Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Chauvinismus feiern seit 2015 in europäischen Ländern fröhliche Urständ, als lebten wir im 19. Jahrhundert. Etwa zwanzigtausend Menschen sind seit 2013 im Mittelmeer ertrunken. Das interessiert offensichtlich viele Menschen überhaupt nicht. Im Gegenteil. Ein rücksichtsloser Egomane und mangels politischem Programm für Bayerns Zukunft absehbarer Versager als bayrischer Ministerpräsident namens Söder führt sich verbal auf, fast wie ein waschechter Neonazi. Anstatt sich zu schämen, rechtfertigt er seine verbalen Exzesse, die in der hämischen Verbalinjurie “Asyltourismus” gipfeln, noch nachträglich. Und behauptet wahrheitswidrig, dabei die “Bevölkerung” auf seiner Seite zu haben.

Ich weigere mich zu glauben, dass die Mehrheit der Bürger*innen derart menschenverachtend denkt, wie Söder redet. Wer als “Asyltourist” unterwegs ist, so unterstellt dieser Begriff, hat Urlaub und keine Sorgen. Eine zynische Verballhornung der Menschen, die in Afrika vor Hunger, Arbeitslosigkeit, Diktaturen, Umweltkatastrophen vor politischer, rassistischer, religiöser oder sexueller Verfolgung und Diskriminierung flüchten. Ja, darunter sind auch viele Armutsflüchtlinge, die man gern als “Wirtschaftsflüchtlinge” diffamiert und abtut. Wirtschaftsflüchtlinge, das sind in Wahrheit die Reichen, die sich in Monaco, der Schweiz, Österreich, Liechtenstein, Irland, der Isle of Man oder Malta davor drücken, Steuern zahlen zu müssen. Das sind Amazon, Google und Facebook, die sich weigern, ihre Milliardenprofite in der EU zu versteuern. “Wirtschaftsflüchtlinge” findet man in keinem Lager. Dort findet man Menschen, die “nur” eine Zukunft in Europa suchen, weil sie die in ihrer Heimat schon lange nicht mehr haben. Ob verfolgt oder Armutsmigrant – aus Not kommen sie alle. Und da ist der Begriff “Tourismus” nichts als blanker Hohn. Und er bringt auch keine Sympathien bei der Mehrheit, deshalb sinkt der Stern von Söder und Seehofer in Umfragen kontinuierlich.

Bürger*innen klüger als die CSU

Die Mehrheit der “Bevölkerung”, in deren Namen Söder und Seehofer so gerne behaupten, zu handeln, ist nämlich klüger, als diese CSU-Parteipolitiker. Sie wissen, dass Söder und Seehofer nicht rechtstaatlich und fair handeln und dass man sich nicht durch Mauern und Stacheldraht aus der Verantwortung stehlen kann. Zumal Europa und der Westen an den Ursachen Mitverantwortung tragen: Am Irakkrieg der USA, an den Waffenlieferungen der EU und der USA an ISIS, IS und andere syrische Terrormilizen. Weil diese den Krieg und das Chaos dort mindestens ebenso erst ermöglicht haben, wie Russland. Und weil die EU in Afrika regionale Märkte z.B. durch Billigfleischabfälle zerstört und den Fisch vor Afrikas Küsten wegfangen lässt.

Neuer Kolonialismus…

Nun gibt es eine europäische Einigung in der EU-Flüchtlingspolitik – zumindest zunächst – aber um welchen politischen Preis? Vor allem scheint der “Kompromiss” vom 29. Juni 2018 zu Lasten von Drittländern gefunden worden zu sein. Mit welchen Allmachtsphantasien träumen eigentlich inzwischen sogenannte “Konservative” wie Seehofer oder der österreichische Kanzler Kurz, Viktor Orban und co., indem sie vorschlagen, Flüchtlingslager in “Nordafrika” oder gar im bettelarmen Albanien einzurichten, ohne dass sie mit den betroffenen Staaten auch nur gesprochen haben? Wie blind müssen sich EU-Regierungschefs vor allem aus Italien, Ungarn, aber auch viele andere stellen, um nicht zu sehen, – oder sehen zu wollen – dass es sich bei der sogenannten “Libyschen Küstenwache” um nichts als organisierte kriminelle Banden handelt? Banden, die  – ausgestattet mit Geld, Waffen und Schiffen von der Europäischen Union, –  als Warlords ihre Lager betreiben, gegenüber denen Guantanamo inzwischen fast als eine Oase der Sicherheit und der guten Versorgung erscheinen muss? Dort, wo täglich vergewaltigt, Menschenhandel betrieben und Gewalt und Folter ausgeübt wird, Menschen verhungern oder ohne Perspektive den Handlangern dieses Menschenhandels ausgeliefert sind. Eines Menschenhandels, dessen kriminelle Hintermänner und Profiteure in Istambul, auf Malta und in Athen oder in London und Berlin in teuren Immobilien sitzen und deren “Geschäftsmodell” dank der “Festung Europa” und aufgrund des Fehlens legaler Einwanderungsmöglichkeiten in die EU und der fehlenden Bereitschaft, Fluchtursachen ernsthaft zu bekämpfen, dauerhaft am Laufen gehalten wird. Da erscheint es fast wie abgesprochen, dass in solche Lager nun – im Ernst – die Flüchtlinge, die nach Europa wollen, gesteckt werden sollen. Kein Wunder, dass der UNHCR sich weigert, diese zu betreiben.

…aufgrund von Stimmungsmache

Dabei muss die Frage erlaubt sein, worüber hier überhaupt diskutiert wird, als gäbe es kein Morgen. Ob ich wisse, wieviele Menschen denn im letzten Monat hätten an der deutschen Grenze zurückgewiesen werden können, fragte mich am Dienstag ein Bundestagsabgeordneter, den ich am Rande des Sommerfestes der IT-Wirtschaft traf: ZWEI Personen, im Mai und eine dreistellige Zahl mit einer Eins vorne dran seit Beginn des Jahres – wusste er aus dem Ausschuß. Keine Frage: Es kann nicht angehen, dass hunderte von Flüchtlingen die griechische Ferieninsel Lesbos und ihre eigentlich weltoffenen Bewohner überrennen, von den Behörden absichtlich in Flüchtlingslagern gehalten werden, wo sie keine Versorgung erhalten. So werden sie in die Kriminalität gedrängt, sehen und zerstören Olivenhaine der Einwohner, nur weil “Europapolitiker” Flüchtlinge zur “Abschreckung” sich selbst überlassen. Menschliches Elend wird von einer satten, vor wirtschaftlicher Prosperität strotzenden EU-Gesellschaft in Lager gesteckt, abgeschreckt, ins Wasser geworfen oder soll  – wie im Falle des deutsch-niederländischen Rettungsschiffes “Lifeline” – in die Arme der Ausbeuter, Menschenhändler und Vergewaltiger der “Libyschen Küstenwache” zurückgeschickt werden. Widerlich.

Doppelmoral der CSU

Wie infam ist in diesem Licht die Forderung von Seehofer, die Crew der “Lifeline” festzusetzen, weil sie sich geweigert hat, ihre Schützlinge diesen Verbrechern zu übergeben? Welche ekelerregende Doppelmoral repräsentiert inzwischen eine CSU, die einserseits das christliche Kreuz, Symbol für Barmherzigkeit und Mitmenschlichkeit, in bayerischen Amtsstuben aufhängt und gleichzeitig mehr oder weniger in Kauf nimmt, dass Flüchtlinge an kriminelle Peiniger und Menschenhändler in Libyen auszuliefern?  Wo ist noch ein ethisch-moralischer Unterschied erkennbar zwischen Söder und Seehofer einerseits und der verlogenen Scheinheiligkeit der “Demonstranten”, die seit Wochen das rheinland-pfälzische Kandel heimsuchen, um die Beziehungstat eines heranwachsenden Mörders  – weißgott kein Einzelfall der Kriminalgeschichte – für rassistische Hetze zu instrumentalisieren? Wo liegt der Unterschied zwischen derartigem “Södern” und der Geisteshaltung dieser Leute, die Mitleid mit dem 15-jährigen Opfer vorgeben und gleichzeitig mit eiskalter Gleichgültigkeit und bar jeder menschlichen Regung Flüchtlinge im Mittelmeer ihrem Schicksal überlassen würden oder schlimmeres täten, hätten sie Gelegenheit dazu?

