Beueler-Extradienst

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Kreuzzug der Pfingstbewegung

von Viviane de Santana Paulo (Übersetzung: Laura Held)
Die evangelikale Politik in Brasilien und der Welt

Der politisch aggressive religiöse Fundamentalismus ist nicht nur ein Phänomen im Hinduismus oder Islam, sondern auch im Christentum. Dort gewinnen vor allem die (Neo-)Pfingstkirchen weltweit an Einfluss. In der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA entstandenen christlichen Strömung spielt der Heilige Geist eine zentrale Rolle in Lehre und Praxis, in den meisten theologischen Fragen folgt sie der Tradition des Evangelikalismus (eine theologische Richtung innerhalb des Protestantismus, die auf den deutschen Pietismus, den englischen Methodismus und die Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts zurückgeht). Die Pfingstbewegung entwickelte im Laufe ihrer Geschichte eine besondere Tendenz zu mitreißenden, sehr wirksamen charismatischen Predigten. Das kommt an und wird auch politisch instrumentalisiert, am stärksten derzeit in Brasilien und den USA, aber keineswegs nur dort.

Anfang des 20. Jahrhunderts verließen evangelikale pfingstlerische Missionar*innen die USA, um die Welt zu bekehren, vor allem Lateinamerika, Afrika und Südostasien. Der erste Missionar kam 1910 nach Brasilien und gründete in São Paulo die Congregação Cristã (Kongregation Christi). Ein Jahr später waren es zwei in den USA evangelisierte Schweden, die in Belem die Assembléia de Deus (Versammlung Gottes) gründeten. Im Jahr 1950 riefen US-Missionare von der International Church of the Foursquare eine zweite Gruppe von Pfingstkirchen in Brasilien ins Leben, sie verkündeten den Nationalen Kreuzzug der Evangelisierung in São Paulo und gründeten später die Igreja do Evangelho Quadrangular (Kirche des vierseitigen Evangeliums, 1953), Brasil para Cristo (Brasilien für Christus, 1955) und andere. Alle diese Kirchen predigten die göttliche Heilkraft durch die Taufe, benutzten das Radio zur Verbreitung ihrer Vorstellungen und bereiteten den Weg für das, was zwei Jahrzehnte später als Neopentecostalismus oder Neopfingstbewegung bekannt wurde.

Wer gottgefällig lebt, wird reich

Diese kam in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre auf. Gemeinsam sind den alten und neuen Pfingstkirchen das Predigen der göttlichen Heilkraft sowie der spirituelle Krieg gegen den Teufel und seine Repräsentant*innen auf der Erde. Viele predigen eine Theologie des Wohlstandes (wer gottgefällig lebt, wird reich) und glauben, dass ein Christ wohlhabend, gesund, glücklich und erfolgreich in seinen Unternehmungen sein sollte. Sie verbreiten ihre Vorstellungen durch alle elektronischen Medien und benutzen modernste Marketingstrategien zur Propaganda und Kommunikation. Und sie sind ungeheuer erfolgreich dabei, den Zehnten einzutreiben (jede*r Gläubige muss zehn Prozent der eigenen Einkünfte an die Kirche zahlen).
Die Pfingstbewegung ist ein komplexes und vielfältiges Phänomen, da es anders als im Katholizismus keine oberste Glaubensbehörde gibt, die definiert, was rechtgläubig ist. So gibt es etwa evangelikale Kirchen für die Reichen und andere, die sich speziell an die Armen richten. Im Jahr 2001 gründete ein lesbisches Paar die Cidade de Refúgio, die sich um eine lesbische Gemeinde kümmert. Und ein schwules Paar gründete 2013 die Igreja Cristã Contemporânea für homosexuelle Gläubige beiderlei Geschlechts. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Mehrheit und vor allem die großen Neopfingstkirchen in Brasilien in Fragen der Sexualmoral extrem reaktionär und dezidiert homophob auftreten.

Seit den 1990er-Jahren übt der Neopentecostalismus einen immer stärkeren Einfluss in der brasilianischen Gesellschaft und Politik aus. Dafür gibt es verschiedene Gründe, darunter der Übergang von einer Militärdiktatur zu zivilen Regierungen, eine Änderung der pfingstlichen Doktrin weg von sich selbst zugewandten hin zu in die Welt gerichteten Kirchen, was eine tiefgreifende Einmischung in soziale und politische Problemfelder ermöglichte, der nach den zunächst hohen Erwartungen an die zivilen Regierungen einsetzende Vertrauensverlust in die Politik und die Politiker*innen und zuletzt die Abwesenheit des Staates in sozialen Fragen. Vor allem im Südosten Brasiliens breitete sich der Evangelikalismus aus, später im Norden und der Mitte des Landes, während der Nordosten den katholischen Traditionen treu bleibt und auch der Süden nur geringe evangelikale Zuwächse aufweist.

