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Schwarz-grau gefleckt, den Kopf leicht nach unten geneigt. Ich war gerade auf dem Weg zum Supermarkt, als ich plötzlich diese Krähe auf dem Dach der parkenden roten Limousine sitzen sah. Krähe, genau. Eines dieser Exemplare aus der Familie der Rabenvögel, die im Hinterhof neuerdings Mülltüten zerlegen. Sie plusterte sich auf, rutschte mit ihren Klauen auf dem spiegelglatten Dach nach vorne. So selbstverständlich, als sei ich derjenige, der sich zu erklären hätte.

Auch als ich näher kam, machte der Vogel keine Anstalten, seine Flügel auszubreiten und zu verschwinden. Diesen Ritus der Distanznahme beherzigen selbst die Spatzen, die meinen Balkon als Boxenstopp bei ihren Sturzflügen durch die urbanen Schluchten nutzen, obwohl sie spätestens seit dem Tag keinen Feind mehr in mir erkennen, an dem ich eine stets mit frischem Wasser gefüllte Schale auf den Tisch gestellt hatte, in der sie ausgiebig baden können.

Einen Moment fühlte ich mich wie Tippi Hedren in Hitchcocks Thriller „Die Vögel“, die einer Schar der Lufteroberer zu entkommen versucht. Schließlich besann ich mich, stellte meine Taschen ab und sah ihr fest ins Auge. So wie man einen Tiger im Ansprung mutig anschauen soll, um ihn zu beeindrucken. Sie zuckte mit keinem Schlag ihres hornigen Lids. Ich war seltsam angefasst von meiner klammheimlichen Furcht vor einem Vogel, der kaum halb so groß wie mein Kopf war. Aber auch konsterniert von dieser Schrecksekunde interspezieller Fremdheit. So sieht es also aus, wenn man mit der Kreatur auf Augenhöhe ist: Lauern und ein Ozean des Nichtverstehens. Benommen schlich ich weiter. Als ich mich umdrehte, sah auch die Krähe mir nach.

Seit Beginn des Coronozäns, so die Sage, sollen die Tiere ­wieder die Kontrolle über die Zivilisation übernommen haben. Das ist natürlich romantischer Unsinn. Mit Ausnahme der Herde wilder Kaschmir­ziegen vielleicht, die das walisische Seebad Llandudno geentert hatten. Aber die Delfine, die wieder durch Venedigs Kanäle oder den Bosporus tollten, waren Memes.

An das neue Reich der Tiere glaube ich erst, wenn ich Delfine im Landwehrkanal sehe, Katzen auf der Admiralbrücke Musik machen und die Ameisen Wahlrecht haben. Doch irgendwie war die Fauna schon anders präsent. Lag es nur am Fehlen des Autolärms, oder schickten die Vögel ihre Zwitscherwolken selbstbewusster als sonst in den Äther? Bei meinen mitternächtlichen Spaziergängen passierte ich immer eine Pappelgruppe am Rande eines Bolzplatzes, in der sich Nachtigallen einen Ariendisput lieferten. Und wie angewurzelt blieb ich stehen, als ich auf der Brücke über den Ausläufern des Gleisdreieck-Parks plötzlich das nebelhornähnliche Stakkato einer Eule zu hören meinte.

Auch wenn ich sie nicht verstand: Tiere schienen mir in diesen Tagen die ungefährlicheren Date-Partner. Sie brachten mir eine gewisse Zuneigung entgegen, ohne mir gefährlich nahe zu kommen. Nicht alle verstanden meine Annäherungsversuche. Der Fuchs, den ich nachts neben einer Elektroauto-Ladestation traf, trollte sich indi­gniert, als ich mit über den Kopf gezogenem Hoodie vor ihm auf die Knie ging wie vor 46 Jahren Joseph Beuys vor einem Kojoten in New York. Zur wahren Freundin wurde mir die braun gemusterte Hauskatze, die vor dem geöffneten Fenster einer Erdgeschosswohnung saß und mich jede Nacht mit großen grünen Augen erwartete. #safethedate flüsterte ich ihr zu. Neugierig schnupperte sie an mir, wandte den Kopf und verschwand hinter den wehenden Gardinen in das rötlich schimmernde Boudoir dahinter.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme von taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.

Über Ingo Arend:

Der Autor ist Politologe und Historiker, er schreibt über Kunst und Politik. Stationen machte er beim Freitag, bei der taz und beim Deutschlandfunk Kultur. Er ist Mitglied im Präsidium der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK).