Der 2. August ist der internationale Tag des Gedenkens an den Genozid an Sinti und Roma in der Zeit des Nationalsozialismus. 2015 wurde dieses Datum vom Europäischen Parlament festgelegt. Jährlich wird eine offizielle Gedenkfeier am ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau veranstaltet. 2023 fand diese ausnahmsweise bereits am 27. Januar statt, dem Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers statt, diesmal in Berlin. Am 2. August dieses Jahres werden daher nur einige regionale Veranstaltungen stattfinden.

Rechtzeitig zum Gedenktag gibt es eine erfreuliche Nachricht für die Sinti und Roma. Zwei der drei miteinander konkurrierenden Dachverbände der beiden Gruppen haben sich auf eine Kooperationsvereinbarung geeinigt und Eckpunkte für einen Staatsvertrag mit der Bundesregierung vorgelegt. Sie hoffen, auch den dritten Verband einbinden zu können.

Kern des Entwurfs für einen Staatsvertrag ist die Forderung nach einem Gremium, das die Sinti und Roma in Deutschland repräsentiert und anerkannter Gesprächspartner der Bundesregierung ist. Zwei Fonds sollen die Sinti und Roma unterstützen. Einerseits sollen Projekte gefördert werden, die gegen den „grassierende Antiziganismus“ vorgehen, andererseits sollen Finanzmittel für kulturelle Projekt und Veranstaltungen bereitgestellt werden, z.B. für Sprachpflege, Geschichte oder Tradition. Beantragt sind 12 Mio. €/a. Nach dem Vorbild des Jüdischen Museums in Berlin soll ein Museum zur Geschichte der Sinti und Roma in Deutschland errichtet werden.

Kaum eine andere Minderheit wird in Deutschland derart häufig benachteiligt und diskriminiert wie die Sinti und Roma. Das Bewusstsein für deren Verfolgung und Ermordung in der NS-Zeit ist nur schwach ausgeprägt. Deshalb ist der Wunsch nach einem Staatsvertrag nachvollziehbar. Dabei kann auf eine entsprechende Regelung mit dem Zentralrat der Juden verwiesen werden. Schon 2013 haben Baden-Württemberg und der Verband Deutscher Sinti und Roma einen Staatsvertrag geschlossen. Ein Abkommen auf Bundesebene ist bislang vor allem an der Uneinigkeit der drei Verbände gescheitert.

Der 2. August wurde als Gedenktag ausgewählt, weil in der Nacht vom 2. auf den 3. August im Konzentrationslage Auschwitz-Birkenau trotz erbitterter Gegenwehr die letzten dort inhaftierten 4.300 Sinti und Roma ermordet wurden. Insgesamt wurden unter der Herrschaft des Nationalsozialismus in Europa rund 500.000 Sinti und Roma verschleppt und an ihren Heimatorten oder in Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslagern ermordet.

Auch wenn es solche grausamen Vernichtungsaktionen zuvor nicht gegeben hatte, so waren die Sinti und Roma in Deutschland fast immer eine unerwünschte, zumeist diskriminierte und oftmals verfolgte Minderheit gewesen. Dabei leben sie bereits seit mehr als 600 Jahren in Europa. Um 1300 n.Chr. flohen sie vor der osmanischen Unterdrückung und Versklavung aus dem Punjab-Tal in Nordwestindien. Ihre Sprache, das Romanes, ist mit der altindischen Hochsprache Sanskrit verwandt. Inzwischen gibt es über 100 unterschiedliche Dialekte des Romanes.

Als die Türken Mitte des 14. Jahrhunderts in Europa eindrangen, flüchteten die Sinti und Roma in den Balkan. Dort wurden die Familien als „Roma-Sklaven“ den Fürsten, Großgrundbesitzern und Kirchen zugeteilt. So flohen sie erneut und kamen Anfang des 15. Jahrhunderts nach Mitteleuropa. Anfänglich waren sie dort geduldet, sie waren als Handwerker willkommen. Mancherorts wurden sie als Pilger angesehen (die irgendwann wieder zurückgehen würden) und ihnen wurden Geleit- oder Schutzbriefe ausgestellt. Zigeuner wurde die von Dritten genutzte Fremdbezeichnung, sie wird jedoch von den meisten Sinti und Roma als Diskriminierung betrachtet.

