Interview von Britt Weyde/ila mit Márcia Ramalho zur brasilianischen Diaspora in Köln
Márcia Ramalho ist in Rio de Janeiro geboren, lebt aber schon seit Jahrzehnten in Köln. „Ich pendele zwischen den beiden Welten.“ Aktuell ist sie im Vorstand des Städtepartnerschaftsvereins Köln-Rio. „Mit dem Verein sollen Klischees abgebaut werden“, erzählt sie. Außerdem ist sie aktiv im Zusammenschluss Brasil em Debate, der nach der Absetzung von Präsidentin Dilma Rousseff im Jahr 2016 aktiv wurde. Im Gespräch mit der ila zeichnet Márcia Ramalho die Entwicklung der diasporischen Aktivitäten in Köln nach.
Wie ist es zur Gründung von Brasil em Debate gekommen?
Brasil em Debate gründete sich nach dem institutionellen Putsch gegen Dilma Rousseff. Der erste Impuls war: Wir müssen etwas machen. Eine kleine Gruppe ist zum Kölner Neumarkt gegangen und trug dort die brasilianische Demokratie mit einer Performance „zu Grabe“. Ich selbst stieß dazu, als Aktivitäten unter dem Motto Fora Temer (Weg mit Temer) geplant wurden. Temer war nach dem Impeachment gegen Dilma ins Amt gekommen. Danach standen die Wahlen 2018 an, aus denen Bolsonaro als Sieger hervorging. Dazwischen wurde der Lava-Jato-Korruptionsskandal publik, und Lula kam ins Gefängnis. Diese ganzen Entwicklungen haben wir diskutiert. Wir versammelten uns einmal im Monat im Allerweltshaus und planten Aktionen. Der 14. März 2018 war ein wichtiges Datum. An dem Tag wurde die afrobrasilianische Politikerin Marielle Franco umgebracht. Danach haben wir immer wieder öffentlich an ihren gewaltsamen Tod erinnert. Für den 14. März 2020 hatten wir zum zweiten Jahrestag ein großes Event geplant, das wir wegen Corona absagten.
Mulheres contra Bolsonaro
Vor drei Jahren hattet ihr euch der Wahlkampagne gegen Bolsonaro, Ele não (Er nicht) angeschlossen.
Ele não begann, als Bolsonaro als Kandidat für die Stichwahl feststand. Niemand von uns hatte wenige Monate vorher damit gerechnet, dass er so weit kommen würde. An der Kampagne waren hauptsächlich Frauen beteiligt. Diese Mulheres contra Bolsonaro wurden heftig attackiert. Zum Teil wurden ihre Argumente so verdreht, dass es schien, sie wären für Bolsonaro. Wir hatten die Macht der Fake News unterschätzt. Ich finde es beschämend, dass so viele Brasilianer*innen Bolsonaros Lügen glauben. Das romantische Vorurteil über Brasilianer*innen, die nette, gastfreundliche Menschen sind, passt nicht zusammen mit den Brasilianer*innen, die diesen groben Kerl feiern, der ungefiltert sagt, was er denkt. Und ich bin geschockt darüber, wie viele Brasilianer*innen hier ihre Informationen nicht aus den Medien beziehen, sondern irgendein Zeug lesen und glauben, das ihnen per Social Media geschickt wird.
Besprecht ihr eure Aktionen mit Organisationen in Brasilien, gibt es einen Austausch?
Seit der Ele-não-Kampagne gibt es eine Rückkopplung, so mit einer Gruppe aus Bonn, ebenso Verbindungen zu ABA, einer Gruppe aus Frankfurt, und zu einigen Gruppierungen aus Berlin, etwa zur Brasilienkooperation KOBRA. Wir haben Bilder und Videos unserer Aktionen an Medien in Brasilien weitergeleitet. Am 8. März, dem internationalen Frauentag, und dem 25. November, dem Tag gegen Gewalt an Frauen, sind wir ebenfalls mit unseren Transparenten präsent, vermehrt seit dem Mord an Marielle Franco. Unsere letzten Aktionen zu Bolsonaro waren abgestimmt mit der Kampagne in Brasilien. Zu Fora Temer und Ele não gab es internationale Aktionstage.
Das war mein persönlicher Beitrag, um in dieser Zeit Solidarität zu zeigen. Ich kann hier nicht ruhig sitzen und nichts tun. In der Diaspora kann ich auch aufschreien.
Hitzige Diskussionen
Was habt ihr in der Pandemiezeit gemacht?
Wir sind heimatlos geworden, weil das Kölner Allerweltshaus umzugsbedingt geschlossen hatte. Wir haben einiges virtuell durchgeführt und uns bei gutem Wetter draußen getroffen. Leider hat es eine gewisse Spaltungstendenz gegeben, aber ich lade die „Ehemaligen“ immer noch ein. Wir sind nicht viele, wir müssen zusammenhalten. Nicht, wenn es schmerzhaft wird, aber ich denke, die Differenzen sind auszuhalten. Sie beziehen sich, wie bei allen Politgruppen, eher darauf, wie man miteinander spricht. Bei uns ist das gemeinsame Debattieren ein wichtiger Punkt. Ursprünglich wollten wir auch mit Leuten diskutieren, die Bolsonaro toll finden. Aber das war stets sehr schwer und es gab unterschiedliche Positionen dazu.