Gründer Macedo ist Medienzar und Multimilliardär

Die wichtigsten drei Kirchen der Pfingstbewegung sind die Assembléia de Deus (AD), die Igreja Universal do Reino de Deus (IURD oder Universal) und die Igreja Evangelho Quadrangular (IEQ). Keine wuchs so schnell und in so kurzer Zeit wie die 1977 von Edir Bezerra Macedo in Rio de Janeiro gegründete IURD, die heute fünf Millionen Anhänger*innen zählt. Die IURD und die AD unterstützten die Wahlkampagne des rechtsextremen Jair Bolsonaro massiv.
Macedo ist heute Multimilliardär. Ihm gehört die zweitgrößte Mediengruppe Brasiliens, die Rede Record, außerdem Zeitschriften, Filmgesellschaften und Finanzinstitutionen. Auch die meisten anderen Pfingstkirchen benutzen die Religion als Deckmantel zur Gründung eines „Unternehmens“ mit dem Ziel, Geld zur persönlichen Bereicherung ihrer Führer*innen zu sammeln oder um soziale und politische Macht zu erwerben. Nach einer Erhebung der brasilianischen Presseagentur Agência Popular schulden mehr als tausend religiöse Organisationen den Finanzbehörden fast eine halbe Milliarde Reais. Wohl auch deshalb streben die Pfingstkirchen eine totale Steuerbefreiung an, ein Ansinnen, dem sie mit der Wahl Bolsonaros näher gekommen sind.

Schlüsselqualifikation: Mitgliedern Geld aus der Tasche ziehen

Um evangelikaler Pastor oder Pastorin zu werden, braucht man kein theologisches Studium, sondern vor allem Charisma und Organisationstalent sowie die Fähigkeit, den Kirchenmitgliedern das Geld aus der Tasche zu ziehen. Dabei bringen die Anhänger*innen der IURD die größten Summen auf, obwohl die meisten nur ein geringes Einkommen haben. Investiert werden die Geldmittel in den Bau neuer Tempel, in Immobiliengeschäfte, kommerzielle Aktivitäten rund um die religiöse Arbeit, in den Unterhalt einer großen Anzahl von Prediger*innen und, ganz massiv, in die Propaganda und den „elektronischen Evangelikalismus“. Hinzu kommt die Bereicherung der Kirchengründer.
Silas Malafaia, der führende Pastor der Vitória em Cristo (Sieg mit Christus), eine eng mit der AD verbundene Kirche, ist der drittreichste Pastor Brasiliens. Er tritt auch als „Televangelista” auf und ist bekannt für seine politischen Interventionen, seine Hate Speech und sein vulgäres Vokabular, wenn es um Themen wie Feminismus, die Rechte von Homosexuellen, Schwangerschaftsabbrüche sowie gegen die Presse und die Linke geht. Bei den Wahlen 2012 war er evangelikaler Wahlkampfleiter des gemäßigt konservativen Kandidaten José Serra (PSDB) für das Bürgermeisteramt von São Paulo und unterstützte die Wahl von 24 Bürgermeister*innen und 16 Stadträten in sieben Bundesstaaten. Bei den Wahlen 2014 führte er den Wahlkampf für Aécio Neves (ebenfalls PSDB), als der sich um das Präsidentenamt bewarb. Im Jahr 2018 unterstützte er dann Jair Bolsonaro.
Ein anderer charismatischer und sehr einflussreicher Evangelist ist Senator Magno Malta, Pastor der Kirche Assembleia de Deus Vitória em Cristo. Malta ist wegen Falschaussage und Folter angeklagt. Der frühere Busschaffner Luiz Alves de Lima wurde gefoltert und fast umgebracht, nachdem ihm vorgeworfen wurde, seine eigene Tochter vergewaltigt zu haben. Im Jahr 2009 präsentierte Magno Malta, der an der Untersuchung direkt beteiligt gewesen war, der lokalen und nationalen Presse Alves de Lima als Vergewaltiger. Er erreichte, dass der Fall in Fernsehen, Radio und Zeitschriften riesige Schlagzeilen machte und er selbst als Held gefeiert wurde, der die Vergewaltigung aufgedeckt und den Schuldigen bestraft hatte. Als sich herausstellte, dass die Vorwürfe falsch waren, wurde Luíz Alves de Lima 2016 von allen Anklagepunkten freigesprochen. Er ist in Folge der Folter teilweise erblindet.

