Der 1. Oktober wird ein historischer Tag. Zum ersten Mal wird in Mexiko eine Frau an der Spitze des Staates stehen. Claudia Sheinbaum ist eigentlich Wissenschaftlerin, ihre steile politische Karriere von der Bürgermeisterin zur Präsidentin baute sie in gerade einmal neun Jahren auf. In Mexiko hört man heute überall: „Es ist die Zeit der Frauen“. Dabei ist es für sie noch immer eines der gefährlichsten Länder. Jeden Tag werden neun Frauen umgebracht. Mindestens zwei dieser Morde gelten als Femi(ni)zide – Frauen werden umgebracht, einfach weil sie Frauen sind. Diskriminierung am Arbeitsplatz und sexistische Anmache auf der Straße bleiben Alltag. Es scheint kein Widerspruch zu sein: Mächtige Frauen und eine Macht, die sich gegen Frauen richtet.

Dass Frauen, wenn sie an der Macht sind, nicht unbedingt eine humanere Politik machen als ihre männlichen Kollegen, zeigte sich in den letzten Jahrzehnten oft genug: von Margaret Thatcher im Vereinigten Königreich bis Dina Boluarte in Peru. Und auch Angela Merkel, die zwar in den Medien als „Mutti“ inszeniert wurde und heute als Flüchtlingskanzlerin in Erinnerung ist, hat sich spätestens seit 2016 für konsequente Abschiebungen eingesetzt.

Ein „spezifisch weiblicher Führungsstil“ ist, wenn überhaupt, eine Erfindung des kapitalistischen Systems, das ständig nach effizienteren Formen der Akkumulation strebt.

Wir wollten in diesem Schwerpunkt verstehen: Wie hängen die Kategorien Frauen und Macht zusammen? Wie erobern, verlieren und verändern Frauen Macht? Wie richtet sich Macht gegen Frauen? Wie verändert die Macht, was wir unter der Kategorie „Frau“ verstehen – und wie verändern Frauen, was wir unter „Macht“ verstehen? Es geht uns um ganz unterschiedliche Formen von Macht: Macht von unten und von oben, die Macht des Kollektivs und der Einzelnen, die Macht der Veränderung und der Beharrung.

Deswegen stellen wir so unterschiedliche Frauen vor wie die reaktionäre Diktatorentochter Zury Ríos Sosa (Guatemala), die unermüdliche Revolutionärin Dora María Téllez (Nicaragua) und die Schwarze Arbeitertochter Beatriz do Nascimento (Brasilien), die mit ihren Theorien die Geschichtswissenschaft herausforderte. Denn es geht uns nicht darum, Heldinnengeschichten zu erzählen. Das neoliberale Credo „Powerfrauen können alles schaffen, wenn sie sich nur anstrengen!“ ist ein falsches Versprechen. Mehrere Artikel der Ausgabe sprechen von der besonderen Repression gegenüber Frauen: Vor allem, wenn sie Widerstand gegen die Machtapparate leisten, erleben sie Vergewaltigungen, werden in Isolationshaft gesteckt und als Huren erniedrigt, in vielen Gesellschaften noch immer das schlimmste Stigma.

Selbstermächtigung ist meist ein kollektiver Akt. Wenn Frauen ihre Ohnmacht überwinden wollen, tun sie sich zusammen, zum Beispiel wie in den Geschichten in diesem Heft: in Gewerkschaften, als afrokolumbianische Frauencommunity oder in Organisationen wie den legendären Madres de Plaza de Mayo (Argentinien). Wenn Frauen andererseits eine Machtposition im Staat erobern, sind sie dort meist einsam. Von Machos umgeben, haben sie wenig Macht gegenüber den Mechanismen des Kapitalismus und den Spielregeln repräsentativer Demokratie. Sie müssen sich ganz anders behaupten als ihre männlichen Kollegen – und werden oft nicht einmal von anderen Frauen ernst genommen, wie die Geschichte der Ex-Justizministerin Casimira Rodríguez (Bolivien) zeigt. Das gilt umso mehr, wenn die Frauen, wie Casimira, aus einer Unterklasse stammen und indigen sind. Für Fehler werden sie stärker zur Verantwortung gezogen, da Männern mehr Kompetenz zugeschrieben wird – nur, weil sie Männer sind.

Wenn Frauen in politische Ämter gelangen, sind die Erwartungen an einen radikalen Umschwung in der bisherigen Politik oft riesig: von den haitianischen Premiers Claudette Werleigh und Michèle Pierre-Louis über Chiles ehemalige Präsidentin Michelle Bachelet bis zu Claudia Sheinbaum heute. Vielleicht ist der Erwartungsdruck, der auf ihnen lastet, ein überzogener. Denn die eingefurchten Wege der Macht von oben sind schwer zu verlassen. Macht ist nicht, was die Einzelne tut, sondern ein über die Jahrhunderte gewebtes Netzwerk aus (politischen) Beziehungen, meist von Männern. Ein Korsett vielleicht. Die Zapatistas in Mexiko jedenfalls sind seit 40 Jahren der Meinung, dass der Wandel – und damit eine radikale Änderung der Geschlechterverhältnisse – nicht durch oder über oder gegen die Macht erfolgen kann, sondern nur ohne sie. Wir stellen zwölf Biografien vor, die zeigen, wie komplex sie ist, die Frage nach den Frauen und der Macht.

PS Wir stellen heute eine neue Rubrik vor: „Die Redaktion empfiehlt“. Jeden Monat trendige und abseitige Tipps zum Lesen, Hören oder Schauen von der ila-Redaktion. Viel Spaß beim Entdecken und gebt uns gerne Feedback, wie ihr die neue Rubrik findet!

Dieser Beitrag ist das Editorial und eine Übernahme aus ila 478 Sep. 2024, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Weitere Texte aus dieser Ausgabe folgen in den nächsten Tagen.

Über Informationsstelle Lateinamerika:

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