Kontinuitäten und Brüche in der fotografischen Selbstdarstellung der Bundesrepublik

Alle Folgen dieses Beitrags: Teil 1 – Teil 2 – Teil 3Teil 4Teil 5

Das Streben nach Kunst

Publikationen der fotografischen Propagandisten der Nazi-Herrschaft in den ersten Nachkriegsjahren eint ein eigentümlicher Konsens in gemeinschaftlicher Weltflucht. Paul Wolff und Alfred Tritschler fotografieren Blumen und Gräser, Wolf Strache fotografiert Blumen und Gräser, Erna Lendvai-Dircksen fotografiert Blumen und Gräser, Walter Hege fotografiert Steine und Gräser, Albert Renger-Patzsch fotografiert Bäume und Steine. Ausnahmen dieser Regel gibt es: Hilmar Pabel und die Eltern-Kind-Suchaktion der Zeitschrift ‚Pinguin‘ (bei der Kinderbilder publiziert wurden, deren Eltern nicht aufzufinden waren) mochte da als singuläres Gegenbeispiel stehen, obwohl die Konzeption der Aktion nicht von ihm stammte – allein, sie bestätigt letztlich eine kontinuierliche Haltung im Selbstverständnis deutscher Fotografen vor und nach dem Nationalsozialismus. So wenig sich ein Felix H. Man daran erinnern lassen mochte, dass er 1931 eine Mussolini feiernde Reportage erstellt hatte, so wenig gern mochten die hier Genannten und andere ihre Mitwirkung am Zerstörungswerk durch Trauerarbeit am Zerstörten ableisten. Fotograf*innen mit weniger profilierter NS-Vergangenheit hatten es in ihrem Selbstverständnis als Nachkriegsdokumentarist*innen leichter. Sogar Herbert Lists oberflächlicher Trümmer-Surrealismus ließ gegen diese Weltflucht noch Funken von Betroffenheit aufscheinen.

fotoform, die Gruppe, deren Namen heute Synonym bundesdeutschen Foto-Neubeginns ist, traf sich ebenfalls in diesem Weltfluchtsyndrom und muss eher als Beispiel bildnerischer Kontinuität denn eines Bruches mit Traditionen gesehen werden; man sollte allerdings nicht unterschätzen, welch starken Einfluss diese künstlerische Bewegung auf den bundesdeutschen Bildjournalismus hatte. Zum einen hatte Peter Keetman, der aus heutiger Sicht wichtigste fotoform-Fotograf, wesentliche Teile seines formalen Repertoires bereits während seiner Münchner Studienzeit in den 1930er Jahren entwickelt. Andererseits scharte sich diese Gruppe junger Fotografen um Adolf Lazi, einen Monolith des fotografischen Traditionalismus, der durchaus zu zahlreichen Hilfstätigkeiten des NS-Regimes bereit gewesen war. Die Geschichte der fotoform ist dank Bernd Lohses publizistischer Hilfestellung gut zu recherchieren. Sie beginnt mit der von Lazi 1947 ins Leben gerufenen Stuttgarter Photographischen Gesellschaft. Deren Statuten verlangten bei aller Offenheit „für die extremsten Richtungen der Photographie in ungehinderter Ausübung“ „von den Beteiligten neben hohem technischen Können bildnerische Begabung“ und „entbehr(t)en nicht der Strenge“ – alles Maßstäbe, die im „Dürerbund“ zu Hause waren, bei Lazis Lehrmeister Karl-Heinrich Seboldt, einem Sakralbildhauer mit historistischem Werkstatt- und Bauhütten-Gedankengut. Der traditionistische Rückgriff ins 19. Jahrhundert und auf handwerkliche Wertmaßstäbe, die der gelernte Bildhauer Lazi als Fotograf praktizierte, konnten von den fotoform-Mitgliedern als Fortschritt rezipiert werden, da sich das modernere Medienkonzept der Fotografie samt seinem immanenten Medien-Optimismus im Missbrauch durch die Nationalsozialisten, durch Holocaust und Krieg genügend desavouiert hatte. Hier wurde Transzendenz angeboten, Überzeitlichkeit in einem extrem zeitabhängigen Medium zu einer schwer erträglichen Zeit – kein Wunder, dass junge Kriegsheimkehrer mit eher traumatischen Kriegserfahrungen von derlei Maßstäben beeindruckt waren. Ähnliche Tendenzen zur Transzendenz im Bildschaffen hat Wolfgang Kemp für amerikanische Phototheoretiker nach dem Zweiten Weltkrieg aufgezeigt, allen voran an Minor White und vor der Folie von McCarthys Verfolgung sogenannt anti-amerikanischer Umtriebe.