Auch Lula und Dilma paktierten

Malta verbündete sich zunächst mit Ex-Präsident Lula, war später Wahlkampfleiter von Magno Malta, ebenfalls von der Arbeiterpartei PT. Als sich der Wahlsieg von Bolsonaro abzeichnete, stieg er für ihn in den Wahlkampf ein. Bolsonaro versprach ihm dafür ein Amt, löste dieses Versprechen aber nach seiner Wahl nicht ein.
Wer dagegen ein Amt bekam, nämlich das Ministerium für Frauen, Familie und Menschenrechte, war die Pastorin Damares Alves von der Kirche Evangelho Quadrangular. Sie ist eine der beiden Frauen im Kabinett Bolsonaros. Die Pastorin ist bekannt für ihre polemischen Erklärungen, wie zum Beispiel: „Die Mädchen von der Insel Marajó werden vergewaltigt, weil sie keine Unterhosen tragen.“ Sie startete eine Kampagne, um Sex unter Jugendlichen zu verhindern, damit will sie die „Legalisierung der Pädophilie“ bekämpfen. Damares ist vermutlich die stärkste unter den Persönlichkeiten, die die neue konservative Welle in Brasilien nach oben geschwemmt hat. Ihre oft absurden und widersprüchlichen Äußerungen finden einen großen Widerhall in der religiösen Bevölkerung in den Armenvierteln der Großstädte.

Versklavung von Indigenen – Bibel-, Blei- und Bullenfraktion

Kürzlich wurde der evangelikale Anthropologe Ricardo Lopes Dias zum Leiter der Stabsstelle der Indigenenbehörde FUNAI für isoliert lebende und erst kürzlich kontaktierte Gemeinschaften. Lopes Dias war von 1997 bis 2007 in der fundamentalistischen US-Organisation „Mission Neuer Stammesgruppen Brasiliens“ (Missão Novas Tribos do Brasil, MNTB) aktiv, die seit den 1950er-Jahren brasilianische Indigene evangelisiert. Die Mitglieder der MNTB glauben, dass Christus erst dann ein zweites Mal zur Erde herabsteigen wird, wenn auch der letzten Person auf der Erde das Evangelium verkündet wurde. Nach Forschungsarbeiten von Xilonem Clarke von der NGO Survival wurden die Indigenen gewaltsam sesshaft gemacht, ihre Haare abgeschnitten und sie mussten „westliche“ Kleidung tragen. Sie wurden gezwungen, in den Niederlassungen der Missionare zu arbeiten, und ihnen wurde gesagt, sie müssten ihrem Glauben abschwören. Als Folge davon verloren einige Indiogruppen ihr Land und viele Indigene starben an Krankheiten, die von den Missionar*innen eingeschleppt worden waren.
Heute verfügt die 2003 gegründete Evangelikale Parlamentarische Front (Frente Parlamentar Evangélica, FPE) im Kongress über die meisten Stimmen. Sie ist unter dem Namen Bancada Evangélica bekannt. In ihr finden sich Senator*innen und Abgeordnete der Mitte und der Rechten. Sie arbeiten zusammen gegen Gleichberechtigung, Sexualerziehung, die Entkriminalisierung von Abtreibungen, die Ehe von Lesben und Schwulen und stellen sich gegen die Strafverfolgung von Gewalt gegen Homo-, Bi- oder Transsexuelle. Der Politologe João Luis Binden hat in seiner Doktorarbeit die Zusammensetzung der Bancada Evangélica untersucht: „Es sind überwiegend Gläubige der Pfingst- beziehungsweise der Neopfingstbewegung (65 Prozent), vor allem der beiden Kirchen Universal do Reino de Deus und Assembleia de Deus. Es sind überwiegend Männer (91 Prozent), Verheiratete (90,8 Prozent), ihr Bildungsgrad liegt unterhalb dem der anderen Mitglieder des Parlamentes.“. Zusammen mit der Bancada Evangélica agieren im Nationalkongress noch die Bancada Armamentista (Rüstungsbefürworter) und die Bancada Ruralista (Großgrundbesitzer), zusammen bilden sie die parteiübergreifende Bancada BBB (bala, boi e Bíblia – Bibel-, Blei- und Bullenfraktion). Sie beherrschen den Kongress.

