Brandt, Scheel, Heinemann, Wehner: 1969 – das Jahr, in dem wir sozialliberal wurden
Eine für das deutsche Staatsoberhaupt schier unglaubliche und ungehörige Äußerung ist es gewesen, die das Jahr 1969 in einem Begriff zusammenfasste und zugleich den Übergang von der Adenauer-Ära in die Zeit der sozialliberalen Regierungsjahre kennzeichnete: Machtwechsel.

Gustav Heinemann, SPD-Justizminister der Großen Koalition, verwandte es, wenige Tage, nachdem er im März jenes Jahres von der Bundesversammlung im dritten Wahlgang und bloß mit knapper einfacher Mehrheit gegen den CDU-Verteidigungsminister Gerhard Schröder zum Bundespräsidenten gewählt worden war. Und zwar mit den Stimmen der FDP-Delegierten, was sich als Signal erweisen sollte. Interview mit der Stuttgarter Zeitung, Heinemann: „Es hat sich jetzt ein Stück Machtwechsel vollzogen, und zwar nach den Regeln einer parlamentarischen Demokratie.“ Oft sei gesagt worden, dass eine Demokratie ihre Bewährungsprobe erst dann bestanden habe, „wenn eben nach ihren Regeln auch einmal ein Machtwechsel zustande gekommen ist“. Was wohl heißen sollte, dass die Unionsparteien, die ohne Unterbrechung zwanzig Jahre lang den Kanzler gestellt und die Richtlinien der Politik bestimmt hatten, nun – endlich – in die Opposition gehörten.

Machtwechsel? Heinemann schränkte die Bedeutung seiner Präsidentenwahl ein: „Das ist hier nicht in breiter Front der Fall, das wird sich erst bei den Bundestagswahlen ergeben.“ Doch so sollte es ein halbes Jahr später kommen, und seit Heinemanns Prognose setzte sich in Politik und Medien die Sichtweise durch, Wahlen zum Bundespräsidenten seien eine Vorwegnahme von Bundestagswahlen. Es begannen die 13 Jahre der SPD/FDP-Koalition: Brandt/Scheel, Schmidt/Genscher. Heinemanns Wortwahl hatte bleibenden Nachhall. Arnulf Barings Werk über die Ereignisse von 1969 trug diesen Titel. Sein „Machtwechsel“ wurde ein Bestseller, erschienen 1982, dem Jahr einer abermaligen Wende, zum Ende der Jahre der SPD/FDP-Regierungen.

Manches zeichnete sich ab, einiges war geplant. Doch nichts war selbstverständlich oder gar sicher. In Bonn regierte seit 1966 eine Große Koalition aus Union und SPD unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger und seinem Stellvertreter, Außenminister Willy Brandt, der als SPD-Vorsitzender zweimal vergeblich versucht hatte, Bundeskanzler zu werden. An sich funktionierte das Bündnis der beiden Volksparteien. Deren Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Rainer Barzel (CDU) und Helmut Schmidt (SPD), harmonierten. Finanzminister Franz Josef Strauß (CSU) und Wirtschaftsminister Karl Schiller (SPD) wurden wohlig als „Plisch und Plum“ bezeichnet. Beide Parteilager hatten auch genug von der damals dritten Partei im Bundestag – der FDP. CDU und CSU fühlten sich von den Liberalen drangsaliert, weshalb 1966 – ein Jahr nach der Bundestagswahl – das CDU/CSU/FDP-Bündnis aufgekündigt und Ludwig Erhard (CDU) als Kanzler zum Ausscheiden gezwungen wurde. Der SPD waren die Wirtschafts- und Nationalliberalen nicht geheuer. Unsichere Kantonisten seien sie, weshalb sie von der SPD-Machtmaschine Herbert Wehner „Umfallerpartei“ genannt wurden. Einen Plan hatte die Große Koalition ausgeheckt: die Änderung des Wahlrechts. So wie in Großbritannien sollte auch in der Bundesrepublik das Mehrheitswahlrecht eingeführt werden, was nach dem Stand der Dinge das parlamentarische Aus der FDP bedeutet, aber im Bundestag jeweils zu klaren Mehrheiten geführt hätte. Zu den Besonderheiten gehörte aber: Der junge Helmut Kohl nahm Rücksicht auf die FDP und stimmte in der CDU-Führung als Einziger gegen dieses Vorhaben. Jahre später sollte Kohl den politischen Lohn dafür einheimsen.

