von Prof. Dr. Helen Schwenken
Gelb-Grün nach Innen, Rot nach Außen
Ton und Inhalt des Koalitionsvertrags in den Themen Migration, Integration und Asyl sind gemischt. Er enthält einige erfreuliche Ankündigungen (umgesetzt sind sie damit noch lange nicht…), einige Nicht-Verbesserungen und weitere Verschärfungen. Zusammenfassen lässt sich der Koalitionsvertrag mit dem Bild der Ampel:
Auf Grün geschaltet ist die für einige Menschen, die endlich hoffen können, eine sichere Aufenthaltsperspektive oder endlich die deutsche Staatsbürgerschaft zu bekommen (nach i.d.R. fünf statt bisher acht Jahren, S. 118). Erfreulich sind die budgetären Ankündigungen, die die Fortsetzung oder Verstetigung von bestehenden Beratungsangeboten für Migrant*inn*enselbstorganisationen vorsehen, oder auch, dass “alle Menschen, die nach Deutschland kommen, von Anfang an” (S. 139) Integrationskurse besuchen dürfen.
Hoffnung für Menschen ohne Papiere
Eine kleine, aber wichtige Verbesserung für Menschen ohne Papiere könnte umgesetzt werden: “Die Medlepflicht für Menschen ohne Papiere wollen wir überarbeiten, damit Kranke nicht davon abgehalten werden, sich behandeln zu lassen” (S. 139). Endlich geht es zurück zum Stand vor den Verschärfungen der letzten Jahre bei der Familienzusammenführung für Geflüchtete, Stichwort: zunächst die temporäre, dann die unbestimmte Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Geschützte. Eindeutig heißt es: „Wir werden die Familienzusammenführung zu subsidiär Geschützten mit den GFK-Flüchtlingen gleichstellen“ (S. 140). Auch der Geschwisternachzug soll endlich ermöglicht werden (ebd.). Und der erforderliche Sprachnachweis kann künftig erst nach Ankunft erbracht werden (ebd.). Das sind einige menschenrechtlich wichtige Verbesserungen. Allerdings reicht das nicht: Ohne deutlich mehr Personal in den deutschen Botschaften in Regionen mit vielen Anträgen (Stichwort: monatelange Wartezeiten auf einen Termin) und eine Beschleunigung der Visumsverfahren wird sich de facto wenig ändern.
Mehr Personal, mehr Beratung, “Spurwechsel” etwas vage
Warum keine Regelung wie in Portugal, dass die Familienzusammenführung automatisch genehmigt ist, wenn sie eine Verfahrensdauer von sechs Monaten überschreitet? Einige Schritte in Richtung Asylverfahrensbeschleunigung in Deutschland sind vorgesehen: „Asylverfahren müssen fair, zügig und rechtssicher ablaufen“ (S. 139) lautet die Devise. Asylverfahren und bürokratische Anforderungen sind nur schwer verständlich. Betroffene können sich oft nur mit Unterstützung durch professionelle Beratungsstellen oder Ehrenamtliche zurechtfinden (und selbst für diese ist es schwer). Die intendierte „Unlesbarkeit“ des Systems soll nun verringert werden durch die geplante Einführung einer „flächendeckende[n], behördenunabhängige[n] Asylverfahrensberatung“ (S. 139). Positiv ist, dass die Widerrufsprüfung von Asylentscheidung „künftig wieder anlassbezogen“ (S. 139) und nicht bei allen erfolgen soll. Allerdings dürfte das (auch mit den weiteren dort erwähnten Vorhaben) nicht reichen, um die Verfahrensdauer und die Belastung der Verwaltungsgerichte entscheidend zu verringern. Daher: mehr und qualifiziertes (siehe die auf S. 118 erwähnte geplante „ganzheitliche Diversity-Stategie“ für die Bundesverwaltung) Personal ist notwendig. Der im Wahlkampf von roter und grüner Seite vollmundig angekündigte „Spurwechsel“ findet sich auf S. 138 in den Vorhaben zur Ausbildungs- und Beschäftigungsduldung. Betrieben und Auszubildenden soll durch eine Aufenthaltserlaubnis mehr Rechtssicherheit geben werden. Das ist erfreulich. Allerdings sind die Vorhaben für Personen mit einer Beschäftigungsduldung recht vage gehalten: Die „Anforderungen [wollen wir] realistisch und praxistauglicher“ fassen. Hier ist abzuwarten, ob und für wie viele der Spurwechsel gelingt. Bei der angekündigten Oppositionsarbeit von CDU/CSU und AfD bei Migrationsthemen, wird das schwer sein.
