Caline Aouns Ausstellung „Seeing is Believing“ im Palais Populaire lotet die Aporien eines durchgedrehten Daten-Zeitalters aus. Die Schau ist ein Paradebeispiel für die Programmatik des Ausstellungshauses
Vier sanft plätschernde Brunnen, an der Wand eine Kaskade pastellfarbener Bilder. Stumm flimmert das Video eines Seebildes, vor einem violettfarbenen Relief verfallen Besucher in Trance wie vor einem Werk Mark Rothkos.

Wer dieser Tage den ersten Stock des Palais Populaire betritt, fühlt sich plötzlich wie in einer Entschleunigungskammer. So sehr dimmt die minimalistische Szenerie in den hellen Räumen den hektischen Besucher herunter. Der Eindruck des Schönen, Farbigen, Ruhigen täuscht jedoch.

Im Kern dreht es sich beim Werk von Caline Aoun um das Gegenteil von Versenkung, Entrückung, Kontemplation. Was die 1983 in Beirut geborene Künstlerin umtreibt, ist nämlich das, was den Menschen die Ruhe raubt: der Exzess an Daten und Bildern, die auf sie einstürmen, die Übermacht des Digitalen.

„Mich interessiert, wie sich diese Übersättigung, diese Erschöpfung, die daraus resultiert, auf unsere Gefühle auswirken. Ich suche dabei immer nach Möglichkeiten, diesen visuellen Lärm entweder zu dämpfen oder zu verstärken“, sagt die Künstlerin.

Die frappierende Dialektik, mit der sie dieses Dilemma ästhetisch übersetzt, hat ihr die Auszeichnung „Deutsche Bank-Artist of the Year“ eingebracht. Es spricht für diesen Preis, dass er nicht mit Geld und spektakulären Zeremonien aufgewogen wird, sondern mit einer Einzelausstellung.

Dass Aoun bei aller formalen Anmutung ihrer Kunst immer den politischen und ökonomischen Kontext ihres Umfeldes mitreflektiert, zeigt ihre Arbeit „Lands of Matter“ vom Jahr 2015. Dafür hat sie Frachtdaten von Waren, die im Beiruter Hafen umgeschlagen werden, in ein 6-mal-16-Bilder-Raster überführt, das den Jahren 2003 bis 2018 entspricht.

Das Unsichtbare, Abstrakte von Daten verwandelt Aoun so in Anschauliches, Sichtbares. Zugleich lassen sich an dem Ensemble auf- und abschwellender schwarzer Diagramme, welches sie „stumme Bilder“ nennt, die Konjunkturen des Krieges in ihrer Heimat ablesen.

Mit solchen Arbeiten laboriert sie nah an den Visualisierungsversuchen der künstlerischen Forschung, die derzeit Konjunktur hat. Spannender wird es, wenn sie die formale Schönheit, die aus diesem Transfer bei ihr immer entsteht, aus Störmomenten gewinnt.

Ihre raumfüllende Berliner Arbeit „Contemplating Dis­persions“ etwa sieht aus wie eine gigantische Ode an die Schönheit: Eine zunächst teerschwarze, dann in rot-violette, am Ende weiß verschlierte Farbflächen auslaufende Bahn, die eine ganze Wand bedeckt. Kategorien wie digitale Farbfeldmalerei oder Zufallsästhetik beschreiben das Ergebnis aber nur bedingt.

Denn die vielblättrige Bilderstrecke entsteht dadurch, dass ein Drucker die Überlast von Daten, mit denen Aoun ihn gefüttert hat, mit allen verfügbaren Farben auch dann noch auszudrucken versucht, wenn die Druckerpatronen versiegen: Was schön aussieht, sind nichts anderes als Fehlfarben.

Die Überforderung des Druckers versinnbildlicht die Überforderung im Umgang mit den Daten und den Exzess der Bildproduktion. Das Werk symbolisiert aber auch die Selbstbehauptung der Kunst unter dem Druck zunehmender Technisierung.

