Der Rechtsextremismus der Mitte (5.) – Die CDU

Vierundsiebzig Jahre nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes, der freiheitlichsten Verfassung, die sich eine deutsche Gesellschaft je gegeben hat, müssen Menschen nicht nur wieder fürchten, aufgrund ihrer Hautfarbe, Herkunft, Religion oder sexuellen Identität beschimpft, angegriffen, beleidigt, misshandelt, bedroht oder gar getötet zu werden. Die Partei, die für diese Unmenschlichkeit und diesen Zivilisationsverfall steht, die Rechtsextremisten und Gewalttäter in ihre Reihen aufnimmt, gewaltbereite Gedenkmärsche und Versammlungen organisiert, nennt sich zynisch “Alternative für Deutschland”. Der Vorsitzende der CDU, der großen deutschen Volkspartei mit christlicher, liberaler und sozialistischer Tradition, Friedrich Merz, kündigte im Juli 2023 an, die Union werde künftig zeigen, dass sie „eine Alternative für Deutschland mit Substanz“ sei.

Diese Verunglimpfung der Partei Konrad Adenauers, Norbert Blüms, Rita Süssmuths, Helmut Kohls und Angela Merkels durch die Gleichsetzung mit dem Markenzeichen einer in großen Teilen faschistischen Partei durch den CDU-Vorsitzenden ist wohl einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Und sie hat direkte Folgen – seitdem steigen die Umfragewerte der AfD über 20%.

Orientierungs- und Verantwortungslosigkeit in der Krise

Ohne Zweifel befindet sich unser Land derzeit in einer multifaktoriell bedingten Krise. Der Klimawandel und sechzehn  Jahre Untätigkeit der CDU/CSU-dominierten Bundesregierung Merkel haben die Verschärfung der Klimakrise so vorangetrieben, dass nun mit immer tiefgreifenderen Maßnahmen gegengesteuert werden muss. Der Zerfall der Infrastruktur des Straßen- und Schienennetzes, der nahezu Bankrott des Gesundheits- und Pflegesystems, der Zerfall der Schul- und Hochschulsubstanz sind die Folgen von neoliberalen Privatisierungswellen und ausgebliebenen Zukunftsinvestitionen allein im Wirtschaftsinteresse.

Das Bildungssystem krankt am Mangel an Geld, Kompetenzen, IT und Lehrkräften. Eine vernachlässigte Integrationspolitik und die Beschränkung auf immer mehr Abschottung seit der Flucht- und Migrationswelle 2015 hat verhindert, dass es eine ökonomisch notwendige und sinnvolle Migration nach Deutschland gibt. Zu diesen Problemen gesellten sich zwei Jahre Corona-Krise und seit Februar 2022 ein Krieg in unserer Nachbarschaft in Europa. Die Ampelregierung hat das Land – bei allem öffentlichen Streit – gut durch den Kriegswinter ohne russisches Gas gebracht und die Energiewende in Gang gesetzt. Die CDU nur ‘rumgenörgelt.

Merz sucht Sündenböcke und findet sie bei Migranten und Geflüchteten

Von der Verantwortung für diese Zustände versucht sich Friedrich Merz seit seiner Wahl zum Vorsitzenden die CDU/CSU reinzuwaschen. Seine Hybris, “die AfD halbieren zu wollen”, mit der er schon bei seiner Niederlage gegen Kramp-Karrenbauer zu kämpfen hatte, lässt ihn nun,  ohne zu zögern,  die politische Agitation der AfD aufgreifen, nach der die Zugewanderten und Flüchtlinge an der Wohnungsnot schuld sind und nicht eine seit Jahren versäumte Schaffung bezahlbaren und hinreichend auf dem Markt vorhandenen Wohnraums. So jagt er, wie es die CDU schon einmal Anfang der 90er Jahre getan hat und wie es die AfD penetrant vorantreibt, die sozial schwächeren der Gesellschaft gegeneinander, um sie gegeneinander auszuspielen.

