Von Antje Vollmer und Ludger Volmer

Es war eine steile, mit sich überschlagender Stimme vorgetragene These von Anton Hofreiter, dem Fraktionsvorsitzenden der Grünen: „Wir sind jetzt die einzige Partei links der Mitte, verdammt noch mal!“ Sie traf das Gefühl und die Sehnsucht der Delegierten auf dem Nach-Jamaika-Parteitag, sie wurde geradezu gefeiert. Aber sie war und ist Selbstbetrug.

Die Grünen waren einmal die dritte politische Kraft im Land, damals mussten sie über ihre Verortung im Parteienspektrum nicht einmal nachdenken. Sie waren unangepasst, provokativ, in keine Schublade passend, mit radikalen Ideen zur Umgestaltung von Wirtschaft, Markt und Gesellschaft. Eine Partei von modernisierungskritischen Modernisierern, von EU-skeptischen Europäern, antikapitalistischen Marktwirtschaftlern, sozialökologischen Globalisierungsgegnern und regional-verwurzelten Internationalisten.

Heute nehmen sie den sechsten Platz im Bundestag ein. Für die Gründergeneration und auch für ihre Wähler haben sie kaum noch etwas mit den Schlüsselideen ihres legendären Aufbruchs zu tun. „Ökologisch, sozial, basisdemokratisch und gewaltfrei“ wollten sie sein. Diese einstigen Grundwerte sind zerbröselt und abgeschliffen, einige sind ganz verschwunden.

Gutbürgerlich geworden

Am sichtbarsten ist noch die Ökologie, das Jahrhundertthema und Alleinstellungsmerkmal der grünen Bewegung. Ihre Mandatsträger vertreten sie heute so engagiert wie reduziert. Nicht mehr die ganzheitliche Kritik an der Ausbeutung von Mensch und Natur bestimmt ihr Denken. Im Zentrum steht die Entwicklung von Umwelttechnik als grüner Beitrag für den „Exportweltmeister Deutschland“, ergänzt um den moralischen Appell an die Verbraucher, das Fehlen einer wirklich umfassenden ökologischen Politik doch bitte durch individuelles korrektes Verhalten zu korrigieren.

Die Basisdemokratie bezeichnet vielleicht den größten gesellschaftlichen Erfolg der Grünen, war sie doch das Boot, mit dem eine Vielzahl von Bürgerinitiativen, Menschenrechtsgruppen und emanzipatorischen Bewegungen in die Sichtbarkeit transportiert wurde und so öffentliche Mitsprache, Karrierechancen und Gestaltungsmacht erreichte.

Die Frauenbewegung, Schwule, Migranten und andere Minderheiten bekamen gesellschaftliche Relevanz und Einfluss. Heute ist der emanzipatorische Reformimpuls Teil des allgemeinen gutbürgerlichen Linksliberalismus, der bis ins Kanzleramt reicht – die Grünen nun geben ihm manch merkwürdigen Dreh, vom Gender*sternchen bis zur multikulturellen Freude am Kopftuch.

Die neue „Anti-Parteien-Partei“

Der Blick auf die notwendige Bedingung jeder tiefgreifenden Liberalisierung, die kollektive Vernunft und das richtige Gespür für gesamtgesellschaftliche Reformbereitschaft, droht abhanden zu kommen. Überhaupt: Sind die Grünen eigentlich noch neugierig auf die realexistierende Gesellschaft, in der sie leben?

Bei der Gründung der Grünen 1979/1980 war durchaus umstritten, ob das Soziale als eigener Grundwert der Partei fixiert werden sollte. Es wurde heftig um die Vorstellung von Gesellschaft gerungen. Anfangs war offen, ob die Grünen ein linkes Emanzipations- oder ein konservatives Milieuprojekt würden.

Die pro-soziale Grundsatzentscheidung lockte dann zahlreiche linke Akteure aus der 1968er Tradition bis zu den K-Gruppen in die sich gründende neue „Anti-Parteien-Partei“ (Petra Kelly). Sie unterzogen sich – wenn auch oft mühsam und sich sträubend – einem gemeinsamen Lernprozess mit wertkonservativen Umweltschützern. Linke machten mit, weil –und nur weil – sie die Möglichkeit sahen, so in dem anschwellenden Massenprotest auch ihre Vorstellung von der sozialen Frage unterzubringen.

Bündnis und Interessenausgleich

Die Grünen waren links, ohne eine traditionelle Linkspartei zu sein. Es ging eher um kulturelle Avantgarde, um das Selbstverständnis als Vordenker und Experimentierlabor der Gesellschaft. Der Heimatbegriff, wie ihn Robert Habeck heute verwendet, war ihnen nicht fremd. Im dialektischen Denken war auch Bewahrenswertes aufgehoben.

