Lob und Kritik der Sammlungsbewegung
von Florian Ernst Kirner

Über Hunderttausend Menschen sind schon dabei. Was aber hat es mit der neuen Bewegung auf sich, die Simone Lange (SPD), Ludger Volmer (Grüne), Sahra Wagenknecht (LINKE) und der Theatermann Bernd Stegemann am 4. September in Berlin vorgestellt haben? Unser Autor war vor Ort und schildert seine Eindrücke.

Vorweg: ich, der Autor dieses Artikels, gehöre neben Nina Hagen, Julia Neigel, Eugen Drewermann, Albrecht Müller, Antje Vollmer und vielen anderen zu den Erstaufrufern von #aufstehen. Nehmen Sie, liebe Leserin und lieber Leser, diese Verortung bitte zur Kenntnis. Denn ich gedenke nicht, sie im Folgenden hinter einer Wolke angeblicher Neutralität verschwinden zu lassen.

Erwarten Sie, liebe Unterstützerin, lieber Unterstützer von #aufstehen, deshalb aber auch keinen kritiklosen Jubelartikel. Denn es gibt an einem alles in allem gelungenen Start dieser Sammlungsbewegung durchaus auch Kritisches anzumerken. Das werde ich in der gebotenen Deutlichkeit tun.

aufstehen hätte gar nichts davon, wenn sich die Unterstützung der Sammlungsbewegung in Kritiklosigkeit und Jubelpersertum zu beweisen hätte. Diese Art von Kadavergehorsam hat schon ganze Weltreiche ins Abgrund gestürzt. Da wird sie einer jungen, noch kleinen Bewegung kaum gut tun.

Und wie sollten sich Menschen, die von unterschiedlichen oder auch: von keinen politischen Traditionen geprägt worden sind, sammeln und zusammenfinden zu einer Bewegung, wenn es keine Möglichkeit gäbe, diese Unterschiedlichkeit einzubringen und eben auch auszutragen?

Das große Geheimnis

Das allerdings ist eine wahre Pest in unserer Zeit: die grassierende Unfähigkeit, Konflikte zivilisiert, lösungsorientiert und mit der nötigen Relaxtheit auszutragen.

Wir sind alle miteinander Meinungstotalitaristen geworden. Jahrzehntelange Freundschaften werden aufgekündigt, Menschen erklären sich zu Feinden – weil man sich über sicherlich relevante Teilaspekte der aktuellen Politik uneins ist. Die Kommentarfunktion auf Facebook ist das Paradebeispiel für diese kollektive, kommunikative Erkrankung.

Es wird Zeit, den Kopf aus diesem Treibsand zu ziehen und sich einmal umzuschauen, abseits der medial vermittelten Scheinrealität. Dann erkennen und verraten wir uns vielleicht gegenseitig ein großes Geheimnis.

Dieses Geheimnis ist, dass wir uns in Wahrheit einig sind.

Etwa nicht? Es gibt geschätzt 2.973 konkrete Maßnahmen, die jeder Mensch mit einem funktionierenden Gehirn und zwei Augen im Kopf selbstverständlich unterstützt.

Oder kennen Sie irgendeinen Menschen in Ihrem persönlichen Umfeld, der den allgemeinen Plastikwahnsinn befürwortet? Ist Ihnen jemand untergekommen, der fordert, wir sollten dringend noch mehr Plastikmüll produzieren?

In 12 afrikanischen Ländern wurden Plastiktüten bereits verboten. Warum nicht hier? Weil das „der Markt von selber regelt“, wie uns die Neoliberalen seit vier Jahrzehnten ins Ohr säuseln? Der Markt regelt offensichtlich gar nichts, zumindest nicht im Sinne der Allgemeinheit. Also muss das geregelt und durchgesetzt werden – und die überragende Mehrheit wird es selbstverständlich gutheißen.

Oder zeigen Sie mir einen Normalsterblichen, der nicht unterstützen würde, dass Spekulationsgewinne besteuert werden, dass auch Großkonzerne endlich wieder Steuern abführen oder dass Menschen, die 40 Jahre gearbeitet haben, ihr Alter in Würde zubringen dürfen.

