Von Peter Wahl
Europa ist zum Epizentrum der Corona-Krise geworden. Doch die EU spielt im Krisenmanagement kaum eine Rolle. Die Krise zeigt, dass die wichtigsten politischen, finanziellen, rechtlichen und kulturellen Ressourcen von Staatlichkeit nach wie vor bei den Nationalstaaten liegen.

149.186 bestätigte Corona-Infektionen und 8.265 Tote gab es in der EU bei Fertigstellung dieses Artikels am Abend des 22. März, und das Schlimmste kommt noch. Schon jetzt ist klar, dass die Zahlen am Ende sehr viel höher sein werden – auch sehr viel höher als in China, das die Seuche inzwischen unter Kontrolle zu haben scheint.

Jetzt rächt sich die dünkelhafte Süffisanz, mit der die Epidemie und das Krisenmanagement der Chinesen im Westen begleitet worden war. So etwas ist bei uns nicht möglich! – so der kollektive Irrtum der herrschenden Eliten und ihrer Medien. Erst als in der Lombardei die Hölle losbrach, dämmerte es, welch ein Tsunami auf uns zurollt. Aber da war schon wertvolle Zeit vergeudet. Eine Arche baut man, bevor die Sintflut kommt.

Während die PR-Maschinerie der EU-Kommission noch damit beschäftigt war, sich für die BREXIT-Verhandlungen auf Boris Johnson einzuschießen, brach in den Mitgliedsstaaten fieberhafte Hektik aus. Grenzen wurden unilateral geschlossen. Maßnahmen aus dem Arsenal des Notstandsregimes beschlossen, die tief ins öffentliche Leben, die Wirtschaft und die individuellen Freiheiten eingreifen, wie seit dem Krieg nicht mehr. Zugleich wurden riesige Hilfspakete verkündet, und der französische Präsident nutzte die Gelegenheit, seine neoliberale Rentenreform, die wochenlang zu spektakulärem Widerstand geführt hatte, ohne Gesichtsverlust zu entsorgen.

Nach dem islamistischen Terror und dem Crash des Finanzkapitalismus‘ 2008 ist nun erneut eine dunkle Seite der Globalisierung mit aller Macht über uns hereingebrochen. Die EU, die schon immer zu deren eifrigsten Befürwortern und Betreibern gehörte, dürfte aber zu den Verlierern der neuen Krise gehören. Einmal mehr zeigt sich, dass ihre Strukturen, ihre Instrumentarien und ihre Entscheidungsprozeduren eine Schönwetterkonstruktion sind, die den großen Herausforderungen unserer Zeit schon lange nicht mehr gewachsen sind – geschweige denn einer so außergewöhnlichen Krise wie dieser Pandemie.

Ende der Illusionen über die EU

Erwartungsgemäß klagen die Anhänger von „Mehr Europa!“ bitterlich, dass Brüssel beim Management der Corona-Krise abgehängt ist: „Wenn es hart auf hart kommt, sind in Europa die nationalen Egoismen noch immer stärker als jeder internationale Solidaritätsappell,“ so stellvertretend für viele Martina Meister in der WELT am 20. März.

Abgesehen von der Anmaßung, die EU sei Europa, nässt hier wieder der fundamentale Irrtum durch, der sich durch so viele europapolitische Debatten zieht, nämlich: die EU sei ein Staat, so wie die USA, China, Indien, Russland, und verfüge über die entsprechenden Handlungsmöglichkeiten.

Aber man kann es nicht oft genug wiederholen: die EU ist kein Staat, sondern ein Gebilde sui generis, eine einmalige Konstruktion, staatstheoretisch nicht Fisch noch Fleisch, die aus zwei grundlegenden Komponenten besteht: zum einen einer Allianz aus Nationalstaaten – was nichts Besonderes ist und auch anderswo existiert – und zum anderen supranationalen Komponenten, wie dem Binnenmarkt oder die sogenannten vergemeinschafteten Politikbereiche, wie Landwirtschaft oder Handel.

Diese Kombination führt zu einer komplexen Hybridkonstruktion. Ursprünglich sollte das nur eine Übergangsphase sein, an deren Ende ein richtiger Territorialstaat steht, die Vereinigten Staaten von Europa. Inzwischen ist klar, dass daraus nichts wird. Die Integration ist stecken geblieben, und heute dominieren die gegenläufigen Tendenzen. Die Briten sind ausgetreten, die internen Spaltungslinien vertiefen sich: zwischen Ost und West, Nord und Süd, Frankreich und Deutschland, Euro- und nicht Euromitglieder, Große und Kleine, pro und contra Migration, Nettozahler und -empfänger. Interne Spannungen und Zentrifugalkräfte nehmen zu. In diese Lage platzt nun die neue Krise hinein.

Hinzu kommt, dass die Gesundheitspolitik nicht vergemeinschaftet ist, also gar nicht in die supranationalen Kompetenzen der EU fällt, sondern in der Verantwortung der Mitgliedsstaaten liegt. Was nicht ausschließt, dass Brüssel mit anderen Hebeln indirekt doch Einfluss auf die nationalen Gesundheitssysteme nimmt, etwa durch das Wettbewerbsrecht. Das hat in der Vergangenheit immer wieder Privatisierungsdruck bei den Dienstleistungen der Daseinsfürsorge erzeugt, und damit auch dafür, Gesundheit zur Ware zu machen.

Natürlich sind weder die EU noch der Kapitalismus für die Entstehung des Virus verantwortlich. Aber die Fähigkeit eines kaputtgesparten Gesundheitssystems mit einer Pandemie fertig zu werden hat sehr viel mit dem neoliberalen Kapitalismus zu tun, wie er von der EU mit ganz besonderer Verbissenheit verfochten wird.

