Offensichtlich bedurfte es eines handfesten Skandals, um die Europäische Union in Sachen Korruptionsbekämpfung zu sensibilisieren. Im Dezember 2022 erschütterte ein Korruptionsskandal neuer Art die EU, und schon fünf Monate später legte die EU-Kommission ein umfangreiches Bündel von Maßnahmen zur Vermeidung und Ahndung von Korruption vor.
Bisher fanden die Korruptionsfälle in einzelnen EU-Mitgliedstaaten statt, wo EU-Gelder unterschlagen wurden und verschwanden (Ungarn, Italien, Rumänien). Dafür war dann OLAF (französische Abkürzung) zuständig, das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung. Seine Aufgabe ist die Bekämpfung von Betrug, Korruption und anderen rechts-widrigenHandlungen, die die finanziellen Interessen der Europäischen Union schädigen.
Das Amt ermittelt innerhalb und außerhalb der europäischen Institutionen und unterstützt, koordiniert und beobachtet die Arbeit nationaler Behörden. Nach einem Bericht von OLAF sind 2022 knapp 430 Mio. € missbraucht oder zweckentfremdet worden. Eine unrechtmäßige Verwendung von knapp 200 Millionen konnte verhindert werden. 2021 lag die unterschlagene Summe bei mehr als 527 Mio.
Diesmal war es nicht ein Mitgliedstaat, sondern eine bekannte EU-Parlamentarierin, die erwischt wurde, weil sie sich offenbar von Katar und Marokko schmieren ließ und im Gegenzug für deren Interessen stark machte. Bei Eva Kaili (griechische Sozialdemokratin, bis dahin Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments) und anderen sozialdemokratischen Abgeordneten waren mehr als 1,5 Mio. € ungeklärter Herkunft sichergestellt worden. Der Vorwurf lautet „Korruption und Geldwäsche in einer kriminellen Vereinigung“. Kailli sieht das natürlich anders und inszeniert sich als Opfer einer Intrige.
Im Europaparlament hat dieser Vorfall für erhebliche Unruhe gesorgt. Umgehend wurde von der EU-Kommission eine Reihe von Folgerungen angekündigt, die daraus gezogen würden. Natürlich gab es immer schon Bestimmungen gegen Korruption. Artikel 325 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union verpflichtet diese und die Mitgliedstaaten zur Bekämpfung von Betrügereien und sonstigen gegen die finanziellen Interessen der Union gerichteten rechtswidrigen Handlungen. Dazu wurde 1999 OLAF gegründet und 2014 für alle EU-Institutionen ein Transparenz-(Lobby-)-Register vorgeschrieben.
2017 hatte die EU eine Richtlinie zur strafrechtlichen Bekämpfung von Korruption und Betrug erlassen, der Handlungsrahmen von Europol wurde entsprechend erweitert. Die Herausgabe eines Anti-Korruptionsberichtes, der den Fortschritt der Korruptionsbekämpfung in den einzelnen Mitgliedstaaten untersuchen sollte, wurde allerdings 2016 wieder eingestellt. Nach Ansicht einschlägiger Institutionen reichen die Maßnahmen der EU nicht aus. Für die Nichtregierungsorganisationen Transparency International und LobbyControl sind die Transparenzregeln nicht scharf genug gefasst. Regelwidrige Nichteintragungen und Falschangaben müssten strafrechtliche Konsequenzen haben.
Aufgrund des Skandals vom Dezember 2022 kündigte die EU-Parlamentspräsidentin schon im Januar einen Reformplan mit 14 Punkten an, der u.a. die Lobbyarbeit von Ex-Parlamentariern beschränken, Treffen zwischen Abgeordneten und Externen dokumentationspflichtig machen, „Freundschaftsgruppen“ zwischen Abgeordneten und ausländischen Regierungen verbieten und Besuche von staatlichen Vertretern im Parlament registrieren sollte. Geschenke, Reisen und finanzielle Interessen von Abgeordneten sollen künftig detaillierter erfasst werden. Kritiker fordern darüber hinaus – analog zu den Vorgaben im Deutschen Bundestag – Transparenz über Vermögenswerte und zu Geschäftspartnern.
Anfang Mai stellte die EU-Kommission ein Handlungspaket zur „Prävention und Schaffung einer Kultur der Integrität“ vor, das die zur Korruptionsbekämpfung erforderlichen Instrumente stärkt. Es enthält ein Bündel von Maßnahmen, die teils von der EU, teils von den Mitgliedstaaten umzusetzen sind. Für die strafrechtliche Verfolgung bleiben die Mitgliedstaaten zuständig. Der Katalog der erfassten Tatbestände soll erweitert und präzisiert, die Mindeststrafen sollen erhöht, die Straftatbestände harmonisiert und das Strafmaß vereinheitlicht werden. Gegenüber Personen aus Drittstaaten sind Sanktionen vorgesehen.
Die EU weist darauf hin, dass Korruption mindestens 5% des weltweiten Sozialprodukts kostet und in der EU Schäden von mindestens 120 Mrd. €/a anrichtet. Sie untergräbt „Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Frieden, internationale Sicherheit und nachhaltige Entwicklung“. 68% der Europäer/innen seien der Ansicht, dass Korruption in ihrem Land weit verbreitet ist, und 40% hielten die Meldung von Verdachtsfällen für sinnlos.