Allerdings waren und blieben sie Fremde, die sie sich von den Einheimischen durch Aussehen, kulturelle Traditionen und eine eigene Sprache unterschieden. Romanes war lange nur eine mündliche Sprache, eine Schrift entstand erst im 20. Jahrhundert. Da es somit aus der Vergangenheit kaum schriftliche Quellen gibt, sind Informationen über die Geschichte der Sinti und Roma lückenhaft. Sie stammen in der Regel von Außenstehenden.

Ein Merkmal ist ihre große Wertschätzung für Familie und Verwandtschaft und ein entsprechend enger Zusammenhalt. Bekannt und anerkannt ist ihre musikalische Begabung, die sogar Einfluss auf klassische Komponisten genommen und und eine eigene Jazz-Richtung geprägt hat. Einen eigenen Staat, eine Art Selbstverwaltung oder gar eine Regierung gab es nie. Daher haben Sinti und Roma auch nie Kriege geführt. Eine eigene Religion kennen sie nicht, sie sind Moslems, Orthodoxe, Katholiken, Protestanten. Dennoch haben sie in Verfolgungszeiten in Europa keinen Schutz durch die Kirchen erhalten. Im 16. Jahrhundert stellte das Konzil von Trient sogar fest: Sinti und Roma werden nicht geduldet. Auch in der NS-Zeit gab es kaum kirchlichen Widerstand gegen ihre Verfolgung.

Das anfängliche Wohlwollen schwand, und die Sinti und Roma wurden zunehmend verfolgt und unterdrückt. Man verweigerte ihnen das Niederlassungsrecht und die Ausübung von Handwerksberufen. 1499 erklärte der Reichstag zu Augsburg sie als vogelfrei. Das zwang sie zum Verstecken in den Wäldern, und sie wurden zum „Fahrenden Volk“. Ebenso wie die Juden wurden sie immer wieder zu Sündenböcken für irgendwelche Missstände gemacht.

Erst im 18. Jahrhundert nahm die Verfolgung ab. Ab 1760 versuchte Österreich-Ungarn eine neue Politik. Man verfügte die Sesshaftmachung der Roma, verbot ihnen jedoch den Gebrauch ihrer Sprache und ließ Roma-Kinder zwangsweise von ihren Familien trennen und zur Adoption freigeben. Die Roma waren also weiterhin diskriminiert.

Das Deutsche Reich intensivierte die Benachteiligung und die Repressionen. 1899 wurde eine zentrale Polizeidienststelle geschaffen, deren Aufgabe ausschließlich die Überwachung der Sinti und Roma war, 1926 folgte das „Gesetz zur Bekämpfung der Zigeuner, Landfahrer und Arbeitsscheuen“, das die Abschiebung Staatenloser, die Festsetzung in Arbeitshäusern und die Einweisung von Kindern in Heime vorsah. Dennoch waren in Deutschland bis Anfang der 30er Jahre fast alle Sinti und Roma sesshaft und deutsche Staatsbürger.

Nach der Machtergreifung der NSDAP wurden die Sinti und Roma erneut verfolgt. Dabei konnten die Nationalsozialisten zum Teil an die Gesetzes- und Verwaltungspraxis der Weimarer Republik anknüpfen. Sinti und Roma verloren die deutsche Staatsbürgerschaft, unterlagen Berufsverboten, mussten Zwangsarbeit leisten, Eheschließungen mit „Deutschblütigen“ wurden untersagt, die Kinder durften keine Schulen besuchen.

