Die Türkei ist auf dem Weg in einen Willkürstaat. Die Entlassungen und Verhaftungen von Staatsangestellten folgen derzeit so schnell aufeinander, dass man kaum beim Notieren mitkommt. 21.000 Lehrern privater Schulen soll die Lizenz entzogen worden sein, 15.000 Lehrer der staatlichen Schulen entlassen, 13.000 Beamte ebenso, Provinzgouverneure und deren Mitarbeiter abgesetzt und festgenommen. Polizisten und Mitarbeiter des Geheimdienstes durchsuchten Lehrstühle von Universitätsprofessoren. Nach der gestrigen Entlassung von angeblich 6.000 Polizisten erklärte Ministerpräsident Yildirim, eine Sicherheitslücke entstehe dadurch nicht, die Bürger könnten sich bewaffnen und das Recht selbst in die Hand nehmen. Erdogan und er erklärten wiederholt, man werde jetzt einen “wichtigen Schlag” im Parlament vorbereiten. Was er meint, liegt auf der Hand: Zwar hat seine AKP keine Zweidrittelmehrheit, um auf dem Wege einer Verfassungsänderung die Todesstrafe beschließen zu lassen, aber er könnte die nötigen 330 Stimmen zusammen bekommen, um zu diesem Thema ein Referendum zu veranstalten.

Ein Mitarbeiter des Goethe-Instituts vor Ort berichtete im Deutschlandfunk, die Autokorsos der aufgeputschten AKP-Anhänger machten inzwischen Jagd auf vermeintliche Anhänger der Gülen- Bewegung und bedrohten und belästigten junge Frauen und Männer in den liberalen Vierteln in Istambul oder Ankara. Alle, die sich westlich kleiden, offene Haare und Miniröcke tragen und in den Straßenrestaurants Alkohol trinken, würden schikaniert und angegriffen. Der islamistische Mob zeigt nicht nur die türkische Nationalfahne, sondern auch die Fahne des IS. Außerdem bedrohte Yildirim heute in Interviews alle westlich denkenden Intellektuellen. Ein Zynismus ist seine und Erdogans wiederholte Behauptung, dies sei “ein Sieg der Demokratie”.

Das Ende eines Rechtstaats

Die Türkei, die sich ohnehin in der Vergangenheit mit Verfassungsrechten schwer getan hat, ist kein Rechtsstaat mehr. Egal wie viele Verhaftungen und Suspendierungen stattfinden – es gibt keine Gewaltenteilung. Die Regierung verhaftet willkürlich und ohne gesetzliche Grundlagen. Die Entlassung von 2.700 Richtern, einem Viertel der Richterschaft, sogar zwei Verfassungsrichtern, ist ein Übergriff auf die Justiz. Es ist die zweite “Säuberung” dieser Art, nach 2013, in Polizei, Staatsapparat, Bildung und Militär. Die offensichtlich erfolgte Aufstellung von “Schwarzen Listen” in diesem Umfang erinnert an die “Säuberungen” der stalinistischen Ära in der ehemaligen Sowjetunion. Der Eingriff in die Universitäten ist ein Angriff auf die Freiheit von Forschung und Lehre, die Aufforderung zur privaten Bewaffnung ist auch ein Zeichen der Auflösung der Staatsgewalt zugunsten von marodierenden Banden der Selbstjustiz. Bereits am Wochenende sind einzelne Angehörige des Militärs Opfer von Lynchmorden geworden. Es gibt keine freie Presse mehr die bis auf Cumhuriyet und einige wenige kleine Sender enteignet oder gleichgeschaltet worden ist. Es gibt keine Meinungsfreiheit und keine Religionsfreiheit. Die Polizei und der Geheimdienst foltern nach bewährtem Muster und die AKP bewaffnet sich systematisch.

Totalitäre Machtübername

Die gegenwärtige Strategie der Regierung Erdogan ist totalitär, indem sie sich gegen alle richtet, die nicht der AKP und ihren Zielen folgen, er versucht, alle Bereiche des Staates und der Gesellschaft zu kontrollieren und zu beherrschen. Dabei trägt sein Vorgehen gegen die Gülen-Bewegung, die wie er islamisch-konservativ ist, Züge von Paranoia. Sie ist populistisch, weil er den Massen suggeriert, die Gegner Erdogans seien Feinde des Volkes, um es zu mobilisieren. Und sie ist radikal islamistisch, weil sie sich gegen westliche Kultur, Freiheit, Kleidung, Frauenrechte, Bildung und Intellektualität richtet. Die kurdische HDP wird als Terrororganisation bezeichnet, Aleviten, Christen und andere Minderheiten werden diskriminiert und behindert, in der Osttürkei verfolgt. Die islamistischen Symbole und Praktiken der Gewalt und Einschüchterungen breiten sich rasend schnell aus. Das ist ein Unrechtsregime.