Insofern ist auch Robert d’Hooghes damals vielzitiertes Bonmot von den fotoform-Bildern als der „Atombombe im Komposthaufen“ des Bildteiles der Photo- und Kino-Ausstellung von 1950 in Köln nur auf der Negativfolie des übrigen dort Gezeigten verständlich, abgesehen davon, dass diese Atombomben-Metapher fünf Jahre nach Hiroshima und Nagasaki einigermaßen deplaziert war – als positive Bewertung, die sie sein sollte. Dass die fotoform-Abteilung mit nur 29 Bildern verhältnismäßig klein war, suggerierte eine Geschlossenheit, die die Gruppe de facto niemals hatte. Die anderen Abteilungen der Bilderschau von 1950 waren mit jeweils zwischen 150 und 300 Bildern nicht nur größer, sondern mehr ein Spiegel der Vorkriegszeit. Die Bedeutung der Gruppe erwuchs aus dem Kontrast zur übrigen Ausstellung und zu deren Geschichte. 1950 wurde nach mehrjährigen Vorarbeiten die erste Photo- und Kino-Ausstellung in Köln installiert, die weniger Ausstellung als Messe war. Nicht nur im Namen hatte diese Messe Vorläufer, sondern auch in ihrem Aufbau: Der Besucher wurde in einer großen Halle auf Thema und Bedeutung der Veranstaltung eingestimmt, in kleineren Seitenräumen auf Anwendungsgebiete und Kunstformen der Fotografie hingewiesen, bevor er in die eigentlichen Messehallen kam, wo ihm die Geräte vorgeführt wurden, mit denen er potentiell die zuvor gesehenen Bildleistungen erbringen konnte. Nach einem bis in Details hinein exakt gleichen Organisationsplan war 1933 in Berlin die Messe Die Kamera aufgebaut worden. Die Kontinuität spiegelte sich in der für Die Kamera und photokina gleichermaßen benutzten Bezeichnung „Ehrenhalle“ als Namen des großen Eingangsraumes. Sein wesentliches Element war das visuelle Großornament aus Menschen oder Dingen, das weniger auf individuelle Existenz als auf Subordinierung unter Prinzipien verwies. Die Größe der Halle, die Größe der Fotografien und ihre erhöhte Anbringung beließen den Betrachter in Demutshaltung, aus der er sich nur durch Verlassen des Raumes befreien konnte. Umso aufmerksamer ist ein solcher Betrachter dann in den informativen Einzelpräsentationen, die dieser Ehrenhalle folgen. Die politische Propaganda, um derentwillen solche Veranstaltungen im NS-Staat inszeniert wurden, wurde in der jungen Bundesrepublik einfach durch Konsumwerbung ersetzt.

Die Destabilisierung der Wahrnehmung, die Die Kamera als NS-Propagandainstrument einst intendiert hatte, war erhalten geblieben, eine vage Unbestimmtheit des „allgemein Menschlichen“ wurde zur ahistorischen Nachfolge politischer Ansprüche. Natürlich wurde nicht mehr die Geschichte der Bewegung vorgeführt, jetzt ging es in großen Lettern um Des Menschen Menschlichkeit oder Wie wir leben. Hatte es auf manchen Bannern 1950 noch geheißen, Wer photographiert, hat mehr vom Leben, war 1951 die Losung: Die Photographie dient allen Berufen, so musste 1954 aber schon wieder eine Deutsche Bilderschau mit Aufnahmen des 17. Juni 1953 und des erfolgreichen Wiederaufbaus her – deren Ausschreibung verdächtig an 1937 und die Propaganda-Ausstellung „Gebt mir vier Jahre Zeit“ erinnerte. Diese frühe Tradition der photokina-Bilderschauen ist es gewesen, die trotz späterer, hervorragender Ausstellungen den Nimbus der Kunstgattung Fotografie in der Bundesrepublik nachhaltig gestört hat. 1954 war auch das Jahr, in dem der photokina eine weitere Tradition zufiel, die der Jugend- und Schulphotographie: Mit Film und Foto lernen, Bilderschau der deutschen Jugend und Reporter der Zukunft. Die erste Ausstellung zum Thema „Schule und Fotografie“ hatte 1933 statt gefunden, auf der Kamera – organisiert, beraten und unterstützt vom Agfa-Direktor Bruno Uhl. Doch neben den personellen Kontinuitäten überwogen oft genug die ästhetischen, zumindest für die Fotografie mit Anspruch auf Teilhabe an der bildenden Kunst.

Alle Folgen dieses Beitrags: Teil 1 – Teil 2 – Teil 3Teil 4Teil 5

Quelle: René Möhrle (Hg.), Umbrüche und Kontinuitäten in der deutschen Presse. Fallstudien zu Medienakteuren von 1945 bis heute, Gutenberg : Computus Druck Satz Verlag 2020, S.57-68, hier S.59-61.
Das Buch haben wir vor einem Jahr hier rezensiert.

Autor Rolf Sachsse war bis 2017 Professor für Designgeschichte und Designtheorie an der Hochschule der Bildenden Künste Saar und lebt in Bonn.

Über Rolf Sachsse (Gastautor):

Unter der Kennung "Gastautor:innen" fassen wir die unterschiedlichsten Beiträge externer Quellen zusammen, die wir dankbar im Beueler-Extradienst (wieder-)veröffentlichen dürfen. Die Autor*innen, Quellen und ggf. Lizenzen sind, soweit bekannt, jeweils im Beitrag vermerkt und/oder verlinkt.