Es mag in der FDP oder in der AFD oder unter den Superreichen Leute geben, die diesbezügliche Maßnahmen ablehnen. In der Breite unserer Gesellschaft gibt es solche Leute schlicht und ergreifend: nicht. Alle Umfragen zeigen das. Jedes Gespräch zeigt das.

Ein Verbot von Waffenexporten – wer wäre dagegen?

Eine Politik des konsequenten Umweltschutzes – wer wäre nicht dafür?

Der große Konsens

Sollte es #aufstehen gelingen, um diesen breiten, gesellschaftlichen Konsens herum, eine in der Gesellschaft verankerte, aktivistische Bewegung zu sammeln, wäre ungeheuer viel gewonnen.

Deswegen soll dieser Konsens des ganz offensichtlich Sinnvollen die Basis der Sammlungsbewegung bilden. Über Details mag man sich derweil getrost weiter auseinandersetzen. Offene Fragen sollen und dürfen diskutiert werden. Theoriearbeit auf hohem Niveau braucht es selbstverständlich auch.

Der große Grundkonsens aber ist eine simple Zusammenfassung des offensichtlich Notwendigen.

Im Gründungsdokument von #aufstehen wurde dieser große Konsens im Wesentlichen ausformuliert. Noch prägnanter und an sich für den Alltagsgebrauch ausreichend liest man auf einem ersten Flugblatt von #aufstehen:

„Nach dem Aufwachen kommt das Aufstehen. Wir müssen aufstehen, um dieses Land zu verändern. Keine Politikerin, kein Politiker wird unsere Probleme lösen, wenn wir es nicht selbst tun.
Eine Mehrheit der Bevölkerung wünscht sich eine soziale Politik, eine gesunde Umwelt und Frieden. Aber die Interessen der Mehrheit haben keine Mehrheit im Bundestag. Trotz Wahlen.
Viele Menschen sind müde. Sie erwarten nichts mehr von Parteien. Und jene, die in Parteien für eine andere Politik kämpfen, sind zu wenige, um sich durchzusetzen. Daher brauchen wir Dich, wenn Du unsere Ziele teilst. Melde Dich an und mach mit: www.aufstehen.de/mitmachen

Ist es aber möglich, die Gräben zu überwinden, die unsere Gesellschaft und die ganze Menschheit wie klaffende Wunden durchziehen?

Der Kampfbulle & ich

Gerade saß ich im Zug neben einem Bundespolizisten aus Bayern, der sich in seiner martialischen Uniform, mit Transponder, Funkgerät und restbewaffnet neben mich gesetzt hatte. Ich bin nun zwar ebenfalls aus Bayern, aber es gibt, so dachte ich, kaum jemanden, dessen Weltsicht weiter entfernt sein könnte von der meinen, als ein „bayerischer Kampfbulle“, wie ich Leute dieses Berufsstands und seiner Einheit routinemäßig zu bezeichnen pflege.

Es stellte sich heraus: wir sehen es ziemlich ähnlich. Und zwar: so ziemlich alles sehen wir ziemlich ähnlich. Siehe oben. Der große Konsens.

Sogar, was den G20-Gipfel in Hamburg angeht, sahen wir es ziemlich ähnlich, der gelernte Linksradikale und der Kampfbulle, beide aus Bayern. Ich finde es nämlich inzwischen auch nicht mehr so gut, wenn Polizisten – wie es ihm widerfahren ist – von Hausdächern aus Wackersteine auf den Kopf geworfen bekommen, Helm hin, Helm her. Er wiederum gab zu, dass einige seiner Kollegen komplett ausgerastet sind und sich gewaltig daneben benommen haben.

Alle beide fanden wir, dass es eine aberwitzige Entscheidung war, einen solchen Gipfel ausgerechnet in Hamburg stattfinden zu lassen, während wir die Sinnhaftigkeit solcher sündhaft teuren Veranstaltungen grundsätzlich infrage stellten.

Alles andere: Umweltschutz, Waffenexportverbot, Schluss mit den Ressourcenkriegen, faire Renten, Besteuerung der Finanzspekulation und so weiter und so fort … wir gingen in einem gut einstündigen Gespräch dies, das und noch mehr durch und waren uns Punkt für Punkt einig. Auch die AFD fand er extrem gefährlich.

