Gestern Abend ist in Berlin ein Sattelzug in einen Weihnachtsmarkt gefahren und hat nach bisherigen Erkenntnissen zwölf Menschen getötet und achtundvierzig verletzt. Das ist schlimm, wenn dies absichtlich geschehen ist, noch schlimmer. Das Mitgefühl mit den Opfern und ihren Angehörigen sowie die hoffentlich baldige Genesung der Verletzten sind das Wichtigste. Dies wäre die richtige Reaktion, wenn wir nur im mindesten ernst nähmen, was die Weihnachtsbotschaft des christlichen Glaubens meint. Barmherzigkeit und Mitleid mit den Opfern und ja, auch mit dem Täter, egal wer er ist. Denn wie fehlgeleitet, wie irrsinnig und weit weg von jeder Menschlichkeit muss ein Mensch gekommen sein, der so etwas – möglicherweise, wir wissen es immer noch nicht – mit Absicht getan hat? Warum schreibe gerade ich als Atheist so etwas? Weil ich trotzdem glaube, dass ein Weg der inneren Stärke und Sicherheit von uns allen, nur über Mitleid und Barmherzigkeit erlangt werden kann und nicht über Hass und Gewalt. Der Gedanke kam mir, als ich heute Morgen das “Handelsblatt Morning Briefing” las, in dem Herausgeber Steingart von “Zivilisationsfinsternis” und einer “weltweiten Serie des Unheils” schrieb und die Frage stellte, “ab dem wievielten Anschlag der Krieg” beginnt?

Als vor einigen Jahren in Köln ein Raser auf dem Ring in eine Menschenmenge fuhr und ich weiß es nicht mehr genau, ich glaube, fünf Menschen tötete, darunter den Sohn den Oberbürgermeisters Schramma, war das eine furchtbare Tat. Aber niemand kam deshalb auf die Idee, von der Zivilisationsfinsternis und weltweitem Unheil zu faseln. Nein, Herr Steingart, durch die Tat, die ja auch nur einfach ein betrunkener Trucker begangen haben könnte, hat unsere Zivilisation keinerlei Schaden erlitten, wenn wir uns nicht in irrationale Ängste und Hass hineinsteigern und in ewigem Reflex neue schärfere Gesetze, noch mehr Polizei fordern und gar von “Krieg” reden. Eine solche Tat verändert Sie und mich überhaupt nicht, schon gar nicht unsere Gesellschaft, wenn wir es schaffen, in dem Täter auch einen Menschen zu sehen, so durchgeknallt, hasserfüllt und bemitleidenswert er sein mag. Der Krieg, lieber Gabor Steingart, beginnt in den Köpfen der Menschen, die irrationale Angst empfinden, mit dieser Angst allein gelassen werden oder gar noch durch Bilder und Berichte so richtig hinein gesteigert werden. Muss dann die Regierung ihre Hilflosigkeit bekennen, weil es ja so ist, dass es absolute Sicherheit nicht gibt, dann beginnen viele nach Schuldigen zu suchen und zu hassen, nach dem “starken Mann” zu rufen. Populisten, autoritäre (Ver-)führer und alle Hassbotschafter profitieren davon.

Nicht solche Taten verändern etwas, sondern die falsche Reaktion auf solche Ereignisse. Sie ist es, die unserer Gesellschaft verändern kann, sodass Hassprediger Beifall spenden, weil sie erreicht haben, was sie wollen. Und da haben sich die Medien gestern mit Panikmache wieder einmal gegenseitig übertroffen. Das ARD Fernsehen brachte dünne Nachrichten, Bilder der Ruhe nach dem Ereignis, dass alle Berliner gefasst reagierten und stellte den Unfall oder die vorsätzliche Tat – ob sie es gewesen ist, wusste zu diesem Zeitpunkt niemand – sofort in den Zusammenhang mit terroristischen Anschlägen von Charlie Hebdo über Nizza bis nach USA und Aleppo. In seiner Hilflosigkeit zitierte des Fernsehen am laufenden Band Facebook: Haben wir nicht vor wenigen Tagen noch diskutiert, dass dort die meisten Fake- Nachrichten und ganze Desinformationskampagnen stattfinden? Leute, habt Ihr gar nichts verstanden?

Das ZDF, Marietta Slomka wuchs über sich hinaus, sprach noch bis in die späten Abendstunden sachlich immer wieder davon, dass man nicht wisse, ob es sich um einen Anschlag handle. Allerdings kam auch dort mangels Informationen mit zunehmender Zeit immer wieder “Terrorexperte” Thevesen, irgendwann redundant zu Wort. Nach dem Motto: Wenn die ARD nicht aufhört, hören wir auch nicht auf. Besser machte es das nicht.
RTL brachte als erstes die Bilder vom Ort des Geschehens, wusste am wenigsten und ließ die Reporter am meisten spekulieren, natürlich über Terrorismus – und so ging es in allen Kanälen. Aus “Sicherheitskreisen” verlautete, es könne sich um einen Anschlag gehandelt haben, Bundesjustizminister Heiko Maas prostituierte sich auf “Twitter” mit der umwerfenden Nachricht, dass die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen übernommen habe, was bei einem Unfall oder Anschlag dieser Schwere überhaupt nichts aussagt, weil bei bloßem Terrorverdacht die BAW immer den Fall an sich zieht. Niemand wusste irgend etwas substanzielles, aber der Abend wurde mit Null-Nachrichten, Terrorismusfurcht und Panikmache trefflich gefüllt. Ich sehe schon die Umfrager des Politbarometer losrennen und nach der Terrorfurcht der Deutschen fragen, die uns dann zwei Wochen später vor Augen nochmals führt, wie ängstlich wir alle sind. Und es wird sich sicher ein Demagoge finden, der kommentiert, dass dieser Anschlag Deutschland verändert habe. Und ich wARTE darauf, dass Horst Seehofer wieder die Obergrenze für Flüchtlinge fordert. Wenn wir diese Spirale der Panikmache und des Rassismus nicht durchbrechen, verändert sich unser Land wirklich.

Als ich von dem Ereignis im Fernsehen Kenntnis bekam, rief ich natürlich in Sorge meine Tochter an, die in Berlin studiert und als sie nicht antwortete, befiel mich sekundenlang eine Phantasie: Was tust Du, wenn Dein geliebtes Kind unter den Opfern ist? Mobilfunk sei dank meldete sie sich, sagte, dass sie noch gar nichts davon gehört hatte. Eine Freundin, von der ich weiß, dass sie beruflich mit Weihnachtsmärkten zu tun hat, rief zurück – sie war gegen 18.00 auf besagtem Markt gewesen, aber zum Glück unversehrt. Beide waren erstaunt über die Berichterstattung. Wen ich auch in meinem Umfeld fragte, die Reaktion war mit wachsender Entfernung zu Berlin eine immer heftigere und besorgtere. Was wäre eigentlich gewesen, wenn die “Tagesthemen”, “Heute” und andere nur so viel berichtet hätten, wie wirklich zu berichten war? Also etwa zwei Minuten dreißig über die Fakten, die man wusste und dann einfach gewartet hätte, bis die Ermittlungsbehörden ihre Arbeit gemacht haben und die Ergebnisse vorstellen? Heute, morgen, vielleicht erst übermorgen oder nach Weihnachten? Wir hätten nicht weniger gewusst, als jetzt, müssten weniger Furcht vor Nachahmern haben und alle vielleicht einen kühleren Kopf.

Ist denn die Einsicht so schwer, dass wir doch letztlich alle wissen, dass es keine absolute Sicherheit geben kann? Dass das Leben ein Risiko ist, das jederzeit durch Blitzschlag oder einen herabfallenden Dachziegel jäh beendet werden kann? Dass dieser Lastwagenfahrer, selbst wenn er denn ein Terrorist gewesen sein mag, doch menschlich nichts als eine bemitleidenswerte, arme Sau ist, die sich zweifellos von jeder Zivilisation, von jedem menschlichen Mitgefühl entfernt hat – aber deswegen müssen wir es doch nicht ihm gleich tun? Jesus soll, glaubt man der Bibel, genau das gelehrt haben. Nicht auf Hass und Unmenschlichkeit mit gleicher Münze zu reagieren. Und er hat gesagt: “Fürchtet Euch nicht”. Mir als bekennendem “Heiden” gefällt das sehr gut. Ich bin traurig über die Opfer, ich möchte, dass den Angehörigen der Toten und den Verletzten Trost zukommt, aber hassen werde ich den Täter nicht. Ich sehe weder meine Sicherheit, noch unsere Zivilisation, gar unsere Verfassung und Liberalität durch solche Leute nicht in Gefahr. Nur durch die, die schon immer eine weniger freie Gesellschaft wollten, die autoritäre Strukturen errichten wollen und die, die hassen – auf Facebook oder anderswo – und sich damit mit dem Täter gemein machen. Deshalb gehe ich weiter auf den Weihnachtsmarkt und ich bin entschieden für frohe, für barmherzige und achtsame Weihnachten. Jetzt erst recht!

“Meinen Hass bekommt ihr nicht!” zitiert Heribert Prantl (SZ) heute einen französischen Journalisten, der beim Attentat in Paris im vorigen Jahr seine Frau verlor.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net