Die Verbindung von ökologisch und sozial wurde in den 80er Jahren zum Erfolgsschlager der Grünen. Auf der Grundlage eines „ökologisch-solidarischen Gesellschaftsvertrags“ sollten ein „ökologisch-soziales Umbauprogramm der Industriegesellschaft“ und eine „ökologisch-soziale Weltwirtschaft“ entstehen. Das Konzept verlangte ein Bündnis und einen Interessenausgleich zwischen ökologisch und emanzipatorisch interessierten Mittelschichten und den wirtschaftlich Benachteiligten.

Indem die Existenzfragen der Unterschichten zentrale Bedeutung erhielten, sollten diese überhaupt erst in die Lage versetzt werden, die ökologische Frage als Existenzfrage der Menschheit anzuerkennen.

Falsche Konsequenzen

Ökologische Orientierung mit solidarischen Strategien zu verbinden, war das Grundmotiv für eine rot-grüne Regierungsbeteiligung; leider kam Rot-Grün im Bund aber acht Jahre zu spät. Unter dem Schock der Globalisierung, Digitalisierung und der neuen Welt-Unordnung nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde „Bereitschaft zum Pragmatismus“ nun zum neuen kategorischen Imperativ ausgerufen.

Die Grünen entdeckten, dass sie längst der bildungsbürgerlichen Mittelschicht angehörten, in die auch viele Bürgerrechtler aus den neuen östlichen Demokratien strebten. Sie zogen daraus die falsche Konsequenz, nun auch vorrangig für diese vermutete Mitte und ihre Interessen Politik zu machen. Die Zustimmung zu Gerhard Schröders Agenda-Politik war dafür das sichtbarste Ergebnis. Das solidarische Bündnis von Mitte/Unten wurde aufgegeben zugunsten des liebevoll gepflegten Dialogs Mitte/Oben. Auf den Parteitagen wurden nicht mehr Dritte-Welt-Aktivisten eingeladen, sondern die Chefs von Weltkonzernen.

Grünen-Pazifismus überholt

Die Parole, linke Politik sei „Ideologie“ und in den sozialistischen Staaten endgültig gescheitert, führte zu einer erstaunlichen Anpassung an die populären Ideen des Neoliberalismus mit seinen Deregulierungen, Privatisierungen und dem Abbau öffentlicher Daseinsvorsorge. Das Ergebnis: Um die Jahrtausendwende waren die Grünen in ihrem Funktionärskader so gentrifiziert wie die Stadtteile, in denen sie bevorzugt wohnten.

Sie setzten sich lieber für Spitzenpositionen von Frauen in Dax-Konzernen ein als für die Lebensbedingungen alleinerziehender Mütter mit Hartz IV. Noch schlimmer erging es dem vierten Grundwert, der Gewaltfreiheit. Dabei ist es eine historische Wahrheit, dass die Grünen ohne die Friedensbewegung und ihre Leitfigur, Petra Kelly, es niemals geschafft hätten, 1983 zum ersten Mal in den Bundestag einzuziehen.

Damals unterstützten dieses Ziel Hunderttausende: Gewerkschafter, Kirchen, linke Sozialdemokraten, Atomkraftgegner, Elterninitiativen. Heute wird der Pazifismus von führenden Grünen für überholt angesehen und fast verächtlich gemacht.

Menschenrechte und Militär

Die heutigen Mandatsträger sind in der Mehrheit Anhänger der sogenannten menschenrechtsgestützten Außenpolitik der Ära Merkel, die in Wahrheit eine moralgestützte Sanktions- und Aggressionspolitik ist. In den Medien findet die Kursänderung breite Unterstützung. Für die Grünen jedoch ist dieser Orientierungsverlust bitter, da die Menschenrechte zu den zentralen Heiligtümern ihrer Gründerzeit gehörten, als Nelson Mandela, Martin Luther King und Mahatma Gandhi ihre geachteten und geliebten Vorbilder waren.

Heute gerät ihnen der Kampf für Menschenrechte zu oft zum Akzeptieren militärischer Einsätze mit ihren bekannten Kollateralschäden. Diese werden nicht geleugnet, aber missionarisch legitimiert. Wenn es um den edlen Kampf um „unsere Werte“, um das Glücksversprechen des Westens, die individuelle Freiheit, geht, gelten Menschenrechte mehr als Menschenleben. Die Wunden der Auseinandersetzung um Krieg und Frieden prägen die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie wie die der Grünen.