EU-Reaktion verhalten

Die bisherigen Reaktionen der EU und der Bundesregierung sind verhalten und nicht spektakulär. Das hat gute Gründe. Denn Realpolitik ist komplizierter, als sie sich bayerische oder altkommunistische Traumtänzer zurecht zimmern. Seehofer und Wagenknecht waren sich heute in den Forderungen einig, die deutschen Soldaten aus Incirlik zurück zu ziehen und der Türkei das Ende des Beitrittsprozesses zur EU zu erklären. Wer solche Forderungen erhebt, sollte sie bitte mal vorher zu ende denken. Ob Erdogan derzeit überhaupt noch ernsthaft interessiert ist, Mitglied der EU zu werden, ist eher fraglich. Er weiß, dass die Todesstrafe “NoGo” – Kriterium einer EU-Mitgliedschaft ist und fordert sie trotzdem. Nach 15 Jahren Wartezeit und der vielfältigen ökonomischen Verflechtungen insbesondere mit Deutschland glaubt er inzwischen wohl nicht zu unrecht, darauf verzichten zu können.

Luftwaffenstützpunkt haltbar?

Die deutschen Tornados bekämpfen von Incirlik aus den IS, den Erdogan lange heimlich mit Waffenlieferungen unterstützt und dessen Ausbildungslager in der Türkei er geduldet hat. Ein Rückzug könnte durchaus in seinem Interesse sein. Diese Flüge könnten zwar technisch auch von einem oder zwei Flugzeugträgern der USA im Mittelmeer geleistet werden, aber das würde bedeuten, dass Merkel sich von Obama einen Flugzeugträger mietet oder Deutschland die horrenden Kosten der NAVY übernimmt – nicht besonders wahrscheinlich. Die Türkei ist seit 50 Jahren Partner der NATO und die hat gegen aller vier Militärputsche nie etwas unternommen. Warum sollte das angesichts der angespannten Situation im Kampf gegen den IS und Assad anders sein? Mit welchen Argumenten sollte eine NATO die Türkei Erdogans ausschließen, die mit den undemokratischen, korrupten und von Oligarchen beherrschten Regimen in der Ukraine und in Georgien gemeinsame Manöver in Polen veranstaltet? Lächerlich.

Wirtschaftssanktionen mit Augenmaß

Wirtschaftssanktionen der EU? Streichung von Subventionen? Die verbliebenen Kooperationen z.B. in der Wissenschaft wird die EU tunlichst nicht einstellen, weil es die Intellektuellen treffen würde, die unter Druck von Erdogan stehen. Wirtschaftliche Kooperation behindern, Devisenkontrolle verstärken? Das träfe vor allem die Deutschen mit türkischem Pass, die mäßigend wirken könnten. Andererseits könnten solche Maßnahmen Menschen, soweit sie keine Erdogan-Anhänger sind, ihm erst in die Hände treiben. Sperren von Subventionen und Hilfen der EU: Das Flüchtlingsabkommen wird von der Türkei treu eingehalten – seine Aufkündigung stellt ein hohes Risiko dar. Blieben die Aussetzung der Visafreiheit und natürlich ein Stopp von Waffenlieferungen. Isolation und der Abbruch von Kontakten und Dialogen ist gerade in der aktuellen, angespannten Situation das falsche Signal.

Nötigungen unterbinden

Natürlich dürfen Rechtsverletzungen wie die Nötigung von Abgeordneten in Deutschland nicht ungeahndet bleiben. Wenn Cem Özdemir und andere meinen, ihre Behinderung der Einreise und Bedrohung seien das kleinste Problem, liegen sie falsch: die Nötigung eines Verfassungsorgans und dem gehören unsere Abgeordnete an, ist eine Straftat übrigens von ganz anderer, ernsthafter Qualität als die angebliche Beleidigung von Erdogan durch einen Kabarettisten. Dagegen sind diplomatische Initiativen und eine Gesetzesänderung erforderlich.