Schon Anfang Juni folgte der nächste Schritt. Die EU-Kommission gründete ein interinstitutionelles Ethik-Gremium, das gemeinsame Standards für das ethische Verhalten aller EU-Parlamentarier und -Bediensteten und einen förmlichen Mechanismus für die Koordinierung und den Meinungsaustausch zwischen den Institutionen schaffen soll. Der umfangreiche Katalog von Verhaltensstandards regelt vor allem folgende Bereiche:
# Annahme von Geschenken, Bewirtung, Reisen, Auszeichnungen
# Transparenz, vor allem für Treffen mit Interessenvertretern
# Angabe von Interessen und Vermögenswerten
# Nebenbeschäftigung oder externe Tätigkeiten
# Bedingungen und Transparenz bei Tätigkeiten ehemaliger Mitglieder
# Überwachung der Einhaltung der Vorschriften
Selbstverständlich gab es auch zuvor schon Verhaltenskodices der einzelnen Institutionen, doch waren diese vielfältig und zersplittert. Nunmehr soll ein gemeinsamer hoher Standard sichergestellt werden. Das Ethikgremium soll gemeinsame Mindeststandards schaffen, dem Erfahrungsaustausch dienen und eine gemeinsame Kultur fördern. Seine Maßnahmen sollen für die Öffentlichkeit transparent und nachvollziehbar sein. Ermittlungen in einzelnen Fällen sowie Strafverfahren fallen nicht in die Zuständigkeit des Ethikgremiums.
Es soll zügig weitergehen. Schon Anfang Juli sollen sich alle relevanten Institutionen treffen, um Verhandlungen aufzunehmen. Beteiligt sind das Europäische Parlament, der Europäische Rat, der Gerichtshof, die Europäische Zentralbank, der Europäische Rechnungshof, der Wirtschafts- und Sozialausschuss und der Ausschuss der Regionen. Der Europäischen Investitionsbank und anderen Institutionen steht die Mitwirkung offen.
Der Ethikkatalog ist anspruchsvoll und versucht, keine Lücken zu lassen. Die Breite und Schnelligkeit der geplanten Maßnahmen zeigt, dass die EU-Kommission erkannt hat, welche Bedrohung Korruption darstellt. Korruption ist nicht auszurotten. Mit ihren Vorschlägen strebt die EU ein unionsweites Netz zur Korruptionsbekämpfung an, in dem alle Staaten mitwirken und alle relevanten Institutionen zusammenkommen, um eine EU-Antikorruptionsstrategie mit spezialisierten Korruptionsbekämpfungsstellen und -instrumenten zu entwickeln. Die von der Kommission vorgelegte Richtlinie bedarf allerdings noch der Zustimmung des Europäischen Parlaments und des Ministerrats, bevor sie EU-Recht wird.
Der Europarat hat zwei Übereinkommen zur Bekämpfung der Korruption geschaffen. 2002 trat das Strafrechtsübereinkommen über Korruption in Kraft. Es verpflichtet die Vertragsparteien dazu, bestimmte korrupte Praktiken strafrechtlich zu verfolgen und Whistleblower zu schützen. Ferner sieht es eine bessere internationale Zusammenarbeit bei der Verfolgung von Bestechungsdelikten vor. Das Abkommen wurde bislang von 47 europäischen Staaten ratifiziert; Russland wurde im März 2022 ausgeschlossen.
Das Zivilrechtsübereinkommen über Korruption trat 2003 in Kraft. Die 46 Unterzeichnerstaaten verpflichten sich, wirksame Rechtshilfen für Personen zu gewähren, die Schaden aus Bestechungsaktionen erlitten haben. Die Konvention regelt Themen wie Haftungsfragen, Gültigkeit von Verträgen, Whistleblower, Beweismaterial oder Sicherstellung von Vermögen.
Die bereits 1999 gebildete Staatengruppe gegen Korruption (GRECO) dient als Plattform für den Erfahrungsaustausch über Korruptionsthemen, überprüft anhand von Fragebögen und Expertenbesuchen das Verhalten der Mitgliedstaaten anhand der Antikorruptionsstandards des Europarats und fasst ihre Ergebnisse in Länderberichten zusammen. In zyklischen Evaluierungsrunden werden Schwerpunktthemen behandelt. Die 49 Mitglieder der GRECO sind die Staaten des Europarats, die EU und die USA.
Auffällig ist, dass ernsthafte und koordinierte internationale Aktivitäten gegen die Korrup-tion erst vor rund zwanzig Jahren einsetzten (1999, 2002). Möglicherweise war dies bis dahin vorrangig als nationale Aufgabe gesehen worden. Im Zuge der internationalen Finanzverflechtungen, Krypto-Währungen und Steueroasen wurde klar, dass Korruption vorrangig ein grenzüberschreitendes Problem ist und daher eine internationale Koordination erfordert. Die internationale Gemeinschaft musste „nachrüsten“. Wenn immer wieder neue trickreiche und geheime Finanzwege entdeckt und genutzt werden, können nationale Maßnahmen nur begrenzt wirksam sein.
Das Übereinkommen gegen Korruption der Vereinten Nationen trat erst 2005 in Kraft. Es verpflichtet die Vertragsstaaten zur Verfolgung verschiedenster Formen der Korruption und zur internationalen Zusammenarbeit. Derzeit haben 189 Staaten das Abkommen ratifiziert, darunter auch die EU. Nicht dabei sind u.a. Nordkorea, Sudan, Syrien und Eritrea. Deutschland ratifizierte das Abkommen erst 2014, da CDU und FDP lange Zeit verschärfte Regeln gegen Abgeordnetenbestechung ablehnten. 5)
Wie ordnet sich denn in diesem beeindruckenden Gefüge die SMS-Politik der Vorsitzenden der EU-Kommission bei der Impfstoffbeschaffung ein? (Gesamtvolumen ca. 35 Mrd. €)
https://jacobin.de/artikel/der-lausigste-deal-der-eu-geschichte-pfizer-ursula-von-der-leyen-eu-sms-impfstoff-korruption-martin-sonneborn-claudia-latour/