Thorsten Frei, sein Stellvertreter in der Bundestagsfraktion war sich nicht zu schade, denselben Unsinn im Sommer wieder zu präsentieren, den die CDU/CSU schon einmal 1992, im Zuge der damaligen Asyldebatte verfocht: die Abschaffung des individuellen Rechts auf Asyl. Zwar wäre eine solche Regelung, selbst wenn sie beschlossen würde, völlig wirkungslos, denn sie widerspricht der EU-Menschenrechtskonvention, der Genfer Flüchtlingskonvention und würde gegen weitere internationale Abkommen verstossen und deshalb nichtig. Also reduziert sich die Forderung auf eine politische Kampagne, die infamer weise Geflüchtete zu Sündenböcken für die hausgemachten sozialen Ungerechtigkeiten in Deutschland macht und die AfD kopiert. Die CDU hat dies so schon einmal gemacht.

Merz und Frei blasen in das  Horn der AfD

Beispielhaft zitieren wir hier den NRW-Fraktionsvorsitzenden der Landtags CDU, Helmut Linssen, der es schaffte, in einer 7-minütigen Rede folgende Schlüsselbegriffe unterzubringen: “massiver Missbrauch des Asylrechts; Asylmissbrauch; Überforderung der Aufnahmebereitschaft; Städte und Gemeinden quellen über vor Asylanten” “die Grenzen der Belastbarkeit sind überschritten”, die SPD habe “Anreize für Asyltouristen geschaffen” “Asylschwindel und Asyltourismus Tür und Tor geöffnet” “Scheinasylanten und Wirtschaftsflüchtlinge kommen in die Bundesrepublik” und “nisten sich hier auf Kosten der Steuerzahler ein.” Nach Aufhebung der Grenzen innerhalb der EU” werde man “in einer Asylantenflut ertrinken” und man gebe “zig Milliarden DM für Scheinasylanten aus.” AfD-Sprech? Nein Originalton CDU-NRW, Helmut Linssen MdL, am 16.8.1990 im Landtag Düsseldorf.

Täter/Opfer-Umkehr, Verhöhnung von Verfolgten und sprachliche Diffamierung in sieben Minuten. Wolfgang Schäuble (CDU), und Edmund Stoiber (CSU) bliesen ins gleich Horn. Die Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Ute Gerhardt der Uni Bochum konstatierte damals: “Der Gewalt”  – gemeint waren die Anschläge von Hünxe und Hoyerswerda – “ist eine Eskalation in den Medien vorausgegangen.” Deutschland schottete sich ideologisch und real ab.

Friedrich Merz packt die selben unwahren Dummheiten wieder aus

Jens Spahn, im Mai 2023 bei “Lanz”, Thorsten Frei am 18.7. und Friedrich Merz am 27.8.2023  wollen im Sommer alle verbliebenen Rechte und Abkommen aufkündigen. (Monitor vom 31.8.2023). “Die Diskussion ist ernst gemeint, weil wir ein ernsthaftes Problem in Deutschland haben”, so Merz. In den Augen von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist das reiner “Stammtisch”.

Die CDU/CSU arbeitet damals wie heute mit gezinkten und verdrehten Zahlen bis hin zu platten Lügen. Stoiber behauptete damals, “Wir” seien “halt nicht in der Lage alle 60 Millionen Flüchtlinge auf der Welt aufzunehmen.” – als ob davon jemals die Rede gewesen wäre. Immer wieder wird behauptet, dass Deutschland das Flüchtlingselend der Welt nicht lösen könne. Niemand hat das bisher erwartet und es ist auch nicht zu befürchten, dass inzwischen 100 Millionen Armuts- und Klimaflüchtlinge woanders hin als in ihre Nachbarländer flüchten können.

Gezielte Angstmache mit Horrorszenarien…

Jurist Frei beim SWR1-Interview 2023 genauso: “Wenn man die aktuelle Schutzquote zugrunde legt, dann hätten 35 Millionen Afghanen, wenn sie es denn wollten, einen Schutzanspruch in Deutschland”. Komisch, fragt man sich da, und warum schafft es dann nicht einmal das Auswärtige Amt, ein paar hundert Ortskräfte der Bundeswehr und ihre Familien, die von den Taliban konkret mit dem Tode bedroht sind, nach Deutschland zu holen? Noch schlimmer: Wieso setzte dieselbe Bundesregierung sogar schon erteilte Einreisevisa im Frühjahr 2023 aus?