Die Stunde des Nationalstaats

Die Krise ist die Stunde des Nationalstaats. Es zeigt sich, dass die wichtigsten finanziellen, rechtlichen politischen und kulturellen Ressourcen nach wie vor in seiner Hand konzentriert sind. Die These, die Globalisierung habe den Nationalstaat obsolet gemacht, ist einmal mehr von der Wirklichkeit widerlegt.

Man muss den Nationalstaat deshalb nicht mögen. Aber man muss realistisch sehen, dass es bisher keine Form der Vergesellschaftung von Großkollektiven gibt, die über so viel Gestaltungpotential verfügt. Außerdem ist er bisher die einzige Vergesellschaftungsform, die die parlamentarische Demokratie und den Sozialstaat ermöglicht. Also alles Dinge, die die EU nicht zu bieten hat.

Ohnehin ist keineswegs das Ziel der EU, den Nationalstaat zu überwinden, wie viele EU-Fans aus dem links-liberalen und linken Spektrum glauben. Das scheinbar so hehre Ziel der Vereinigten Staaten von Europa ist nicht die Überwindung des Nationalstaates, sondern seine Reproduktion in Großmachtformat.

Die Epidemie selbst bietet eine eindrückliche Illustration dafür: während einerseits mangelnde Solidarität beklagt wird, erlässt die Kommission dort, wo sie über Zuständigkeiten verfügt – wie in der Handelspolitik – ein knallhartes Exportverbot für Beatmungsgeräte und andere medizinische Ausrüstung zur Bekämpfung der Seuche. Sollen „die Anderen“ doch sehen, wo sie bleiben – EU first! Deshalb muss zum Beispiel Serbien, europäisches Nachbarland der EU und Beitrittskandidat, medizinische Ausrüstung aus China beziehen.

Dass der Nationalstaat auch Risiken birgt, ist natürlich richtig. Er ist nun mal Staat und damit auch immer mit Macht und Herrschaft verknüpft. Vor allem wenn sich staatliche Gestaltungsmacht mit Überlegenheitsdenken für das Eigene und die Abwertung des Anderen paart, also mit der Ideologie des Nationalismus, wird es gefährlich. Aber das ist kein Automatismus. Nicht jeder Nationalstaat hat zwei Weltkriege angezettelt und sechs Millionen Juden ermordet.

Stabilitätspakt am Ende – Die Stunde der „unorthodoxen Maßnahmen“

Auch wenn der Nationalstaat der wichtigste Faktor zur Bewältigung der Krise ist, so folgt daraus nicht, dass internationale Zusammenarbeit überflüssig wäre. Ganz im Gegenteil, sie ist notwendiger als je zuvor. Und das nicht nur in der Corona-Krise, sondern auch bei den globalen Problemlagen von Klima und Umwelt, in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen, bei der Sicherung von Frieden und, und, und …

Aber dazu muss man sich aus der Zwangsjacke des Supranationalismus befreien und mit der neoliberalen Pfadabhängigkeit brechen, die die EU-Verträge erzwingen. Die Frage ist, ob die Seuche den längst überfälligen Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik ermöglicht.

Corona wird auf alle Fälle zu einer schweren Rezession führen. Die wirtschaftlichen Folgen werden lange Zeit nachwirken. Daher war es richtig, dass einige Mitgliedsländer, darunter die Schwergewichte Italien, Frankreich und Deutschland mit der Ankündigung großer Rettungspakete auf eigene Faust vorgeprescht sind. Es ist klar, dass man die Maastrichtkriterien damit vorerst vergessen kann, ebenso wie die Schwarze Null im Stabilitätspakt. Die Kommission hat daraufhin auch offiziell den Stabilitätspakt außer Kraft gesetzt. Die Chance dass der Zombie dann nach der Krise Wiederauferstehung feiert, dürfte eher gering sein.

Auch die EZB hat für die Euro-Zone ein Notprogramm über 750 Milliarden Euro beschlossen, das in Kürze sicher weiter aufgestockt werden wird. Wir werden erleben, wie die Zentralbank ganz unorthodox unerschöpfliche Mittel zu Verfügung stellt. Dazu muss das Geld nicht einmal mehr gedruckt werden, all das geht heute digital. Die Nicht-Euroländer haben ihrerseits begonnen, ihre Währungssouveränität für große Rettungspakete zu nutzen.

Ob auch der ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus) mobilisiert werden kann, mit dem Staatspleiten im Euro-Raum verhindert werden sollen, ist noch ungewiss. Seine Mittelvergabe ist an austeritätspolitische Konditionen geknüpft. Andererseits steht der Fonds außerhalb des EU-Regelsystems. Er beruht auf einer rein intergouvernementalen Vereinbarung und könnte daher leicht modifiziert werden.

Der Staatsinterventionismus wird also eine ungeahnte Renaissance erleben, während der Marktfundamentalismus in der Defensive ist. Die spannende Frage ist, ob das nach der Krise wieder zurückgedreht werden kann.

Zwar hört man allenthalben Sätze wie: „Und nach dieser Krise – so viel ist klar – wird die Welt nicht mehr dieselbe sein wie vorher.“ Schön wäre das, aber kann man da so sicher sein? Das Zitat stammt aus einem Interview des SPIEGEL vom 29. September 2008, mit dem damaligen Finanzminister Peer Steinbrück. Inzwischen wissen wir, dass sich nicht allzu viel verändert hat. Aber vielleicht klappt es dieses Mal, und Bertolt Brechts Gedichtzeile von 1952 erweist sich endlich mal als Irrtum: „Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz.“
Dieser Beitrag erschien zuerst bei Makroskop, hier mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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