Sicherlich hätte es nun auch Möglichkeiten gegeben, sich mit dem jungen Polizisten zu streiten. War es Opportunismus, dass ich nicht zielgerichtet auf die Suche nach Differenzen gegangen bin?

Opportunismus war es nicht. Wäre er zum Beispiel mit rassistischen Sprüchen gekommen – ich hätte, wie ich das immer und ausnahmslos tue, sofort dagegengehalten. Hätte er die Finanzspekulanten verteidigt oder den Afghanistankrieg, hätte ich Argumente aufgeboten, ihm diesen Blödsinn auszutreiben.

Aber dieser Mensch war kein Rassist und er war kein Vollidiot. Er war auch keiner, der es cool findet, wenn man Ertrinkende ersaufen lässt, anstatt sie zu retten. Er ist überhaupt dagegen, dass uns die Weltgesellschaft um die Ohren fliegt, weil sich eine winzige Elite die Taschen voll macht, während es der Masse der Menschen am Nötigsten fehlt und das Ökosystem kollabiert.

In Hannover musste ich schließlich #aufstehen und er ist sitzengeblieben. Wir hatten an diesem Tag dann eben doch verschiedene Fahrtziele. Im Großen und Ganzen sage ich: eine fortschrittliche Bewegung muss solche Leute für sich zu gewinnen versuchen – und das schreibe ich als jemand, der schreckliche Erfahrungen mit der Brutalität und Gewalt nicht nur der bayerischen Polizei gemacht hat.

Ich ärgere mich nur, dass ich nicht den Schritt gemacht habe, mit diesem hochsympathischen Kampfbullen über die Sammelbewegung zu sprechen. Dafür war ich wohl doch zu perplex über das Ausmaß unserer politischen Übereinstimmung.

Next time…

Der Auftakt im Internet

Bis zur offiziellen Gründung der Sammelbewegung hatten bereits 116.000 Menschen den Schritt, sich #aufstehen anzuschließen, gemacht, ohne von mir im Zug darauf angesprochen worden zu sein. Sie taten das im Internet, auf der Homepage der Sammlungsbewegung.

116.000 Leute, das ist eine enorm beeindruckende Zahl. Wie ist sie zu bewerten?

Einerseits darf man diese Zahl nicht überschätzen. Sahra Wagenknecht alleine hat bei Facebook 442.820 „Gefällt-mir’s“. Zudem sind diese 116.000 Namen natürlich nicht mit Parteimitgliedschaften zu vergleichen, die mit regelmäßigen Mitgliedsbeiträgen, der Zustimmung zu einem umfassenden Grundsatzprogramm und in der Regel auch mit der Kontaktaufnahme zu einer lokalen Parteistruktur verbunden sind.

aufstehen hat noch gar keine lokalen Strukturen und strebt nicht an, eine Partei zu werden. Zum Zeitpunkt der Gründung gab es noch kein definiertes Gründungsmanifest und das Selbstverständnis, welches dann am 4. September veröffentlicht worden ist, gilt ebenfalls nur als vorläufig.

Andererseits sind diese 116.000 Namen weitaus stärker zu bewerten als Likes auf Facebook oder ganz lose Sympathiebekundungen. Denn diese 116.000 Leute sind innerhalb von lediglich vier Wochen zusammengekommen. Sie sind von sich aus auf die Webseite www.aufstehen.de gegangen, sie haben dort nicht nur ihren Namen, sondern auch ihre Emailadresse hinterlassen, sie haben eine Email von #aufstehen erhalten und diese per Antwortmail bestätigt.

Sie haben sich damit sehr bewusst und selbständig für die Sammlungsbewegung erklärt, in einem medialen Umfeld, das alles andere als positiv gewesen ist.

Übrigens sind diese 116.000 um Doppel- und Mehrfachmeldungen bereinigt. Die Parteimitgliedschaften der Grünen und der LINKEN ergeben addiert 126.000 Menschen. Da wird man den Anfangserfolg von #aufstehen durchaus beachtlich finden dürfen.

