Die Bilder sind kaum zu ertragen und mit EU-Recht nicht vereinbar: Polen schießt mit Wasserwerfern bei Temperaturen um den Nullpunkt auf Migranten, die von der belarussischen Regierung als menschliche Geiseln genommen worden sind. Diese Menschen sind Opfer, auch wenn sie systematisch zum politischen Spielball als Geiseln eines Diktators und seiner Propaganda instrumentalisiert wurden. Die Eröffnung eines Krieges – Polens Politik verwendet diese Sprache – mit menschlichen Schachfiguren ist grausam, unmenschlich und EU-verfassungswidrig. Nach geltendem EU-Recht sind die Vorgänge an der polnischen Grenze nichts anderes als die illegalen Push-Backs, wie sie an der griechischen Grenze und im Mittelmeer seit Jahren und Monaten stattfinden. Die Grünen haben das verurteilt – angesichts des skandalösen Vorgehens der Polen an der Ostgrenze gegenüber den Geiseln Lukaschenkos schweigen sie peinlich.
Rechtsbrüche per Wasserwerfer gegen Geiseln des Diktators
In beiden Regionen der EU werden Flüchtlinge zu Geiseln einer verfehlten Flüchtlingspolitik und einer anhaltenden Weigerung der Visegrad-Staaten, Gesetze einzuhalten. Eine kleine Minderheit von Ländern mit einem gestörten Verhältnis zum Rechtsstaat terrorisiert seit 2015 ohne Konsequenzen die Mehrheit der EU mit ihrer Weigerung, Solidarität im Umgang mit Flüchtlingen zu üben. Geltendes EU-Recht und das Völkerrecht verlangen, dass Flüchtlinge die Möglichkeit haben müssen, einen Antrag auf Asyl oder Schutz nach der Genfer Konvention zu stellen. Prof. Jürgen Bast, Professor für Völkerrecht an der Uni Giessen, hat das diese Woche in Monitor klargestellt (Video 5 min). Ob sie danach auf die Entscheidung in Lagern an der Grenze oder rechtstaatlich verteilt in der EU warten müssen, wäre dann eine politische Entscheidung, über die man geteilter Meinung sein kann und muss – aber sie muss gefällt und daraus Konsequenzen gezogen werden.
Falsche Signale an die Visegrad-Staaten
Stattdessen lassen sowohl die Kommission und ihre Präsidentin von der Leyen, wie auch das Europäische Parlament von Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei am Nasenring durch die Arena führen. Währenddessen sie ungeniert EU-Subventionen und Fördermittel kassieren, demokratische Prozesse hintertreiben, Rechtsstaatlichkeit abbauen und Korruption sich virusartig breit macht. Die Rechtsbeugungen von Kaczyński und Orban sind bekannt, gerade ist mit Babiš ein korrupter Präsident abgewählt worden. Viel zu lange hat auch die Kanzlerin gegenüber den Verletzungen des Rechtsstaatsprozesses geschwiegen, und war der Aussenminister der GroKo der letzten vier Jahre ein Totalausfall. Um vom krassen Rechtsstaatsabbau der Pis-Partei abzulenken, kam der Grenzkonflikt mit Flüchtlingsgeiseln der polnischen Regierung gerade recht. Lukaschenko ist zweifellos ein Verbrecher – aber die derzeitige polnische Regierung hat, was Bürger- und Freiheitsrechte betrifft, selbst jede Menge auf dem Kerbholz und braucht den weißrussischen Diktator geradezu, um von dem eigenen Dreck am Stecken abzulenken. Deshalb verwundert es nicht, dass die polnische Regierung den direkten Kontakt der noch-Kanzlerin mit Lukaschenko und Putin abgelehnt und kritisiert hat. Er war als Deeskalation richtig und vermutlich mit den Ampelkoalitionären abgesprochen.
Grüne und ihr einseitiges Schweigen
Was aber am meisten verwundern muss, ist das Verhalten der Grünen in dieser offensichtlichen Krise. Das einzige ausführlichere Statement in den vergangenen Tagen kam von Franziska Brantner, europapolitische Sprecherin, die mehr beiläufig eine humanitäre Hilfsaktion forderte und ihre “volle Solidarität mit Polen bei der Sicherung der Ostgrenze” zum Ausdruck brachte. Irgendwie erinnert das derzeitige Nichtverhalten der Grünen in dieser Geiselkrise an die “uneingeschränke Solidarität mit den Vereinigten Staaten”, die der Rot-Grüne Bundeskanzler Gerhard Schröder nach 9/11 im Bundestag dem US-Präsidenten George W. Bush zusicherte. Während Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin noch eine deutliche Wende in der Flüchtlings- und Migrationspolitik forderte, sind die beiden Parteivorsitzenden flüchtlingspolitisch bemerkenswert stumm. Die Grünen Spitzen haben sich außenpolitisch nicht nur unkritisch einseitig zugunsten von Polen geäußert, auch bezüglich der Inbetriebnahme von Northstream II überlassen sie die Öffentlichkeitsarbeit außenpolitischen Hardlinern wie Reinhard Bütikofer. Für eine mögliche Besetzung des Aussenministeriums durch die Grünen lässt dies schlimmes befürchten – jedenfalls keine Entspannungspolitik. Aus Sicht der grünen Stammwähler*innen*schaft, Flüchtlingsräten und Integrationsinitiativen sowie Amnesty, Pro Asyl und Ärzte ohne Grenzen ist das ein politisches Desaster. Noch warten viele ab, was die Koalitionsverhandlungen erbringen werden, aber die Grünen-Spitze sollte nicht unterschätzen, welche Sprengkraft das Thema angesichts der geplanten Urabstimmung der Koalitionsvereinbarung durch die Parteibasis in sich tragen könnte.
Diplomatie statt Backenaufblasen und Säbelrasseln
Die Kanzlerin hat in den letzten Tagen sowohl Grünen als auch ihrem eigenen Aussenminister gezeigt, wie Regierungskunst geht. Statt wie Maas unprofessionell Lukaschenko öffentlich als Verbrecher zu titulieren (was er zweifellos ist) und damit jede Verhandlungsbasis zu verunmöglichen und sich wie die Grünen in immer neue Forderungen nach Sanktionen zu versteigen, hat sie einfach telefoniert und den Teilabzug der Flüchtlinge erreicht. Natürlich wüsste auch ich gerne, womit sie Lukaschenko zum Einlenken bewegt hat – wir werden es wohl nicht erfahren – aber genau so funktioniert Politik. Das müssen auch die Grünen noch lernen, denn wer “die Affen auf die Bäume jagt” – so pflegte Klaus Matthiesen (SPD) zu sagen “muss auch vorher schon wissen, wie er sie wieder von den Bäumen herunterbekommt”. Außenpolitisch kluges Handeln bedarf auch der Deeskalation. Dass sie diese Kunst beherrschen, müssen die Grünen noch beweisen. Insofern ist der Umgang der Grünen mit der Flüchtlingskrise in Polen und dem außenpolitischen Umgang damit kein Ruhmesblatt, sondern eher ein Lehrstück, wie es nicht gemacht werden sollte.
Lesen Sie ergänzend auch: Ulrich Heyden/telepolis: Warum sehen wir keine Reportagen aus belarussischen Flüchtlingslagern?
annalena baerbock hat sich doch öffentlich präsentiert im unterschied zu habeck, der “von den schweinen” komme, mit “komme vom völkerrecht” ?
na, da bin ich mal gespannt !
Richtig.