Im August besuchte, finanziert von US-Vizepräsident Mike Pence und Außenminister Mike Pompeo, eine Delegation fundamentalistischer Christen aus den USA Brasilien. Ihr Ziel: den brasilianischen Kongress zu evangelisieren, das heißt, Politiker*innen für eine Pro-US-amerikanische Politik zu gewinnen. Der US-Pastor Ralph Drollinger, Gründer der Capitol Ministries, der die evangelikale Politik im US-Kongress und weltweit in den Regierungen und Parlamenten vorantreiben will, predigt Folgendes: „Sie, als öffentliche Dienstleister, helfen Sie mit, die säkularen, antibiblischen Bestrebungen in Richtung Pazifismus und Nichteinmischung zu verhindern! Schließlich führen sie zu einer Steigerung des globalen Chaos!” Seine Mission besteht darin, Politiker*innen und Staatsbedienstete zu einer christlich-evangelikalen Sicht der Politik zu „bekehren”, die perfekt mit der US-amerikanischen Ultrarechten harmoniert.
Die Evangelikalen mobilisieren sich auch innerhalb der UN. Die brasilianische Vereinigung Evangelikaler Juristen (Anajure), in der sich 700 Lehrkräfte, Richter*innen, Rechts- und Staatsanwält*innen zusammengeschlossen haben, hat einen „besonderen Beraterstatus“ in der UN beantragt. China und Cuba haben sich dagegen ausgesprochen, aber es sieht so aus, dass sie damit durchkommen. „Dann können wir auch innerhalb der UN Einfluss nehmen, so wie wir bereits innerhalb der OAS agieren. Das ist ein wichtiger Schritt für unsere internationale Mission“, sagt Uziel Santana, Präsident der Vereinigung.

Infiltration von UN-Strukturen, Ausbreitung in ganz Lateinamerika

Laut Santana entstand die Anajure 2008/2009 als Reaktion der Religiösen auf einige Gesetzesvorhaben im damaligen Kongress. Dazu gehörte das PL 122, das vorsah, Homophobie unter Strafe zu stellen. Anajure will bis heute verhindern, dass Homosexualität nicht mehr als Krankheit angesehen wird. Ein weiteres Ziel ist die Verabschiedung des Familienstatuts, das unter anderem definiert, dass eine Familie die soziale Keimzelle ist und aus der Vereinigung von Mann und Frau hervorgeht. Mithilfe eines privilegierten Status bei der UN hoffen die Evangelikalen, Unterstützung für ihre ultrakonservativen Ziele in Brasilien und international zu erhalten.
Der Neopentecostalismus gewinnt weltweit an Einfluss. In Lateinamerika ist er nicht nur in Brasilien, sondern auch in Kolumbien, Mexiko, Peru, der Dominikanischen Republik und Venezuela längst ein relevanter politischer Faktor. Allein die Universal do Reino de Deus verfügt über mehr als 14 000 Pastoren und ist in über 100 Ländern aktiv.

Illegale Adoptionen in Portugal – Vertretungen in elf deutschen Städten

In Europa ist sie am stärksten in Portugal vertreten, wegen der Sprache und weil es dort viele brasilianische und afrikanische Migrant*innen gibt. Im Dezember 2017 kam dort die Verstrickung der IURD in ein System illegaler Adoptionen brasilianischer Kinder ans Licht. Daraufhin gab es mehrere Reportagen im portugiesischen Fernsehsender TVI unter dem Titel O segredo dos deuses (Das Geheimnis der Götter), in denen eine ganze Serie von Unregelmäßigkeiten der Universal aufgedeckt wurde, die die portugiesische Justiz beschäftigen.
In Deutschland ist die IURD in elf Städten präsent, darunter in Hamburg, Köln, Frankfurt und München. In Berlin hält die IURD ihre Gottesdienste in der historischen Nazareth-Kirche auf dem Leopold-Platz ab, im Herzen des Wedding. Im Jahr 2019 versuchte die IURD die Kirche zu kaufen, was der grüne Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel verhinderte: „Die Präsenz der IURD ist weder eine Bereicherung für unseren Bezirk noch für die Umgebung“, meinte von Dassel. Auch in Deutschland steigt die Zahl der Gläubigen der Pfingstkirchen, in den letzten beiden Jahren um zwölf Prozent.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 434 April 2020 (die Webseite geht wieder), hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn.

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Ein Kommentar

  1. Roland Appel

    Religion ist Opium fürs Volk und Pest für die Demokratie.

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