Ich habe das bis gestern Nacht für völlig ausgeschlossen gehalten. Meine eigene Einschätzung war grundfalsch. Es tröstet wenig, dass es vielen anderen ähnlich ging, dem ukrainischen Präsidenten bis vorgestern (dann berief er Reservisten ein, Teilmobilmachung, aber kein Alarmbefehl für das Militär), Olaf Scholz wohl ebenso lange wie mir und dem Rest der Welt. Recht behielten die Washingtoner Strategen, deren Ansagen ich bis zuletzt für klassische, oft genug erlebte US-Propaganda hielt.

Dieser Angriff ist ein Verbrechen. Es ist ein unprovozierter Angriffskrieg, die Scharmützel der letzten Tage an der Kontaktlinie können niemals als Grund für eine solche Aggression angesehen werden, weder moralisch noch analytisch. Was nun?

Es ist sehr früh für finale Antworten. Wir wissen bisher wenig über den Umfang und Verlauf der Militäroperationen, und wir wissen extrem wenig über das von Putin angestrebte Ziel. Er wird in unseren Agenturen heute Mittag mit der Ansage zitiert, es gehe um die Säuberung der Ukraine von Faschisten und ihre Entmilitarisierung. Das klingt nach einer kompletten Besetzung des Landes, Einsetzen einer anderen Regierung und dauerhafter Bedrohung für den Fall einer Wiederaufrüstung, wenn nicht dauerhafter Besetzung. Ich vermag mir nicht vorzustellen, dass das gelingt, und kaum, dass irgendjemand in Russland glaubt, das könne gelingen. Es klingt eher nach Afghanistan II als nach einer kurzen Intervention mit anschließendem Frieden wie weiland in Georgien.

Wir sollten jetzt, um kühlen Kopf bemüht (was heute auch mir wirklich schwerfällt), zwei Dinge sorgfältig auseinanderhalten: Analyse und Programmatik.

1. Analyse
Wir sollten uns gerade angesichts dieser Katastrophe einmal fragen, ob wir mit unserer Politik seit etwa 1993 und ihrem Erfolg eigentlich zufrieden sein können. Haben wir richtig, überlegt, strategisch klug agiert in dieser Zeit? Sagen wir stolz und zufrieden: Wir haben alles richtig gemacht, und das was heute passiert ist halt die Schuld eines Wahnsinnigen im Kreml, eines Neues Zaren, eines brutalen Diktators und seines Regimes? Oder finden sich vielleicht weniger schlichte Erklärungen dafür, wie sich aus der Freundschaft von 1991 der Krieg von 2022 entwickelt hat? Dazu schreibe ich vielleicht in den nächsten Tagen noch einmal etwas.
2. Programmatik: Was ist jetzt zu tun?
Keine Frage, Die Lage in Europa ist seit heute eine fundamental andere. Die bisher eher aus nationalistischem Russlandhass, wie wir ihn bei uns zuletzt aus dem 19. Jahrhundert gegen die Franzosen kennen, gespeisten Bedrohungsphantasien in Osteuropa, in Polen, in den baltischen Staaten, haben jetzt eine brutale Realität bekommen. Es wird Aufrüstung geben, in allen diesen Ländern, und auch bei der Bundeswehr, Umorientierung von Einsätzen in aller Welt auf einen möglichen Einsatz in Europa selbst.
Die Gestaltungsaufgabe sollte darin bestehen, hier Kampfbereitschaft herzustellen, aber doch möglichst wenig Bedrohung gegen Russland zu erzeugen. Säbelrasseln, militärischer Druck, wie ihn die NATO seit einem Jahrzehnt zu projizieren versucht, macht die Sache nicht besser. Natürlich wird es jetzt ein Fülle von Sanktionen geben. Das ist unvermeidbar, und dient, realistisch gesehen, wesentlich der eigenen Seelenhygiene. Die Ukraine, die Balten, wir selber brauchen das jetzt.
Russland wird es wenig beeindrucken, diese Sanktionen sind eingepreist. Hier kommt es in der Gestaltung darauf an, uns selbst möglichst wenig zu schaden, und vielleicht auch etwas an die russische Bevölkerung zu denken. Eine Verelendungstheorie, mit der wir es auf der Krim versucht haben – vom Unterbinden des Reparierens von Bankautomaten bis zum Sprengen der Strommasten – wird zu einigem Elend, aber gesichert nicht zu politischer Veränderung führen, solcher Druck schweißt nur zusammen. Also weniger nach spektakulärem Auftritt à la Bild, sondern nach Treffsicherheit fragen. Bewirken wird das auch im besten Fall herzlich wenig. Für weiterführende sinnvolle Vorschläge bedarf es einer genaueren Analyse – siehe Einleitung.

Zum jetzigen Zeitpunkt sehe ich nur einen Akteur auf der Welt, der tatsächlich eine Chance hätte, Einfluss zu nehmen: Das ist China. Die Antwort Russlands auf alle bisherigen Sanktionswellen war jedesmal eine stärkere Orientierung nach Osten, insbesondere eine engere Kooperation mit China, naheliegend, weil China ja von den USA genauso gebasht wurde wie Russland. Das wird vorhersehbar diesmal genauso sein. Würde China sich eindeutig gegen die russische Aggression stellen, würde das die Lage verändern.
Es war ein historisches Versagen, dass bei der Münchener Sicherheitskonferenz die (vielleicht geringe, aber wer weiß) Chance versäumt wurde, eine solche Aufstellung deutlich zu machen. Der zugeschaltete chinesische Außenminister hatte sich klar für das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine ausgesprochen. Anstatt dies aufzugreifen, nachzufragen, es zu vertiefen, verschwendete man die Zeit mit einem Standarddialog über die Uigurenfrage, Fragen und Antworten hätte man auch kalt schreiben können. Menschenrechtlich verständlich, politisch in dieser Situation absolut fatal.
China auf den Plan zu rufen, in welchem Format auch immer, scheint mir jedenfalls im Moment die wichtigste außenpolitische Aufgabe zu sein.

Über Reinhard Kaiser (Gastautor):

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