Friedenssicherung im globalen Maßstab

Unklarheiten in dieser Frage waren immer auch die Ursache für große politische Niederlagen. Die Sozialdemokraten wurden im Laufe der Geschichte so von zentralen Kritikern des Kapitalismus mit enormer internationaler Ausstrahlung zu seinen verdienstvollsten Sozialarbeitern. Die Grünen wurden zu Lieferanten einer Moral, die das Führen von Kriegen wieder denkbar macht.

An der Klärung dieser Grundsatzfrage aber entscheiden sich die Zukunftschancen jeden zukünftigen linken Projektes – in welcher Form auch immer es versucht werden wird. Links sein ist nicht eine Frage des Milieus, der Moral oder der radikalen Rhetorik. Links sein heißt heute, die Friedenssicherung und Überlebensfähigkeit der Gesellschaft im Inneren und im globalen Maßstab zum zentralen Ziel zu wählen.

Der Verlust des Gespürs

Politischer Pazifismus ist die zentrale Lehre aus dem Ende des Kalten Krieges. Ohne die Entspannungspolitik und ohne die Gewaltfreiheit der Bürgerproteste in Ost und West, aber auch ohne die Vernunft der sowjetischen Führung und ihre Hoffnungen auf einen geachteten Platz in Europa hätte der Kalte Krieg nie geendet. Frieden schließt man mit Feinden, nicht mit Freunden. Friedenspolitik beginnt mit dem Kampf gegen verfestigte eigene Feindbilder, mit dem Nachdenken darüber, wo die andere Seite vielleicht Recht hat und die eigene falsch liegt.

Die Grünen müssen wieder lernen, sich nicht für die „westliche“ Sicht zu erhitzen, sondern die Meta-Ebene zu suchen, um verschüttete Gemeinsamkeiten freizulegen, Kompromisse zu finden, Vertrauen aufzubauen und einen gewaltfreien Modus Vivendi für Unterschiede zu finden, mit denen sich leben lässt. Politischer Pazifismus weiß, dass eine falsche Bedrohungsanalyse so gefährlich sein kann wie eine echte Bedrohung. Die Geschichte ist hier voller Beispiele.

Wo waren die Grünen?

Wir haben ein solches Vorgehen und eine solche Haltung bei den Grünen seit Jahren schmerzlich vermisst. Wo war der Einsatz der Grünen, als Griechenland unter die Guillotine der Austeritätspolitik von Schäuble und Merkel geriet? Wo waren die Grünen, als die Ukraine vor die erpresserische Wahl gestellt wurde, sich zwischen der EU oder der eurasischen Wirtschaftsregion zu entscheiden?

Wo waren die Grünen, als in der spanisch-katalonischen Krise Vermittlung gefragt war? Ein schleswig-holsteinisches Gericht jedenfalls verstand mehr vom politischen Pazifismus und von Konfliktentschärfung als die europäischen Grünen. Sie haben ihr Gespür für Deeskalation, für das Betreten des freien Raumes zwischen den Fronten fast völlig eingebüßt.

Politisch heimatlose Grüne

Für den Westen als propagandistischer Geleitschutz gegen den Osten zu kämpfen, ist nicht nur Ausdruck von Doppelmoral, es ist auch töricht. Die Welt ändert sich gerade rasant. Das atlantische Zeitalter ist vorbei. Kolumbus hat als Wegweiser ausgespielt, Marco Polo wird wieder interessant. Das alte Zentrum der Welt wird das neue, das Gebiet der Seidenstraße von China im Osten bis zur Türkei im Westen. Die EU muss aufpassen, dass sie nicht randständig wird.

Viele Grüne aus den Gründerjahren fühlen sich heute politisch heimatlos. Es wird Zeit, dass sich die Linke neu formiert. Ob die bestehende grüne Partei dabei entscheidend mitreden wird, ist offen. Anstöße gibt es viele: In Großbritannien versucht Jeremy Corbyn, aus dem alten Labour eine völlig neue Partei zu formen, bei uns versuchen die Jusos eine ähnliche Grunderneuerung der SPD.

Zu den Europawahlen tritt „Diem 25“, ins Leben gerufen von Yannis Varoufakis, als neue gesamteuropäische Partei an, in Deutschland träumen enttäuschte Linke von der Gründung einer neuen links-ökologisch-friedensbewegten Volkspartei. Die alten Modelle jedenfalls retten niemanden mehr.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus der Berliner Zeitung, mit freundlicher Genehmigung von Autorin, Autor und Chefredaktion.

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