Wegen des Bürgerkriegs in ihrer Heimat begann Aoun 2002 in London zu studieren, zunächst ganz traditionell Malerei. Pinsel und Leinwand ließ sie dann schnell sinken und experimentierte stattdessen mit dem Drucker. „Malen“ kann eben auch heißen, den „Kampf eines Bildes, das mit allen Mitteln zu erscheinen sucht“, sichtbar zu machen.

Eine schöne Übersetzung für das Wort vom „Datenfluss“ ist ihre Arbeit „Infinite Energy, ­Finite Time“. In den vier Brunnen, wie in einem orientalischen Garten in der Mitte des Saals platziert, plätschert nämlich kein Wasser, sondern Flüssigkeit in den Grundfarben Cyan, Magenta, Gelb und Schwarz aus dem digitalen Vierfarbdruck.

Durch ein unterirdisches System sind alle so verbunden, dass sich die Flüssigkeiten langsam mischen. Am Schluss bleibt nur noch eine unansehnliche braune Soße, die die Leitungen verklebt, bis der Kreislauf zusammenbricht: globaler Datensumpf.

Nicht jede Arbeit in diesem Parcours ist geglückt. Die in Kupfer gegossenen Piniennadeln in einer Ecke wirken ebenso kunstgewerblich wie der violette Silikonabdruck der alten Mauern des Palais Populaire. Hier tastet Aoun sich an die Themen Reproduzierbarkeit und Ortsspezifik heran.

Caline Aouns Kunst ist ein spannender Versuch zur Dialektik von Materiellem und Immateriellem

Alles in allem bleibt ihre Kunst aber ein spannender Versuch zur Dialektik von Materiellem und Immateriellem. Das Tolle an ihrer Arbeit ist, dass sie die Idee einer Wahrnehmungsökologie ohne verblasene Esoterik oder Pseudobesinnlichkeit aufruft, sondern formal präzise, sinnlich und technisch auf der Höhe der Zeit.

Wegen ihrer Farbigkeit ist die Ausstellung gleichsam ein Paradebeispiel für die Programmatik des Hauses, in dem sie derzeit zu sehen ist. Anspruchsvoll sollen die Ausstellungen sein, aber doch populär. So formulierte es Svenja von Reichenbach, seine Leiterin, zur Eröffnung im Herbst vergangenen Jahres.

Dieser Maxime folgten die meisten der bislang gezeigten Schauen, ob es nun die Ausstellung „Summer of Love“ über die Ästhetik von Woodstock war oder die Virtual-Reality-Installation zu Oskar Schlemmers und Walter Gropius’ „Totalem Tanz-Theater“ ist. Wie die alte Kunsthalle im DB-Stammhaus Unter den Linden, aus dem das Palais hervorging, liefert es kleine, pointierte Ausstellungen.

Fraglich dennoch, ob es wirklich der „Publikumsmagnet“ geworden ist, wie es ihm prophezeit wurde – trotz guter Besucherzahlen. Gegen die anfangs bespöttelte Kombination aus „Kunst, Kultur und Sport“ wäre nichts einzuwenden. Wenn diese Plattform mehr böte als eine lose Abfolge von Ausstellungen, Lesungen, Talks und Workshops.

Das Haus wirkt oft leer und steril: außen Rokoko, innen aseptischer White Cube, Marke Kuehn Malvezzi. Das kalte Restaurant kann es nicht mit dem quirligen Operncafé aus dem alten Prinzessinnenpalais aufnehmen. Einen brodelnden Melting Pot aus Massen- und Hochkultur stellt man sich anders vor.

Vielleicht sollte sich das Palais die Kunst Caline Aouns zum Vorbild nehmen: ab und zu den ganzen Laden mal gezielt in einen Ausnahmezustand manövrieren.

Caline Aoun: „Seeing Is Believing“. Palais Populaire, Unter den Linden. Noch bis zum 2. März 2020. Katalog, Kerber Verlag, 32 Euro. Der Launch des Bandes findet am 21. Januar um 19 Uhr im Palais statt
Dieser Beitrag ist eine Übernahme von taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.

Über Ingo Arend:

Der Autor ist Politologe und Historiker, er schreibt über Kunst und Politik. Stationen machte er beim Freitag, bei der taz und beim Deutschlandfunk Kultur. Er ist Mitglied im Präsidium der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK).