Was bedeuten die Ereignisse von Washington eigentlich für Joe Biden? Es ist mehr als fraglich, ob er als Präsident seinen Kurs der nationalen Versöhnung weiter fahren kann
Diskutiert wird derzeit – wieder einmal – über den noch immer amtierenden US-Präsidenten Donald Trump, dieses Mal über den Anteil an Schuld, den er an dem Angriff eines Mobs auf das Kapitol in Washington trägt. Ich finde, salopp gesagt, er gehört hinter Gitter, aber mehr will ich darüber jetzt nicht schreiben. Genug ist genug. Ein anderes Thema halte ich inzwischen nämlich für sehr viel wichtiger: was die Ereignisse für Joe Biden bedeuten. Sie drohen seine Präsidentschaft scheitern zu lassen. Gleich zu Beginn und ohne dass er einen großen Handlungsspielraum hätte. Donald Trump darf sich gratulieren.
Das kann lange dauern
Politische Gewalt hört nicht einfach auf, wenn sie einmal angefangen hat und von einem nennenswerten Teil der Bevölkerung für richtig gehalten wird. Sie endet meist erst dann, wenn die Ziele wenigstens teilweise erreicht sind oder der öffentliche Beifall erstirbt. Das kann lange dauern.
Joe Biden hat seinen Wahlkampf unter die Überschrift der nationalen Versöhnung und der Zusammenarbeit über Parteigrenzen hinweg gestellt. Je nach Standpunkt konnte man das naiv oder ehrenwert oder beides finden. Fest steht: Die Ereignisse sind über seinen Kurs hinweggerollt und haben ihn plattgemacht.
Die Wortführer des Mobs, der das Kapitol stürmte, sind – soweit sie bisher bekannt sind – allesamt Rechtsextremisten. Ohne gemeinsame Organisationsstruktur, aber mit ähnlichen Überzeugungen: dass die Vorherrschaft der Weißen gottgewollt ist, das Recht auf Waffenbesitz unveräußerlich und dass liberale politische Ansichten das Ende der Zivilisation bedeuten. Geltendes Recht und die Verfassung sind diesen Leuten egal, wenn sie ihre Positionen durchsetzen wollen.
Und es geht bei dem ganzen Gerede über „legal“ und „illegal“ abgegebene Stimmen vor allem um etwas: dem afroamerikanischen Teil der Bevölkerung und anderen Minderheiten ihr Wahlrecht abzusprechen. Um Rassismus eben. Selbst wenn – und ich will Joe Biden da nichts unterstellen – ein liberaler Demokrat es für geboten hielte, hier eine Hand zur Versöhnung auszustrecken: Sie würde hohnlachend weggeschlagen. Kompromissbereitschaft entzieht Rechtsextremisten die Grundlage für ihr Handeln. Immer und überall.
Solange zumindest ein Teil der republikanischen Partei so tut, als sei die Frage nach dem Wahlausgang sachlich und legitim, so lange kann Joe Biden fast nichts für die nationale Versöhnung tun. Anders ausgedrückt: Obwohl die Republikaner inzwischen sogar die Mehrheit im Senat verloren haben, sind noch immer sie es, die an den Fäden ziehen können. Hat noch jemand Fragen, warum manche in ihren Reihen nach wie vor das Wahlergebnis in Zweifel ziehen?
Niederlage für demokratische Öffentlichkeit
Wäre ich verantwortlich für die Sicherheit während der Feier zur Amtseinführung von Joe Biden – zum ersten Mal wäre ich vermutlich dankbar für Corona. Auf die Seuche lässt sich schieben, was im Licht der Ereignisse ohnehin unvermeidlich ist: kein Bad in der Menge, kein Auftritt vor jubelndem Publikum. Viel zu riskant. Was für eine Niederlage für die demokratische Öffentlichkeit.
Und, dramatischer und folgenreicher: Es ist nicht auszuschließen, es ist sogar wahrscheinlich, dass Joe Biden am Tag seiner Amtseinführung den Einsatz von Sicherheitskräften gegen Demonstranten anordnen muss. Wenn die radikale Rechte in den USA nicht vollständig planlos ist, dann bereitet sie Aktionen vor, die genau zu diesem Termin genau das erzwingen. Bisher spricht nichts dafür, dass sie planlos ist. Ein schauerliches Symbol für den Beginn einer neuen Präsidentschaft wird zu besichtigen sein.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme von taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autorin und Verlag.
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