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Bloodlands

Timothy Snyders Buch von 2010 ist aktueller denn je

Snyders Buch entwirft eine europäische Gewaltgeographie der 1930er und 1940er Jahre. Die „Blutländer“ sind die geographischen Räume Ostmitteleuropas, vor allem Polen, die Ukraine, die Baltischen Staaten, Weißrussland und die westlichen Gebiete Russlands. Sie stellen eine Zone extremer stalinistischer und hitleristischer Gewalt dar. Hier lag der Schwerpunkt des Holocaust und der Hungersnöte in Folge der stalinistischen Kollektivierung.

Nazideutschland ermordete hier ca. 10 Millionen Menschen, die stalinistische Sowjetunion ca. 4 Millionen. Zählt man die voraussehbaren Todesfälle durch lange Lagerhaft oder ethnische Säuberungen hinzu, forderte der Stalinismus hier ca. 9 Millionen Menschenleben, der Hitlerismus ca. zwölf Millionen – und zwar über die unmittelbaren Opfer der Kampfhandlungen in einem vom NS-Staat losgetretenen 2. Weltkrieg hinaus.

Snyder gibt einen Überblick über die kaum vorstellbare Folge der Gewaltexzesse. Stark sein Gedanke, dass die extremste Zuspitzung der Gewalt auch etwas mit den gescheiterten Plänen der Machthaber zu tun hat. Stalin träumte von einer Kollektivierung insbesondere der ukrainischen Landwirtschaft in wenigen Wochen. Das sollte die Grundlage für eine schnelle Industrialisierung der UdSSR legen. Tatsächlich produzierte er erst einmal Chaos und Hungersnot und verbarg sein Scheitern dann hinter dem Slogan „Klasse gegen Klasse“: die Millionen Hungertoten, die seine Politik zu verantworten hatte, sollten ein „Sieg“ im Klassenkampf gegen die „Kulaken“ sein – übrigens just im Moment, als Hitler an die Macht kam, begünstigt durch das von den deutschen Kommunisten übernommene Klasse-gegen-Klasse-Sektierertum, das ein Bündnis mit Sozialdemokraten gegen Hitler verhinderte.

Hitler wiederum träumte von einem Blitzkrieg gegen die Sowjetunion, der in wenigen Wochen zum Zusammenbruch des Landes führen sollte. Als der Sieg ausblieb, hatte Hitler eigentlich schon fertig (so wie Putin heute in der Ukraine). Aber so wie Stalin zuvor ersatzweise einen „Klassenkampf“ gegen die Kulaken inszenierte, so akzentuierte Hitler seinen Kampf „Rasse gegen Rasse“. Die Vernichtung der Juden sollte fortan sein „eigentlicher“ Krieg sein – wenn er denn gegen die Alliierten schon keine Chance mehr hatte.

Snyder bringt er uns in „Bloodlands“ die Geschichte eines vergessenen und in der Erinnerung marginalisierten Zwischeneuropa nahe. Er zeigt dabei auch, welche Lücken unsere Erinnerungskultur immer noch aufweist. Denn auch in der Wissenschaft und Politik der Bundesrepublik kam dieses Zwischeneuropa vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine kaum in den Blick. Man paktierte mit Putins Russland über die Köpfe der Ostmitteleuropäer hinweg. Man baute Nordstream-Pipelines, als hätte es das Molotow-Ribbentrop-Europa von 1939-41 nie gegeben – jenes sowjetische-deutsche Einvernehmen, sich gemeinsam die dazwischen liegenden Länder zu unterwerfen, mit dem der 2. Weltkrieg anfing.

Mein Tipp: Die Debatten zu unserer Erinnerungskultur werden sich in den nächsten 10 Jahren genau um dieses Problem drehen. Wir werden im Ergebnis sehen, wie eingeschränkt unser Blick auf unser Europa bis hin zu Putins Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 war. Die deutsche Erinnerungskultur hat viele Verdienste. Aber sie hat auch noch einiges zu lernen. Snyders Buch wird dabei helfen.

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Über Reinhard Olschanski / Gastautor:

Geboren 1960, Studium der Philosophie, Musik, Politik und Germanistik in Berlin, Frankfurt und Urbino (Italien). Promotion zum Dr. phil. bei Axel Honneth. Diverse Lehrtätigkeiten. Langjährige Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Referent im Bundestag, im Landtag NRW und im Staatsministerium Baden-Württemberg. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Politik, Philosophie, Musik und Kultur. Mehr über und von Reinhard Olschanski finden sie auf seiner Homepage.

2 Kommentare

  1. Martin Böttger

    Deiner Feststellung “als Hitler an die Macht kam, begünstigt durch das von den deutschen Kommunisten übernommene Klasse-gegen-Klasse-Sektierertum, das ein Bündnis mit Sozialdemokraten gegen Hitler verhinderte” stimme ich einerseits zu, wenn dabei der Antikommunismus der SPD (wie auch der “bürgerlichen” Demokrat*inn*en) nicht unterschlagen wird, der ebenso “seinen Beitrag” leistete.
    Der Begriff “Hitlerismus” könnte auch von den vielen Millionen Mitläufer*inne*n stammen, mit dem sie ihre Unschuld beteuern. “Davon haben wir nichts gewusst.”
    Der Faschismus-Begriff hat schon seine erklärenden Vorteile – wann er passt und wann nicht, darüber muss gestritten werden.

    • Reinhard Olschanski

      Hitlerismus wird hier im Sinne der besonderen nationalsozialistischen Version des Faschismus sowie des Totalitarismus verwendet, nicht im Sinne einer „Mitläuferkategorie“. Snyder zeigt in seinem Buch ziemlich gut, wieviel sog. „Mitläufer“ wussten/haben wissen können. Seine Kritik an Wehrmacht und NS-Polizeitruppen im Rückraum der Naziaggression im Osten ist hart und dezidiert. – Stalins Klasse-gegen-Klasse-Politik – mit Blick auf die Sozialdemokratie dann auch in der Variation der „Sozialfaschismusthese“ bekannt – ist eine einzige, höchst folgenreiche Katastrophe. Innerhalb der Sowjetunion sollte sie Stalins Holodomor-Politik von 1932-34 ein Deckmäntelchen umhängen. Die deutschen Kommunisten haben außenpolitisch brav mitgemacht und das Ganze auf Deutschland und die SPD übertragen – und damit Hitlers Machtantritt erleichtert. – Einige Jahre später, als man gesehen hat, in welch tiefen Brunnen das Kind damit gefallen ist, ist man dann zur „Volksfrontpolitik“ übergegangen und hat Bündnisse mit jenen Sozialdemokraten gesucht, die gerade eben noch „Sozialfaschisten“ gewesen sein sollen. – Ich bin kein besonderer Fan der Sozialdemokratie und halte viele Wendungen in ihrer Parteigeschichte für hoch problematisch. Rund um Hitlers Machtantritt lagen die großen politischen Fehler der Arbeiterparteien allerdings eindeutig auf Seiten der Kommunisten.

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