Lob der Worker, Campaigner, Organizer

Aus dieser Flut der Spontanmeldungen echte, gesunde, arbeitende Strukturen zu generieren, ist nun die Herkulesaufgabe, mit der sich die Organizer von #aufstehen befasst sehen. Ich durfte am Gründungstag der Bewegung in Berlin einige dieser Organizer kennenlernen. Mein Eindruck war aus mehrerlei Gründen sehr positiv.

Einmal sind das kompetente Leute, die sich zweitens mit allem, was sie haben, in die gestellte Aufgabe werfen. Das immense Arbeitspensum, das sie bis zum Tag der Gründung bereits absolviert hatten, war ihnen des Abends deutlich anzumerken. Es sind diese Jungs und Mädels, die unter der Lawine der Anmeldungen ächzen. Von daher sind Verzögerungen bei der Bearbeitung der Emails und zwischenzeitliche Serverprobleme ein Preis des frühen, massenhaften Erfolgs.

Aber alles, was die Organizer organisieren hat, so mein Eindruck, Hand und Fuß und folgt einer stringenten methodischen Idee, die nach und nach verfeinert wird.

Genau solche Leute, die sich verbeissen in die gestellte Aufgabe, die nicht lockerlassen, die an auftretenden Problemen herumtüfteln bis sie eine Lösung haben, braucht es jetzt. Die ungestörte Arbeit und das Primat dieser Praktiker sollte von Anfang an abgesichert werden.

Man bewahre uns dagegen vor den Schwätzern, den Schwadroneuren, vor verhinderten Heilsbringern und Messiasanwärtern. #aufstehen wäre nicht die erste Bewegung, die in den Treibsand der Geschwätzigkeit gerät und dort zunächst ihre Dynamik und dann die besten, ehrlichsten Aktivsten verliert.

Die Glücksritter der Aufmerksamkeitsökonomie werden ganz von selber angelaufen kommen und pausenlos ihren Platz an der Sonne einfordern. Dass Profilneurotiker aber das Material sind, aus dem eine neue, bessere, gesündere Menschheit wachsen kann, darf bezweifelt werden.

Was die Bewegung stattdessen braucht sind Worker, Campaigner, Organizer.

Netzwerker, Agitatoren und stille, rebellische Mäuschen

Das ist nun kein Plädoyer gegen den ehrbaren Beruf des Agitators, des Aufrührers, des local hero!

Wir brauchen gut verankerte Leute, die Tag für Tag am Netz der Rebellion weben, im Betrieb, in der Schule, an der Uni, im Tangokurs oder in der Kneipe, im Stadtteil, bei den Nachbarn, im Dorf. Das ist eine langwierige Arbeit, die Geduld, Genauigkeit, Schläue und absolute Integrität erfordert. Nur wer selbst glaub- und vertrauenswürdig ist, kann diese Vernetzungsarbeit erfolgreich leisten.

Wir brauchen auch die beherzten Draufgänger, die mit einem Megaphon bewaffnet auf einem Weinfest, in einer Fussgängerzone oder bei sonst einer unpassenden Gelegenheit auf- und Alarm schlagen, zur Sammlung rufen, für die Bewegung trommeln. Ohne die genial Verrückten, die Unverschämten und Kühnen wird nichts gehen.

Aber #aufstehen muss auch ein Ort sein für die Leisen, die Nachdenklichen, die Sorgsamen und für tiefschürfende, melancholische Grübler. Für alle, die verzweifeln an der Welt und dennoch nicht aufhören können, die Menschen zu lieben. Eine Sammlungsbewegung, die wirklich bewegt, muss schließlich bei allem Pragmatismus auch eine poetische Bewegung sein, eine Bewegung der Träume, der Leidenschaften und der Utopien.

aufstehen sollte eine sichere Heimstatt bieten für jene, die arg gebeutelt noch vorsichtig tastend nach Möglichkeiten suchen, wie sie sich selbst ermächtigen und einbringen können.

Es gilt Sorge zu tragen, dass gesunde, bei aller Offenheit arbeitsteilig funktionierende Strukturen wachsen können, in denen alle unterschiedlichen Charaktere zu ihrem Recht kommen, und nicht nur eine Sorte Mensch rücksichtslos durchzieht.

#aufstehen in der Bundespressekonferenz

Das sicherste Mittel gegen den Treibsand der Geschwätzigkeit und eine feindliche Übernahme durch Profilneurotiker ist die organisierte Aktion.

