Die Überraschungspotenziale am kommenden Wahlsonntag 26.5.
Hochsaison für die Marktforschungskonzerne. Kurz vor Wahlterminen haben sie Gelegenheit, sich im redaktionellen Teil der Medien zu präsentieren, ohne Werbezeiten buchen zu müssen, sondern im Gegenteil, dafür noch bezahlt zu werden (wenn auch nicht so fürstlich wie in der Marktforschung und im Datenhandel). Was sie dabei schlagzeilenträchtig verbreiten, sind in der Regel keine Neuigkeiten, keine Nachrichten, sondern Parolen für die doofen Schafe unter den Wähler*inne*n.
Dennoch sind ihre Zahlenwerke nicht wertlos. Die langen Zahlenreihen, die sich bei den Kolleg*inn*en von wahlrecht.de immer sehr schön nachvollziehen lassen, geben längerfristige und tiefgründigere Tendenzen durchaus zu erkennen, ebenso wie politische Präferenzen der jeweiligen Umfragefirma. Und auch unterschiedliche Arbeitsweisen: zu beachten sind z.B. die unterschiedlichen Rhythmen der Veröffentlichung, und die angegebenen Umfragezeiträume (von 14 Tagen bis zu “Blitzumfragen”).
Das vorausgeschickt finde ich aktuell folgendes beachtenswert. Die Europawahl findet angeblich höheres Interesse als vor fünf Jahren. Ich fürchte trotz entsprechender Umfragen ist das stark übertrieben. Fragen Sie mal beim ZDF. Das ist nun seit 2-3 Jahren souveräner Einschaltquoten-Tabellenführer im Senior*inn*enmedium TV (und die Senior*inn*en sind viele, gehen pflichtbewusster wählen). Gestern machte das ZDF den ganzen Abend Europawahlkampf und brachte seine Einschaltquoten zum Einsturz. Die “Rosenheim-Cops” und “Bares für Rares” hatten so schön vorgearbeitet mit rund 20% Marktanteil. Und dann machten die unbekannten “Spitzenkandidaten” von CSU und SPD dem ZDF alles kaputt. Mit Mühe schafften sie die 5%-Hürde (5,8). Um 22 h fuhren die noch unbekannteren Spitzendkandidat*inn*en von Grünen, FDP, Linke und AfD immerhin 8,7% ein, für das ZDF immer noch unakzeptabel.
Das bedeutet mit hoher Wahrscheinlchkeit, dass wir am Europawahlabend nur Verlierer*innen zu Gesicht bekommen. Die Sieger*innen werden die “Sonstigen”. Und die werden in in erster Linie Grünen, SPD und Linken schmerzen. Sie alle sind für grosse Wähler*innen*massen “kleinere Übel”, für das die sich bei der Wahl ohne 5%-Klausel endlich mal ohne Gewissensbisse rächen können. Die “Sonstigen” werden zwischen 10 (ZDF) und 12% (ARD) taxiert. Alleine “Die Partei” als Satireunternehmen wird auf 3% taxiert. So viele Kandidat*inn*en haben die gar nicht. Hinter den Profis Sonneborn und Semsrott haben die Individuen aufgestellt, die berühmte Nazi-Nachnamen tragen. Von denen könnte also auch noch eine/r diätenreich werden. Für die Bonner Grünen-Kandidatin und Extradienst-Autorin Alexandra Geese könnte es dagegen ein aufregender Abend werden: über 17% ist sie drin, drunter ist sie draussen (bzw. muss weiter harte Übersetzerinnenarbeit verrichten).
Wie viel Gutes die 5%-Hürde mit sich bringen kann, was ich lebenslang nie geglaubt habe, zeigen die Umfragen zur Kommunalwahl in der Kleinstadt Bremen. Weil es sich formal um eine Landtagswahl handelt, gilt die Hürde. Und siehe da: die neoliberalen Parteien FDP und AfD, streben ihr scheinbar von oben nach unten immer näher entgegen. Das würde den Wahlabend sehr verschönern.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net