Was mich bei dieser Geistesnähe am meisten erschreckt, ist, dass die einen auf Grundgesetz, Menschenwürde und Verfassung vereidigte Politiker sind, die anderen aufgewiegelte Rechtsextremisten. Wie können sich die einen in Doppelmoral und Wort so in die Nähe der anderen begeben?

Dünner Firnis der Zivilisation

Wie leicht ist der dünne Firnis der Zivilisation also offensichtlich? Wenn dies alles bereits heute angesichts von Fachkräftemangel, besten Konjunkturaussichten, sprudelnden Steuerquellen und prall gefüllten Staatssäckeln mit “schwarzer Null” möglich ist, – was müssen wir erst befürchten, sollte sich die Lage wirklich einmal dramatisch verschlechtern? Wenn die Konjunktur aufgrund der idiotischen Zollpolitik Trumps oder aufgrund einer erneuten “Immobilienblase” einbricht? Wenn gar eine wirkliche Krise käme, keine herbeigeredete, sondern ausgelöst durch Mißernten aufgrund wachsender Trockenheit des Klimawandels oder hundertfacher Starkregenereignisse, Stürme Zerstörungen anrichten, die keine Versicherung mehr bezahlt, der Überfluss schwindet? Wen werden dann die verbalen Attacken teffen, wird Söder dann die Grenzen Bayerns gegen norddeutsche oder niederländische Flüchtlinge schließen wollen? Wie absurd diese ganzen Abschottungsphantasien sind, zeigt die triumphale Erklärung des ungarischen Rechtspopulisten Orban, der die Quote gemeinsamer Verantwortung für Flüchtlinge für tot erklärt hat. Die EU sollte im Gegenzug ihre Subventionen für Ungarn ebenfalls für tot erklären und beenden.

Koloniales Denken

Der aktuelle politische Zivilisationsverlust von 2018 hat eine neue Dimension erreicht. Er macht den Weg frei für koloniales und imperialistisches Denken des Nordens gegenüber Ländern, die über kein ökonomisches oder militärisches Potenzial verfügen, um sich gegen solche Übergriffe zu wehren. Da bringt man Albanien, das Armenhaus des Balkans für solche Lager ins Spiel. Ein Land, das ökonomisch am Boden liegt, in dem die Mafia blüht und die Menschen sich kaum von der jahrzehntelangen Isolation unter dem Diktator Enver Hodscha erholt haben. Von Mali oder Niger ist die Rede – in Mali kämpfte man vor kurzem gegen den IS und was wird wohl passieren, wenn man dieser Regierung Milliarden bezahlt wie Erdogan? Freunde bei den Menschen machen sich Europäer so nicht, höchstens bei Regimen. Und Europa sägt am eigenen Ast der Glaubwürdigkeit von Humanität, Solidarität und Menschenrechten.

Europa gibt Humanität preis

Humanität und Solidarität mit Opfern, das politische Kapital, das Europa bisher immer gegenüber einer Politik Donald Trumps ins Feld führen konnte, der Kinder an der Grenze erst von ihren Eltern getrennt hat, und sie nun gemeinsam mit ihnen ins Gefängnis steckt. Diese Überlegenheit verpufft angesichts der Forderungen solcher Internierungslager ins ethisch-moralische Nichts.

Die Deutsche Fußball-Nationalmannschaft ist in der WM ganz unten angekommen. Die Politik der Humanität und Solidarität soll, von Seehofer und Söder angetrieben, aber nun offenbar auch von Merkel und wahrscheinlich auch der SPD geduldet, noch ein ganzes Stück tiefer sinken. Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht! Ein Aufstand der Anständigen, der Mehrheit, der Demokraten wäre die adäquate Antwort auf dieses niederträchtige Treiben.

Aber jetzt sind ja erstmal Sommerferien…

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net