1938 begann das „Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ mit der systematischen Erfassung aller Roma und Sinti. Sie wurden als „kriminell und asozial“ betrachtet, und die angelegten Karteien dienten dazu, ihnen Wohnsitze zuzuweisen. Im Mai 1940 begann die Deportation nach Polen, zunächst zur Zwangsarbeit und ab Anfang 1943 in Konzentrationslager. Ihr Eigentum wurde eingezogen. Sinti und Roma, die mit „Deutschblütigen“ verheiratet waren, wurden nicht deportiert, sondern sterilisiert. Insgesamt wurden etwa 70% der Sinti und Roma ermordet.

Beschämend und kaum glaubhaft ist der Umgang mit den Sinti und Roma nach Ende der Nazi-Diktatur. Sie wurden nicht als NS-Opfer anerkannt, obwohl 500.000 Personen umgebracht worden waren. Den Überlebenden wurden Entschädigungen, Hilfen und die Anerkennung als Opfer verweigert. Die Rückgabe der entzogenen deutschen Staatsangehörigkeit erfolgte zunächst nicht, weshalb viele Sinti und Roma heimatlos und staatenlos blieben.

Bezeichnend für die fehlende Aufarbeitung von Nazi-Verbrechen ist, dass der Bundesgerichtshof 1956 urteilte, bei den Deportationen der Sinti und Roma habe es sich bis 1943 keinesfalls um die rassische Verfolgung einer Minderheit gehandelt. In der Urteilsbegründung heißt es: „Die Zigeuner neigen zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien. Es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe zur Achtung vor fremdem Eigentum.“ Erst 1963 wurde dieses Urteil aufgehoben.

Ende der 70er Jahre erhoben die Verbände der Sinti und Roma zunehmend ihre Stimme und machten auf diese Missstände aufmerksam. Aufgrund des entstandenen öffentlichen Drucks erklärte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt 1982 die Ermordung der Sinti und Roma offiziell als Völkermord aus rassistischen Gründen. Seit 1995 sind Sinti und Roma in Deutschland als nationale Minderheit anerkannt.

Schätzungen zufolge leben derzeit zwischen 70.000 und 150.000 Sinti und Roma in Deutschland. Offizielle Erhebungen gibt es nicht. Zu den Überlebenden sind in den 1860/70er-Jahren sogenannte Gastarbeiter gekommen, vor allem aus dem damaligen Jugoslawien, später auch – vor allem wegen der dortigen Kriege – Flüchtlinge aus dessen Nachfolgestaaten. Weltweit geht man von acht bis zwölf Millionen Roma und Sinti aus, die zumeist im Osten und Südosten Europas leben. Ihre Lage ist stark von Armut und Ausgrenzung geprägt.

Die Diskriminierung der Sinti und Roma ist längst nicht überwunden. Eine Erhebung der Europäischen Union für Grundrechte ergab, dass etwa die Hälfte Erfahrungen mit Ressentiments, Vorurteilen und Diskriminierungen gemacht hatte. Diese Abwehrhaltung der Bevölkerungsmehrheit wird Antiziganismus genannt. Sinti und Roma werden pauschalierend als nomadisch, fremd, kulturlos und kriminell, aber auch als frei und musikalisch bezeichnet, wobei Historiker vermuten, dass diese Einschätzung mehr ein Produkt der Vergangenheit als der Gegenwart ist.

Über Heiner Jüttner:

Der Autor war von 1972 bis 1982 FDP-Mitglied, 1980 Bundestagskandidat, 1981-1982 Vorsitzender in Aachen, 1982-1983 Landesvorsitzender der Liberalen Demokraten NRW, 1984 bis 1991 Ratsmitglied der Grünen in Aachen, 1991-98 Beigeordneter der Stadt Aachen. 1999–2007 kaufmännischer Geschäftsführer der Wassergewinnungs- und -aufbereitungsgesellschaft Nordeifel, die die Stadt Aachen und den Kreis Aachen mit Trinkwasser beliefert.