Bei der Stichwahl 2018 haben die Kölner Brasilianer*innen, die gegen Bolsonaro waren, nur einen sehr kleinen Vorsprung errungen. In Frankfurt und München hat Bolsonaro in der diasporischen Gemeinde gewonnen. (Im Ausland lebende Brasilianer*innen können in ihren Botschaften und Konsulaten wählen. Für die Wahl 2018 hatte das brasilianische Konsulat Frankfurt/M. ein mobiles Konsulat in Köln eingerichtet, da es dort keine brasilianische Auslandsvertretung gibt – die Red.). Ich kenne eine Menge Leute, die gar nicht oder ungültig wählten, weil sie Anti-PT waren (gegen die zuvor regierende Arbeiterpartei, d. Red.). Die Diskussionen darüber, welche Konsequenzen ein solches Verhalten hat, spalten uns, sowohl in Brasilien als auch hier. Wenn du diese Leute mit der Tatsache konfrontierst, dass Bolsonaro in Brasilien von 39 Prozent der Bevölkerung gewählt wurde, Gegenkandidat Fernando Haddad 31 Prozent bekam, dass es 30 Prozent Nichtwähler*innen gab, die noch etwas hätten drehen können, gibt es hitzige Diskussionen. In Brasilien herrscht übrigens Wahlpflicht!
Wo steht der Städtepartnerschaftsverein Köln-Rio aktuell?
Das am besten besuchte Event ist Brasilônia, ein Kulturfestival, wohin schon mal 500 Brasilianer*innen kommen. Über unsere Stände von Brasil em Debate dort haben einige Leute ihre Nase gerümpft, angesichts von Forderungen wie Free Lula oder Positionen zu Marielle Franco.
Als der Städtepartnerschaftsvertrag vor zehn Jahren unterzeichnet wurde, war Eduardo Paes Bürgermeister von Rio (von 2009 bis 2016). Seit Ende 2020 ist er wieder im Amt, was ein Segen für uns ist, vor allem, dass Marcelo Crivella abgewählt wurde, ein evangelikaler Prediger der schlimmsten Sorte, der jetzt wegen einer Korruptionsaffäre im Gefängnis ist. Paes hingegen gehört zu denjenigen, die sich als „Zentrum“ bezeichnen, er ist ein Demokrat. Und als echter Carioca liebt er seine Stadt.
Aktuell haben wir ein konkretes Projekt für die Favela da Maré im Norden Rios: Wir sammeln Spenden für medizinisches Material, Tests, Masken, Desinfektionsmittel, außerdem Lebensmittel sowie Unterstützung für Distanzunterricht. Bis Ende des Jahres läuft eine Aktion auf Betterplace, da muss noch einiges zusammenkommen!
Fora Bolsonaro
Vor Kurzem wart ihr in Köln auf der Straße. Was war der Anlass?
Am 2. Oktober fand ein internationaler Aktionstag statt unter dem Motto Fora Bolsonaro, der Aufruf dazu kam aus Brasilien. Auch in Hamburg, Frankfurt und Berlin gab es Aktionen. Es war ein regnerischer Tag, im Laufe der Aktion waren in Köln knapp 50 Leute dort. Wir haben zusammen gesungen, es gab ein Open Microphone für spontane Wortbeiträge. Einige waren aus anderen Städten angereist, aus Siegen, Aachen und Bonn. Wir knipsten ein Foto mit Banner vor dem Dom. Einer meinte, wir sollten die Masken richtig aufsetzen, als Signal im Hinblick auf den Umgang mit der Pandemie und als persönlicher politischer Schutz wegen eventueller Vergeltungsmaßnahmen.
Ist es bereits zu Vorfällen gekommen, dass in der Diaspora aktive Leute bedroht worden sind?
Als wir 2014 Aktionen im Rahmen der Kampagne Brasil nunca mais anlässlich des Militärputsches vor damals 50 Jahren durchführten, hatte ich mit Aktiven aus Berlin zu tun; wir hatten uns an der Recherche beteiligt. Damals bekam ich komische Emails, in denen ich gewarnt wurde, weil ich mit den Leuten und Organisationen in Berlin zusammenarbeitete. Zu der Zeit habe ich das nicht ernst genommen. Natürlich gibt es eine gewisse Beobachtung, über unsere Smartphones sowieso.
Militär hat es sich gemütlich gemacht
Nächstes Jahr stehen Wahlen an, was habt ihr euch vorgenommen für die nächste Zeit?
Die brasilianische Gemeinde in Köln ist sehr divers, aber auch sehr groß. Nach der letzten Aktion, von der ich mir mehr Engagement erhofft hatte, war ich enttäuscht. In Brasilien gibt es den Spruch: Über Fußball, Religion und Politik diskutiert man nicht. Ich sage: Nimm mal die Politik raus, Politik ist Diskussion!
Nach den Herbstferien wollen wir breit einladen, um die Wiederbelebung von Brasil em Debate zu starten, um die zukünftigen Entwicklungen zu begleiten. Im Moment schätze ich die Situation so ein, dass Lula im ersten Wahlgang gewinnen könnte. Danach wird es anstrengend. Bolsonaro hat gesagt, dass er nicht gehen wird; auch das Militär, dessen Privilegien ausgeweitet worden sind, hat es sich gemütlich gemacht. Gerade sind so viele Militärs an der Macht (d. h. haben Regierungsposten inne – die Red.), viel mehr als unter der Militärdiktatur! Ich befürchte, dass sie zu ziemlich viel fähig sind, bis hin zur Spaltung des Landes mit der Folge eines möglichen Bürgerkriegs. Ich bin so wütend, dass diese Leute immer noch an der Macht sind, nachdem so viel aufgedeckt worden ist, der Skandal um die Impfungen (bei den Spritzen wurde der Kolben nicht nach unten gedrückt oder es fehlte Flüssigkeit im Impfzylinder), die Fake News bei den Wahlen, die für ungültig erklärt werden müssten, mehrere Korruptionsskandale. Der Aufschrei darüber müsste viel lauter sein.
Das Interview führte Britt Weyde am 13. Oktober in Köln. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 450 Nov. 2021, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Einige Links und alle Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.
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