…kombiniert mit Falschinformation im Stile Donald Trumps

Merz im Sommerinterview am 27.8.23: “Dieser Artikel 16 a des GG wird sehr stark missbräuchlich in Anspruch genommen, wir haben Anerkennungsquoten, die liegen nur bei 3-4 Prozent, …” Falsch: Die Anerkennungsquote lag bei Asylanträgen allgemein zuletzt bei 72,3%, bei Afghanen und Syrern bei 100%. Damit ist wohl kein Missbrauch begründbar. Aber das ist der CDU egal. “Das Boot ist voll – Schluss mit dem Asylbetrug” plakatierten damals die “Republikaner” und “Asylmissbrauch beenden” die CDU. Schon wieder kopiert man die Parolen der Rechten, in diesem Falle der AfD und anderer Faschisten, indem man ihren Parolen recht gibt. “Dann wird die AfD auch wieder kleiner” behauptet allen ernstes Friedrich Merz.

“Es ist nicht zu erwarten, dass die AfD dadurch kleiner wird. Die Gefahr ist sehr groß, dass dies am Ende Wasser auf die Mühlen der Rechten ist und damit eine Entwicklung in Gange gesetzt wird, die man nicht mehr steuern kann,” erklärt der Politikwissenschaftler Prof. Wolfgang Schroeder von der Uni Kassel dazu.

Die CDU-Führung hat die Gefahr für die Demokratie auch nicht ansatzweise erkannt

Heribert Prantl schrieb 1992 im Vorwort meines gemeinsam mit Claudia Roth herausgegebenen Buchs “Die Asyl-Lüge”: “Der Überfall auf die Behindertenschule …hat gezeigt: Erstens, dass nicht nur Ausländer bedroht sind und – wenn es sich ergibt – umgebracht werden, sondern beliebigen Menschen, die auf die Frage, wie sie zu Ausländern stehen, eine Antwort geben, die den Banditen nicht gefällt.  Und zweitens, dass die Knüppelgarden am liebsten Hilflose verprügeln. Das wird weitere Kreise ziehen, wenn die Rollkommandos größer werden, wenn ein Demagoge sie uniformiert und ihnen erklärt, warum Ausländer raus, Alte weg, und Behinderte ausgemerzt werden müssen.

Und dann, sind wir dann nicht schon über die eingangs geschilderte Befürchtung hinaus? Wer heute ‘Ausländer raus’ schreit, pöbelt morgen gegen ‘unnütze Fresser.’…Gewalttäter fragen nicht danach, sie schlagen zu, mit oder ohne Grundrechtsschutz. Gewalttäter blättern nicht im Pass, bevor sie einen ‘Undeutschen’ aus der Straßenbahn schmeißen.” – Die Gefahr für die Demokratie war 1992 weitaus geringer, als heute!

Wann erkennt Merz, dass Übernehmen rechter Parolen Wasser auf deren Mühlen ist?

Seit Monaten übernimmt CDU-Chef Merz die Parolen und Lügen der AfD, versucht sich bei ihnen anheischig zu machen. Seit Monaten erreicht er damit, dass sie AfD in Umfragen immer stärker wird. Zudem hat die CDU ihre Positionen in der Umweltpolitik, die sie noch unter Merkel und Laschet vertreten hat, den jahrzehntelangen Konsens der Demokraten, die den Klimawandel als Problem anerkennen und gemeinsam über Wege streiten, wie man diese Jahrhundertproblem gemeinsam bekämpfen kann,  verlassen.

Von der technisch völlig illusorischen und umweltpolitisch lächerlichen Reanimation der Atomkraftwerke bis zur Übernahme von rechtsextremen Parolen gegen angeblichen “Genderwahn” und der Erklärung der Grünen zum politischen Hauptgegner durch Merz – mit denen man in NRW, Hessen, Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg erfolgreich koaliert, zeigt die Verwirrung  und politische Ideenlosigkeit des “Blackrock”-Paten an der Spitze der CDU.

Wenn er nur den Christdemokraten schaden würde, könnten manche auf die Idee kommen, es sei ja nicht so schlimm. Aber es geht um Deutschland, die Verfassung, die im kommenden Jahr 75 Jahre alt wird, und um eine große, demokratische Volkspartei, die sich und ihre politische Vielfalt nicht auf dem Altar des rechtsextremen Populismus opfern sollte. Vielleicht sind die besonnenen Kräfte der CDU ja noch nicht ganz am Ende.


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Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net