen gar auf die Idee, Regierung und Staat würden unnötig. Ein Minimum an Furcht und Angst ist also nötig, um Herrschaft zu sichern. Die Bürger*innen wollen eine Regierung, die sie vor Risiken und Gefahren beschützt. Dafür wählen sie sie. Wer das nicht kann, wird abgewählt. Wer es lange nicht begriffen hat, muss es spätestens in der Coronakrise kapieren.
Darum reagieren umgekehrt Politiker*innen aller Parteien so panisch auf die täglich verbreiteten Infektionszahlen. Für Fortbildung in Statistik oder gar Virenmedizin haben sie keine Zeit, müssen sich beraten lassen. Und öffentlich adäquat reagieren. Allein das ist schon eine Kunst, die wahrlich nicht alle beherrschen. Darum sind sie, die meisten von ihnen, auch Wachs in den Händen des sicherheitsindustriellen Komplexes (Militär, Polizei, Geheimdienste, sowie Ausrüsterkonzerne derselben).
Auch dieser Komplex hat kein Interesse an zu viel Sicherheit. Für ihn wäre das eine Wachstumsbremse, eine ständige Gefahr für Macht- und Bedeutungsverlust, für die Beschränkung von Ressourcen (Personal und Etats). Wachstum lässt sich nur erzielen, wenn Gefahren und Risiken, sowie Angst und Furcht davor, wachsen. Darum ist z.B. Terrorismus aller Art so eine Art Stiefbruder des sicherheitsindustriellen Komplexes. 9/11 im Jahr 2001 war ein epochemachendes Geschenk für diese Branche.
Diese Tatsache, so viel darf als sicher gelten, kann, wenn sie von der Politik nicht hinreichend kontrolliert und eingedämmt wird, zu üblen Interessenkollisionen zu Lasten der öffentlichen Sicherheit führen. Die Beispiele dafür sind Legion, die jüngsten und übelsten waren die NSU-Mordserie und ihre langjährige Vertuschung, vor vier Jahren das Breitscheidplatz-Attentat in Berlin, dessen Jahrestag soeben begangen wurde.
Dazu äusserte sich heute morgen Irene Mihalic, Grüne MdB aus Gelsenkirchen im DLF. Ich kenne sie nicht persönlich, weiss aber aus sicheren persönlichen Quellen, dass sie eine Gute ist. Als Ex-Polizistin ist sie nicht so leicht hinter die Fichte zu führen. Und als eine, die nicht nur persönlich glänzen, sondern auch praktisch was verändern will, weiss sie sich höflich und verbindlich, aber in der Sache hart, zu artikulieren. Ich finde das spitze. Von solchen brauchen wir (auch die Grünen) viel mehr.
Wie dick das Brett ist, das Mihalic, Thomas Moser u.a. bohren, das verdeutlicht heute ebenfalls der DLF. Peter Welchering berichtete heute morgen (Audio 4 min) – um 16.30 folgt eine ausführlichere Version – wie Geheimdienste und andere Sicherheitsbehörden in der IT-Branche offensiv Unsicherheit produzieren. Der ganze Apparat betätigt sich an einer Diskursverschiebung: weg von der defensiven Gefahrenabwehr, hin zur Legitimation von Angriff und Aggression. Semantisch ist das nichts anderes als Kriegsvorbereitung. Zugunsten des Partikularinteresses des sicherheitsindustriellen Komplexes wird hier elemantarer technischer Fortschritt und volkswirtschaftliches Wachstum in viel grösserem Masse ausgebremst. In einem Klima von Misstrauen in die Sicherheit von Produktion und Kommunikation lassen sich keine guten Geschäfte machen – ausser für die, deren Kerngeschäft Misstrauen ist.
Welchering hat selbst einen langen biografischen Weg der Erkenntnis zurückgelegt. Auch von solchen Leuten brauchen wir mehr, in Journalismus und Politik.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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