Russisches Gas und deutsche Souveränität – Wessen Triumph?

„Merkels Triumph“, so titelte der Spiegel am 21.7. 2021 (Paywall). Es ging um die Absprache zwischen Merkel und der Biden-Administration zu Nordstream 2. Nachdem die Biden-Administration verstanden hätte, dass sie nicht mehr die Fertigstellung dieses Projektes verhindern könne, habe sich Merkel durchgesetzt. Ein „außenpolitischer Sieg“ befand der Spiegel.

Der Artikel erinnerte auch daran, dass wegen des Widerstands der Trump-Administration Nordstream 2 zu einer Frage der nationalen Souveränität Deutschlands über seine Energiepolitik wurde. Nordstream 2 war weder innen- noch außenpolitisch unumstritten, die Grünen lehnten das Projekt am entschiedensten ab, aber eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger hielt es für richtig.

In einer kleinen Randnotiz notierte der Spiegel damals, dass sich Merkel nicht nur einmal über Putin mokierte. „Meine Röhren“, damit habe er ihr in den Ohren gelegen.

Die Gegenkolumne im Spiegel schrieb damals Herr Fücks (Paywall) vom „Zentrum für liberale Moderne“, das eine merkwürdige, aber staatlich geförderte Schattenexistenz führt und an Russophobie kaum zu übertreffen ist. Fücks sprach von einem „Triumph Putins“.

Der Regierungswechsel und der grüne Einzug ins Regierungsamt brachte das Aus für Nordstream 2. Anders als seine Vorgängerin schwieg der amtierende deutsche Bundeskanzler in Washington zur Feststellung des US-Präsidenten, Nordstream 2 wäre erledigt, sollte Russland die Ukraine angreifen. Aber noch bevor der russische Angriff auf die Ukraine erfolgte, am 22.2. 22, zog das BMWK den für die Genehmigung notwendigen Sicherheitsbericht zurück. Die Energiesicherheit der Bundesrepublik Deutschland müsse nun neu bewertet werden, hieß es.

Habeck verteidigte seine Entscheidung in der ARD: Am besten wäre es gewesen, Nordstream 2 nicht zu bauen. Er schloss nicht aus, dass Nordstream 2 Gegenstand der transatlantischen Sanktionspolitik gegen Russland werden könnte. Das würde aber in der EU und mit den Amerikanern besprochen. Der Ausbau der erneuerbaren Energien sei der richtige Weg in die energiepolitische Sicherheit und Unabhängigkeit Deutschlands.

Damit deklinierte Habeck nur aus, was er schon im Dezember 21 festgestellt hatte: Er wollte der „manchmal auch ein bisschen eingeschlafenen Volkswirtschaft“ Beine machen. Und ganz in Gutsherrenmanier fügte er hinzu, dass eine solche Transformation neue Chancen eröffnen würde, aber auch „Menschen“ einiges abverlangen wird, also nicht uns, nicht der Gesellschaft, „Menschen“ eben.

Das Frühjahr 2022 war geprägt von der Diskussion, warum wir mit unseren Gasimporten noch die russische Kriegskasse füllen. Dabei ging es nicht nur um Nordstream 2, sondern auch um Nordstream 1.

In einer Spiegelkolumne äußerte sich Nikolaus Blome zur Diskussionslage im Sommer. Er hielt es für widersinnig, zu klagen, dass so wenig Gas durch Nordstream 1 fließe, aber Nordstream 2 nicht zu öffnen (was immer noch eine Mehrheit der Deutschen befürwortete).

Eine solche Öffnung wäre ein Sieg Putins, war dort zu lesen. Nur politische Stimmen vom „Narrensaum“ der Republik kämen auf eine solche Idee. Aber die würden auch „Putins Stiefel“ lecken. Aus Blomes Sicht war es moralisch verwerflich, überhaupt russisches Gas zu kaufen (wegen der Kriegskasse)

Nun hat sich die Diskussion erledigt: Nordstream 1 ist kaputt, eine Röhre von Nordstream 2 auch. Der Versuchung, Putin zu einem Sieg zu verhelfen, ist praktisch gestoppt und das, was gestern noch als Putins Waffe gegen Deutschland portraitiert wurde, wird nun kommunikativ ins Gegenteil verkehrt: Putins militärische Spezialschurken waren die angeblichen Übeltäter (laut BILD). Und BILD ist nicht das einzige Medium, das eine russische Täterschaft insinuiert.

Souveränität verloren – Mehrheitsmeinung außer Kraft gesetzt

Tatsächlich müsste zumindest dem politischen Berlin das Blut in den Adern gefrieren.

Es ist nicht der erste Angriff weltweit auf kritische Infrastruktur (siehe den Cyberangriff auf den Iran, siehe das Kernkraftwerk in der Ukraine).

Aber diesmal betrifft es Russland und Deutschland.

Durch diesen Akt hat Deutschland seine Souveränität verloren, energiepolitische Entscheidungen zu treffen, selbst die Souveränität (je nach Betrachterlage), sich falsch zu entscheiden. Durch diesen Akt wird die Mehrheitsmeinung in Deutschland völlig außer Kraft gesetzt. Das ist der nicht zu leugnende Kern des Anschlags gegen drei Nordstream Röhren. Die Energiesicherheit Deutschlands ist schwer beschädigt, die demokratische Willensbildung ist außer Kraft gesetzt.

Der Spiegel spricht von einer verwirrenden Situation. Das überzeugende Motiv für den Anschlag fehle. Offenbar ist dem Autor die Tragweite dieses Anschlags überhaupt nicht klar.

Landauf und landab wurde uns immer wieder eingetrichtert, dass Nordstream dem Kreml politische Einflussnahme auf die EU und auf Deutschland ermögliche. Teil der Verständigung zwischen Biden und Merkel 2021 war die folgende Aussage:

„This commitment is designed to ensure that Russia will not misuse any pipeline, including Nord Stream 2, to achieve aggressive political ends by using energy as a weapon.”

Übersetzung:

Diese Verpflichtung soll sicherstellen, dass Russland keine Pipeline, einschließlich Nord Stream 2, missbraucht, um aggressive politische Ziele zu erreichen, indem es Energie als Waffe einsetzt.

Damit ist jetzt auch Schluss. Russische Einflussnahme auf Deutschland war gestern.

Wir müssen auch keine Skrupel mehr haben, dass wir aus Gründen der Energieversorgung in Deutschland (noch) die russische Kriegskasse füllen, in Euro bzw. in Rubeln. Wo kein Gas fließt, fließen auch keine Rubel.

Jetzt stellt sich nur die Frage, wo das Gas herkommen soll, das wir brauchen, wenn die Gasspeicher leer sind. Habeck wollte im Dezember 21 das „Anlitz des Landes“ verändern. Nun, jetzt wird es sich verändern, aber der Wirtschaftsminister hat dabei am wenigsten zu melden.

Nach dem Terroranschlag ließ uns Habeck wissen, man habe schon seit Monaten damit gerechnet, dass es Angriffe auf die Infrastruktur geben könnte. Der Spiegel berichtete von Warnungen der CIA. Das alles geschieht mit einer Emotionslosigkeit, die erschreckend ist.

Die Ungeheuerlichkeit dieses Anschlags liegt doch auf der Hand.

Und wieso müssen wir mit Angriffen auf Infrastruktur rechnen? Sind wir im Krieg? Und wenn ja, mit wem? Explodieren demnächst weitere Pipelines? In der Ostsee, im Golf von Mexiko oder Kraftwerke

Und was ist mit den angeblichen CIA-Warnungen? Woher will die CIA gewusst haben, was passieren würde? Können die neuerdings hellsehen, wie einst die Buchela vom Rhein?

Oder ist das nur die logische Konsequenz aus der amerikanischen Sicherheitsdoktrin, die ganz generell Infrastruktur als gefährdet ansieht?

Oder beruht es auf der Annahme, dass das, was man selbst ins Kalkül zieht, ja wohl auch durch den Kopf der Gegenseite schwirren könnte.

Was machte der BND, was die Bundesregierung, als ihr die angeblichen CIA-Warnungen zu Ohren kamen? Das alles ist geheim? Obwohl es alle angeht.

Auch in den USA begründen schon wieder die üblichen „informierten“ Kreise, dass die Russen hinter dem Anschlag stecken. Es sind die gleichen „informierten“ Kreise, „gelernte“ Desinformanten, die über Jahre alles Mögliche erfanden und erlogen, sofern es nur die Russen in ein schlechtes Licht setzten. Matt Taibbi, ein unabhängiger Journalist, hat die wichtigsten Falschbehauptungen der letzten Jahre exemplarisch zusammengetragen.

TK News by Matt Taibbi
Master List Of Official Russia Claims That Proved To Be Bogus
On March 16th, 2021, the Office of the Director of National Intelligence (ODNI) released a much-hyped, much-cited new report on “Foreign Threats to the 2020 Elections.” The key conclusion: We assess that Russian President Putin authorized, and a range of Russian government organizations conducted, influence operations aimed at denigrating President Biden’s candidacy and the Democratic Party, supporting former…
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2 years ago · 565 likes · 704 comments · Matt Taibbi

Was fehlt, ist eine angemessene politische Reaktion auf die Tatsache, dass nicht „meine Röhren“ (Putin), sondern unsere Röhren kaputt gemacht wurden. Dass die öffentliche Meinung nicht nur ignoriert, sondern buchstäblich gesprengt wurde. Sollen die Leute doch fordern, was sie wollen, kaputt ist kaputt. An dieser Tatsache kommt jetzt niemand mehr vorbei.

Wieso gibt es keine sofortigen deutsch-russische Konsultationen und ein gemeinsames Untersuchungsteam? In diesen Leitungen steckt nicht nur russisches Geld. Das steckt auch das Geld deutscher Unternehmen drin. Und deutsche Arbeitsplätze. Direkt und indirekt.

Aber mehr noch, in diesen Röhren steckt(e) deutsche industrielle Zukunft. In ihnen steckt europäisches Konfliktpotential, aber auch eine deutsch-russische Verbindung, die bis zum Terroranschlag noch nicht völlig gekappt war. Nach den Planungen sollte sie Jahrzehnte überdauern.

Nun ist „Putins Triumph“ Geschichte.

Ob sich noch etwas retten lässt? Nicht nur im technischen Sinn, denn wer das gemacht hat, hat das Ost-West-Misstrauen, was ohnehin schon im Höhenflug war, in einen neuen Orbit katapultiert.

Funktioniert eine Röhre von Nordstream 2 noch? Kann Nordstream 1 repariert werden und wenn ja, unter welchen Bedingungen? Was ist mit dem Sanktionsregime, das eine solche Wendung der Ereignisse gar nicht vorhersah?

Es ist richtig, dass Russland diesen Vorfall in den UN-Sicherheitsrat bringt. Aber Deutschland hätte das unverzüglich auch fordern müssen.

Denn wenn das, was in der Ostsee geschah, Schule macht, rutschen wir in eine unkalkulierbare Eskalationsspirale, aus der kein Entrinnen mehr gibt. Wer wird die Notbremse ziehen? Denn so wie es ist, mit all der Kriegslüsternheit und Verlogenheit, darf es nicht weitergehen.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog der Autorin, mit ihrer freundlichen Genehmigung.

Über Petra Erler / Gastautorin:

Petra Erler: "Ostdeutsche, nationale, europäische und internationale Politikerfahrungen, publizistisch tätig, mehrsprachig, faktenorientiert, unvoreingenommen." Ihren Blog "Nachrichten einer Leuchtturmwärterin" finden sie bei Substack. Ihre Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit ihrer freundlichen Genehmigung.