Zwickmühle der Demokratie

Alle anderen Formen von Sanktionen oder Gegenmaßnahmen würden entweder die falschen treffen oder gegen unsere eigenen verfassungsrechtlichen Grundprinzipien verstoßen – so z.B. ein Redeverbot für Erdogan in Deutschland. Natürlich sind kosmetische Korrekturen, wie z.B. die ausschließliche Ausbildung von Imamen in Deutschland auch für Moscheen der “DITIB” denkbar. Aber schon der Vorschlag, dass etwa in diesen Moscheen nur noch auf Deutsch gepredigt werden sollte, würden sich schnell als mit der Religionsfreiheit nicht vereinbar erweisen – richteten sie sich doch auch gegen Katholiken, die Messen auf Latein lesen, Juden, die die Tora auf Hebräisch lesen der orthodoxe Christen, die russisch oder griechisch beten wollen.

Nerven behalten

Im Umgang mit dieser Krise gilt es, Nerven zu behalten und genau wie im Falle Russland auf eine Politik des “Wandels durch Annäherung” zu setzen. Nicht weniger, sondern mehr wirtschaftliche Verflechtung, mehr Zusammenarbeit sowie die Stärkung der Opposition sind das Gebot der Stunde. Etwa durch einen Besuch des Bundesaußenministers bei der Regierung, aber auch der HDP und den anderen Oppositionsparteien. Durch Besuche von Amnesty und anderen Flüchtlingsorganisationen auch aus Deutschland bei den Inhaftierten. Durch Rechtshilfeorganisationen und stille Diplomatie des Auswärtigen Amts. Durch die Übernahme von Partnerschaften deutscher Unternehmen für solche, die als Gülen nahestehend denunziert und diskriminiert werden. Und wir müssen uns darauf einstellen, viel mehr politische Flüchtlinge aus der Türkei aufzunehmen und brauchen möglicherweise mehr Polizei, um diese vor den hier lebenden AKP-Anhängern zu schützen.

Besonnen reagieren

Ansonsten ist es notwendig, besonnen zu reagieren und Politik mit Augenmaß zu betreiben. Denn Erdogans politischer Amoklauf beinhaltet für ihn große Risiken:

–           Die Schwächung des Staatsapparats und die Aushöhlung der Institutionen in der Türkei sind auch ein Syptom des Zerfalls der Staatsmacht – seiner Staatsmacht.

–           Der marodierende islamistische Mob, den Erdogan auf die Straßen geschickt hat, ist nicht wie die gut organisierten Bolschewikii in der Lage, die zerschlagenen Staatsstrukturen auszufüllen.

–           Die Zahl der entlassenen und suspendierten Eliten in Staat, Polizei, Bildung und Justiz ist zu groß, um ad hoc durch AKP-treue Handlanger ersetzt zu werden, es gibt keine der KPDSU oder SA ähnlichen Organisationen, die diese gezielt ersetzen könnte. Ob sich sein Staat auf fanatisierte Dummbeutel im 3er BMW mit Fahne in der Hand stützen kann, ist fraglich.

–           Es erscheint zweifelhaft, wie lange Erdogan in den kommenden Jahren das wirtschaftliche Desaster der Türkei, 59 Milliarden € Staatsverschuldung, wird verschleiern können. Er selbst behauptet, der Staat sei schuldenfrei – diese Lüge, das Ausbluten des Tourismus und den drohenden Zusammenbruch der Immobiliengeschäfte des AKP- Netzwerks wird er vor der Öffentlichkeit trotz Pressezensur nicht lange verbergen können.

–           Im Zeitalter der Informationsgesellschaft ist es mehr als unwahrscheinlich, dass nicht private Hacker, die NSA oder das FBI oder Wikileaks über Dokumente, Mitschnitte von Telefongesprächen oder andere digitale Dokumente verfügen, die die Machenschaften der korrupten Erdogan- Clique ganz oder zumindest teilweise veröffentlichen werden.

Erdogans panislamische Phantasien

Erdogan mag im Augenblick in einer Art Machtbesoffenheit, in die er sich selbst hinein gesteigert hat, alle möglichen Exzesse unternehmen, um sich an seinem Traum vom islamischen Sultanat Türkei unter seiner Führung und dem panislamischen, sunnitischen Staat von Casablanca bis ins Zweistromland besinnungslos zu phantasieren. Die Realität der modernen Informationsgesellschaft, der Globalisierung und die divergierenden Interessen der NATO, der EU und der anderen internationalen Partner, auf die die Türkei angewiesen ist, werden ihn schneller auf den Boden der Realität zurückbringen, als ihm lieb sein kann. Wikileaks hat eine erste Veröffentlichung von Dokumenten angekündigt. Schaunmermal.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net