In neoliberalem Gelb leuchtet die Ampel für diejenigen, die nach mindestens fünf Jahren Kettenduldungen ihre „Integration“ beweisen müssen, denn stärker als je zuvor gibt es Instrumente, die „eine einjährige Aufenthaltserlaubnis auf Probe“ oder ein „Chancen-Aufenthaltsrecht“ (S. 138) vorsehen. Während des einen Jahres sollen dann „die übrigen Voraussetzungen für ein Bleiberecht“ (ebd.) erfüllt werden, insbesondere die – im Niedriglohnsektor nicht einfach zu realisierende – Sicherung des Lebensunterhalts. Auch sollen „neue Chancen“ geschaffen werden für „gut integrierte Jugendliche“ und „[b]esondere Integrationsleistungen von Geduldeten würdigen wir, indem wir nach sechs bzw. vier Jahren bei Familien ein Bleiberecht eröffnen“ (S. 138). Hier geht es um Möglichkeiten, die sicherlich einige werden nutzen können, aber dies ist keine Rechtssicherheit. Der Ermessensspielraum wann jemand als „gut integriert“ gilt, ist dehnbar und wie Erfahrungen insbesondere von diskriminierten Personengruppen zeigen, auch nicht vorurteilsfrei. Zugleich sind negative Bescheide in die Öffentlichkeit leichter vermittelbar, denn X hat sich halt nicht genug angestrengt. Aber: eine „gute Integration“ ist nicht nur von der eigenen Anstrengung abhängig, auch vom Umfeld, von den Ressourcen über die eine Person verfügt und von anderen Bedingungen. Auf Kindern wird besonderer Druck lasten in der Schule nicht negativ aufzufallen, wenn der Aufenthalt der Familie von ihnen abhängt.
Rot leuchtet die Ampel weiterhin für Menschen, die an den Grenzen Europas warten (nichts Gutes lässt das Zusehen der neuen Regierung bei der katastrophalen Situation an der polnisch-belarussischen Grenze erwarten – warum kein konsequentes Eintreten für das Recht, einen Asylantrag stellen zu dürfen?) oder jene, die die Ampel-Regierung per „Rückführungsoffensive“ (S. 140) in großem Maße abzuschieben plant. Eine Einschränkung, nicht mehr in Krisen- und Kriegsgebiete abzuschieben, fehlt. Der pastorale Ton „Nicht jeder Mensch, der zu uns kommt, kann bleiben“ (ebd.) soll für die Abschiebeoffensive Verständnis wecken, ebenso wie die nach einer Einschränkung klingende Passage, dass „insbesondere die Abschiebung von Straftätern und Gefährdern“ (ebd.) umgesetzt werden soll. Damit sind die auch jüngst wieder bekannt gewordenen Abschiebungen von Jugendlichen, die ihr ganzes Leben in Deutschland verbracht haben, von nachts abgeschobenen schwerbehinderten Personen oder Fachkräften wenige Wochen bevor sie sich acht Jahre in Deutschland aufhalten und ein Bleiberecht hätten – um mich nur auf einige Fälle aus Dezember 2021 zu beziehen – weiterhin möglich.
Unwirtliche Zustände für Neuankommende und Personen mit unklaren Erfolgsaussichten in Asylverfahren sind auch weiterhin gewollt. Zunächst liest es sich hoffnungsmachend: “Das Konzept der AnkER-Zentren wird von der Bundesregierung nicht weiterverfolgt.” Aber: Nicht nur in AnkER-Zentren (in Bayern) ist die Situation miserabel. Auch in vielen Zentralen Unterbringungseinrichtungen (ZUE) (wie jüngst wieder in der ehemaligen York-Kaserne in Münster in NRW) beklagen die Bewohner*innen die hygienischen Zustände und eine aggressivitätsfördernde und bevormundende Stimmung. Der Koalitionsvertrag sieht keinen Änderungsbedarf – noch nicht einmal einen Prüfauftrag – für die bis zu 24-monatige Unterbringung in ZUE bei “geringer Bleibeperspektive”. Die Integration der dort Untergebrachten ist auch unter der Ampel unerwünscht, auch wenn viele letztendlich bleiben werden.
Was bedeutet Frontex als “echte Grenzschutzagentur” aufzubauen?
Rot ist bei einem Vorhaben der Ampel eindeutig übertreten: Frontex soll zu einer „echten Grenzschutzagentur“ aufgebaut werden und sich an der Seenotrettung beteiligen (S. 192). Über diesen Satz kann man sich nur wundern: Eine Behörde, deren Mandat es ist, Migration zu verhindern und deren Praxis und (Corps-)Geist es ist, Boote auf dem Mittelmeer außerhalb der EU-Gewässer zurück zu ziehen (push-backs!) und die mit der mafiösen libyschen Küstenwache kooperiert, soll Schutzsuchenden helfen? Frontex gehört abgeschafft.
Alles in Allem: Die Ampel blinkt rot, gelb und grün zugleich. Für einen „Paradigmenwechsel“ (S. 137) sind die Vorhaben der Ampel allerdings zu wenig ambitioniert. Weder der angekündigte „Spurwechsel“ wird in größerem Umfang ermöglicht noch ein großer Wurf eines Einwanderungsgesetzes o.ä. angekündigt. Restriktive Reformen (wie die „Asylpakete“) sind oft schwer rückgängig zu machen – ja. Aber: mehr wäre nötig gewesen in der derzeitigen Situation und mit Blick auf die Zukunft.
Die Autorin ist seit Januar 2021 Direktorin des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien an der Universität Osnabrück. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus “Tendenz”, Info der Radikaldemokratischen Stiftung, mit freundlicher Genehmigung durch ihren Vorsitzenden Roland Appel.
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