Es waren unruhige Jahre. Erstmals wurde der stetige Wirtschaftsaufschwung der Bundesrepublik unterbrochen. In den Hochschulstädten rebellierten die – damals noch so genannten – Studenten – gegen den Vietnamkrieg, gegen die Notstandsgesetze, gegen verknöcherte Strukturen an den Universitäten, gegen den Besuch des Schahs von Persien in Deutschland, gegen den Springerkonzern. Die Parteien taten sich schwer im Umgang mit der „außerparlamentarischen Opposition“ (Apo) – und diese mit den Parteien.

CDU und CSU kamen als Ansprechpartner nicht in Betracht – auch wegen der früheren Mitgliedschaft des Bundeskanzlers Kiesinger in der NSDAP. Dass die SPD mit diesem eine Koalition eingegangen war, führte zu innerparteilichen Auseinandersetzungen. Gegen den Willen der SPD-Führung vollzogen die Jungsozialisten 1968 einen Kurswechsel („Linkswende“); aus einer linientreuen Nachwuchsorganisation wurde ein rebellischer Jugendverband.

Vergleichsweise leicht tat sich die FDP, die sich das oppositionelle Schicksal mit der Studentenbewegung teilte: Im Bundestag hatte sie nichts gegen den Block der beiden großen Parteien zu sagen. Es waren FDP-Politiker, die ins Gespräch mit Studentenführern kamen. Die FDP-Fraktion im Bundestag stimmte gegen die von der Großen Koalition vorgelegten Notstandsgesetze, die im Falle von Katastrophen und Krieg Einschränkungen von Grundrechten vorsahen. Auch anderweitig veränderte sich die FDP unter Walter Scheels Führung. Ausdruck davon war, dass sie ihr Kürzel „FDP“ mit Punkten versah: F.D.P. Als „Pünktchenpartei“ wurde sie von ihren Gegnern verhöhnt. Wie eine Folge der Großen Koalition aber wirkte es, dass auch der rechtsextremistische Rand des politischen Spektrums gestärkt wurde. Die 1964 gegründete NPD rückte in die Landtage von Bayern, Baden-Württemberg, Bremen, Hessen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein ein. Eine Große Koalition stärkt die politischen Ränder, wurde seither analysiert.

In Nordrhein-Westfalen wurde ein Zeichen gesetzt. Während 1966 in Bonn das Nachkriegsbündnis von Union und FDP zerbrach, wurde in der Landesshauptstadt Düsseldorf unter dem SPD-Landesvorsitzenden Heinz Kühn und dem dortigen FDP-Chef Willi Weyer, einem Mann der Parteirechten, eine SPD/FDP-Koalition installiert. Weil es drei Jahre später auch im Bund zu einer solchen Koalition kam, setzte sich die Interpretation durch, koalitionspolitisch gesehen sei das größte Bundesland der Vorläufer der Entwicklungen im Bund. Tatsächlich sollte es dreißig Jahre später mit SPD und Grünen wieder so kommen. Rot-Grün in Düsseldorf nahm Rot-Grün in Bonn vorweg.

Je näher die Bundestagswahl 1969 rückte, desto mehr bröckelte der innere Zusammenhalt der Großen Koalition. 1968 stimmte ein knappes Viertel der SPD-Abgeordneten gegen die Notstandsgesetze und damit gegen den Willen der Partei- und Fraktionsspitze. Vor allem aber rückte die SPD von der Absprache mit der Union ab, bei Bundestagswahlen das Mehrheitswahlrecht einzuführen. Nicht nur die Rücksichtnahme auf die FDP, die über nicht einen direkt gewonnenen Wahlkreis verfügte, trug dazu bei, sondern auch die Einsicht, dass dadurch die Mehrheit von CDU und CSU im Bundestag auf Dauer gesichert worden wäre. Die Führungen der Unionsparteien aber hatten die Zeichen der Zeit nicht erkannt.