Bewegt sich die Bewegung, arbeitet sie und organisiert sich, kommen die Handlungsfähigen und Handlungswilligen nach oben. Eben jene, denen es wirklich um die Sache geht und die mehr einzubringen haben als ihren Geltungsdrang.

Steht die Bewegung allerdings nur gesammelt in der Gegend herum, wächst unvermeidlich das Gewicht all derer, die vor allem einen Debattierklub suchen, der ihre Welterneuerungsergüsse eine Zeitlang erträgt.

In diesem Sinne ist der Start der Bewegung am 4. September suboptimal verlaufen.

Die Vorstellung von #aufstehen in der Bundespressekonferenz jedoch verlief hervorragend. Simone Lange, die Flensburger SPD-Oberbürgermeisterin, die beim Bundesparteitag aus dem Stand gegen Andrea Nahles fast ein Drittel der Delegiertenstimmen geholt hatte, war dabei die Überraschung des Tages.

Sahra Wagenknecht war gewohnt brillant, aber, so hatte man den Eindruck, viel gelöster als sonst, wärmer, zugänglicher. Sichtlich tut ihr gut, dass sie in der Sammlungsbewegung zur Abwechslung einmal mit netten, loyalen, sympathisch verrückten Menschen zusammenarbeiten kann.

Nervtötend waren die Fragen der Journalisten. Ja, Herrgott, wir haben es jetzt doch alle begriffen, dass der Dreh darin besteht, die Sammlungsbewegung nach rechts zu schreiben oder als rassistisch zu verleumden.

Penetrant wurde in diese Richtung gefragt. Wieso #aufstehen denn nichts „zu Chemnitz“ gesagt habe? Die offensichtliche Antwort wäre gewesen: „Weil wir uns gerade erst in diesem Moment gegründet haben!“

Aber das Offensichtliche reicht den Hauptstadtjournalisten natürlich ebensowenig wie die völlig eindeutigen Statements von Sahra Wagenknecht.

Unbeirrt betrieben unsere geliebten Topjournalisten, etwa Hans-Ulrich Jörges oder Monika van Haaren, was sie für engagierten Journalismus halten: sie bohrten nach, wo es nichts zu bohren gibt, und zwar mit der Frage, ob denn jemand von #aufstehen in Chemnitz beim Demonstrieren gewesen sei?

Der brillante Konter von Simone Lange: selbstverständlich, einige Erstaufrufer und Unterstützer der Sammlungsbewegung seien in Chemnitz gewesen, sie selber habe aber leider keine Zeit gehabt. Sie habe nämlich gleichzeitig auf einer #Seebrücke-Demo in Flensburg gesprochen. BAMM!

Wie gut sich Simone Lange, Ludger Volmer, Sahra Wagnknecht und der Theatermann Bernd Stegemann bei dieser Bundespressekonferenz geschlagen haben, wie effektiv sie vermieden haben in die aufgestellten Fallen zu tappen, zeigte sich dann daran, dass die Hauptmedien entschieden, den Start der Bewegung lieber doch nicht als Titelmeldung niederzuschreiben. Man zog vor, das Ereignis an siebter oder achter Stelle oder gar nicht zu berichten…

Wann bewegt sich die Bewegung?

Sehr gelungen war auch der digitale Start der Bewegung. Das Video mit Charlie Chaplins Rede an die Menschheit aus seinem Film „Der große Diktator“ als Auftaktvideo zu bringen, ist eine exzellente Idee gewesen und die wurde auch sehr gut umgesetzt, wie bisher alles Videomaterial der Bewegung. Den Stier der vermeintlichen Sympathien von #aufstehen für rechtes Gedankengut gleich bei den Hörnern zu packen und zwar mit Chaplin als Hitler: das ist dreist, das ist unverschämt, das ist selbstbewusst, das ist … genau richtig!

(Leider ist das Video noch nicht auf YouTube zu finden…)

Allerdings hätte man sich doch gewünscht, dass die Sammlungsbewegung mit einem Aktionsaufruf startet. Dass sie am Tag ihrer Gründung eine erste Kampagne lostritt, eine erste Aktionsform vorstellt, wäre dem Anspruch einer Bewegung gemäßer gewesen, als ein auf Bundespressekonferenz, Interviews und eine rundum erneuerte Homepage beschränkter Start.

So war der Auftakt in aktionistischer Hinsicht deutlich defizitär. Das ist gefährlich. Die Menschen sind der Seiltänzereien müde, sie haben allzu oft erlebt, dass ihre Hoffnungen nur mobilisiert wurden, um enttäuscht zu werden.

Mit echten Aktionen und Kampagnen um die Ecke zu biegen, muss deshalb jetzt die dringlichste Aufgabe der noch blutjungen Bewegung sein, will sie nicht Gefahr laufen, die riesigen Erwartungen, die sie geweckt hat, ruckzuck zu enttäuschen.

Allerdings besteht hier Hoffnung und kein Anlass, sofort ins Nörgeln zu geraten. Der Kern derer, die #aufstehen bis dato organisieren, ist klein, die wirtschaftlichen Ressourcen sind noch gering. Was mit diesen Möglichkeiten bisher geleistet wurde, ist großartig. Dass es so bald wie möglich erste Aktionen geben muss, war allen, mit denen ich gesprochen habe, sonnenklar.

Viele der Aufstehenden der ersten Stunde jedoch haben mit dem Aufbau einer politischen Bewegung noch wenig Erfahrung. Das wäre nur dann ein Problem, wenn man sein Defizit nicht erkennt und behebt. Beides ist aber der Fall. Auch Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht ist deutlich bewusst, dass sie nicht einfach ihren üblichen parteipolitischen Stiefel durchziehen können, dass sie Neues wagen und ausprobieren müssen. Eben dies ist ja der Sinn der ganzen Veranstaltung.

Der Wissenstransfer durch Organizer der Sanders- und Corbynkampagne läuft derweil kontinuierlich. Die bereits vorhandenen worker, organizer, campaigner sind gute Leute.

Ansonsten kommt der Appetit beim Essen und die Kampferfahrung beim Kämpfen.

Ökologie: wieder nur Lippenbekenntnisse?

Eine weitaus größere Gefahr liegt in dem sich in diesen Anfangstagen abzeichnenden Themenmix der Bewegung. Hier droht der sofortige Rückfall ins Übliche, und der Bereich Ökologie geriet quasi ansatzlos in Gefahr, einmal mehr und wie wir es seit ewigen Zeiten gewohnt sind, hinten runter zu fallen.

In der Pressekonferenz spielte die existenzielle Frage, wie der keineswegs „drohende“, sondern längst stattfindende Ökozid eingebremst werden soll, keine erkennbare Rolle. Ökologie schien auch wenig Bedeutung zu haben in der strategischen Konzeption. Es dominierte „das soziale Thema“, dessen Dringlichkeit ja nun niemand in Abrede stellt.

Auf Platz zwei folgte die Frage von Krieg und Frieden, auch das ist gut so. Die zerstrittene Friedensbewegung braucht dringend eine schnelle und nachhaltige Belebung durch die Sammlungsbewegung. Nebenbei bemerkt hätte dem Grünen Ludger Volmer ein öffentliches Wort der Selbstkritik gut zu Gesicht gestanden, als er bei der Bundespressekonferenz nach seiner Rolle als Regierungsgrüner im Kosovokrieg befragt wurde.

Aber der Zusammenbruch der Insektenwelt? Die Klimakatastrophe? Mikroplastik? Der Wahnsinn der Massentierhaltung? Der Kampf gegen die Verpestung der Biosphäre? Unsere völlig kranke, von allen guten Geistern verlassene Lebensweise? Der sofortige, unaufschiebbare Umbau unserer gesamten Gesellschaft entlang kategorischer ökologischer Notwendigkeiten? Die nötige Revolution im Transportsektor? Die sofortige Abschaltung der Kohlekraftwerke?

Die totale Herausforderung unserer Epoche kam so irgendwie am Rande sehr gelegentlich und recht allgemein ein wenig vor. Eine der Dringlichkeit und Tragweite der Bedrohung auch nur annähernd angemessene Rolle spielt die rasante Zerstörung der Lebensgrundlagen der menschlichen Spezies auf diesem Planeten bisher nicht.

Das ist einerseits kein Wunder. Von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen, haben weder Sozialdemokraten noch Parteilinke noch weiteste Teile der Linken als Tradition und Szene den ökologischen Imperativ unserer Zeit begriffen.

Andererseits ist es einfach nicht zu fassen, wie schwer sich auch #aufstehen schon wieder zu tun scheint, der Rettung unserer Spezies vor den Folgen des Ökodesasters gerecht zu werden.

Das geht so nicht weiter. Wir haben keine Zeit mehr. Und eine Sammelbewegung, die für höhere Löhne und Renten streitet, während die Kohlekraftwerke weiterlaufen, die Agrarwirtschaft Böden und Wasser vergiftet und der Petromobilismus und die Industriedinosaurier die letzten fossilen Ressourcen in die Atmosphäre blasen, braucht kein Mensch.

Sie wird auch keinen dauerhaften Erfolg haben, denn wenn wir das Ökodesaster nicht stoppen, werden niedrige Renten ein Problem sein, das die überwältigende Mehrheit der heutigen jungen Generation ohnehin nicht mehr erlebt.

#aufstehen in und für #aufstehen

Hält mich diese Beobachtung nun davon ab, mich bei und für #aufstehen zu engagieren? Bereue ich bereits, meinen Namen für die Sache hergegeben zu haben?

Ganz im Gegenteil! Ich bin begeistert und enthusiastisch und vom Erfolg der Sache überzeugt. Ja, diese Bewegung ist keine fertige Struktur aus dem Baukasten, zusammengefügt nach einer strikten Anleitung. Einiges ist schief und krumm. Manches noch nicht stimmig.

Das ist eben keine Bewegung, die am Reißbrett entworfen wurde und nun autoritär von oben nach unten durchgereicht wird, wie vielfach behauptet.

Dieses Unfertige, Experimentelle, das Vorwärtsstolpern und Vorwärtstasten dieser Sammlungsbewegung ist gerade die Möglichkeit, sich einzubringen und das nunmehr ins Leben kommende Wesen mitzuformen, mitzunähren, mitzugestalten.

116.000 haben bereits entschieden, das zu tun. Hunderttausende sind angefixt und gehen mit der Frage schwanger, ob #aufstehen eine Bewegung ist, die ihren Einsatz lohnt. Die Hoffnung von Millionen liegt derweil brach in der Gegend herum, gänzlich unerreicht von einer SPD unter Nahles und Scholz, von hemmungslos opportunistischen Grünen und einer heillos zerstrittenen Linkspartei.

Dafür, dass diese Millionen sich in Bewegung setzen für die Rettung unserer Spezies und des Planeten vor den Machenschaften einer restlos durchgeknallten Minderheit, gilt es #aufzustehen – für, mit und innerhalb der neuen Sammlungsbewegung.

Florian Ernst Kirner ist als Sohn friedensbewegter, sozialdemokratischer Eltern seit seiner Kindheit politisch aktiv. Unter dem Namen Prinz Chaos II. ist er als Liedermacher und Kabarettist bekannt. In Südthüringen entwickelt er seit 2008 ein Kultur- und Gemeinschaftsprojekt auf Schloss Weitersroda . Zuvor hat er an der Universität zu Köln Anglo-Amerikanische Geschichte, Japanologie und Neuere und Mittelalterliche Geschichte studiert, sowie Internationale Beziehungen an der Sophia-Universität Tokio. 2013 verfasste er mit Konstantin Wecker einen „Aufruf zur Revolte“. Als Journalist schrieb er lange für die junge Welt. Seit dessen Gründung unterstützt er den Rubikon.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog “Rubikon”. Er ist unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen dürfen Sie es verbreiten und vervielfältigen.
Herzlichen Dank an Extradienst-Gastautor Ludger Volmer für den Hinweis.

Über Gastautor:innen (*):

Unter der Kennung "Gastautor:innen" fassen wir die unterschiedlichsten Beiträge externer Quellen zusammen, die wir dankbar im Beueler-Extradienst (wieder-)veröffentlichen dürfen. Die Autor*innen, Quellen und ggf. Lizenzen sind, soweit bekannt, jeweils im Beitrag vermerkt und/oder verlinkt.