Vor allem im Vorfeld und in der Folge der Wahl des Bundespräsidenten kam es zu Annäherungen von SPD und FDP. Die Unionsparteien nominierten Gerhard Schröder, der unter den Kanzlern Adenauer, Erhard und Kiesinger Innenminister, Außenminister und Verteidigungsminister war. Die älteren Herren von CDU und CSU setzten sich durch und verhinderten eine Nominierung Richard von Weizsäckers, der der Favorit der Jüngeren – darunter Helmut Kohl – in der Union war. In der SPD war zwar auch der Verkehrsminister Georg Leber, ein ehemaliger Gewerkschaftsführer, im Gespräch. Nominiert aber wurde Gustav Heinemann, was eine besondere Provokation für die Unionsparteien war. Heinemann, ein protestantischer Christ, hatte früher der CDU angehört und war Anfang der 1950er-Jahre Bundesinnenminister. Doch im Streit um die Wiederbewaffnung verließ er Partei und Kabinett und kam auf Umwegen in die SPD. Noch am Tag vor der Sitzung der Bundesversammlung in Berlin wurde unter den FDP-Delegierten heftig gestritten, wen sie wählen sollten. Der rechte Flügel der Partei favorisierte den beliebten Schröder. Mehrere Probeabstimmungen gab es. Scheel und Hans-Dietrich Genscher sorgten schließlich dafür, dass die überwiegende Zahl der FDP-Delegierten für Heinemann stimmten – als Zeichen für Verlässlichkeit und für die Bereitschaft, ein Regierungsbündnis mit der SPD einzugehen.

Als sich Scheel und Genscher nach der Wahl Heinemanns zur Siegesfeier der Sozialdemokraten am Funkturm begaben, wurden sie gefeiert. Baring notierte: „Brandt umarmte Scheel.“ Die beiden hielten Kontakt. Vor allem neue Initiativen zur Deutschland- und zur Ostpolitik nahmen sie in den Blick. Dass sie innerparteiliche Rücksichten nehmen mussten, war ihnen bewusst: Brandt auf Helmut Schmidt und Herbert Wehner, Scheel auf den starken nationalliberalen Flügel seiner Partei.

Der Abend der Bundestagswahl 1969 sollte einer der – immer noch – dramatischsten der Geschichte der Bundesrepublik werden. Die Unionsparteien kamen auf 46,1 Prozent, ein leichter Verlust, aber doch deren drittbestes Ergebnis. Die SPD gewann drei Punkte hinzu und erhielt 42,7 Prozent. Die FDP aber hatte starke Verluste von 3,7 Prozent zu registrieren und übersprang mit 5,8 Prozent gerade so eben die Sperrklausel. Die NPD scheiterte nur knapp: 4,3 Prozent. CDU und CSU feierten einen Sieg. Sogar eine absolute Mehrheit schien in Sicht. Ihr Parteinachwuchs erschien mit einem Fackelzug bei Kiesinger. Der amerikanische Präsident Richard Nixon gratulierte telefonisch. Walter Scheel sagte um 19:35 im ZDF: „Ich bin der Verlierer dieser Wahl.“ Die Union machte ihm Angebote, um die SPD zu übertrumpfen. Doch sie waren in sich widersprüchlich: Mündliche und schriftliche Zusagen stimmten nicht überein. Auch hatte es Kiesinger versäumt, Gesprächsfäden zur FDP zu knüpfen. Die Absprachen Brandts und Scheels aber hielten. Brandt sagte: „SPD und FDP haben mehr als CDU und CSU.“ Noch am Wahlabend rief er bei Scheel an. Er wolle im Fernsehen verkünden, eine Regierung mit der FDP zu bilden. Als Reaktion Scheels ist überliefert: „Ja, tun Sie das.“

Gute drei Wochen nach der Wahl wurde Brandts sozialliberales Kabinett vereidigt.

Über Guenter Bannas / Gastautor:

Günter Bannas ist Kolumnist des Hauptstadtbriefs. Bis März 2018 war er Leiter der Berliner Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seine Beiträge sind Übernahmen aus "Der Hauptstadtbrief", mit freundlicher Genehmigung.