Beueler-Extradienst

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Kollektive Amnesie?

Moral der Stärke statt Kraft der Moral

Ist ja eine ziemlich wirre Diskussion, die nach den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen begonnen wurde. Gibt es sichere gedankliche Plätze, um ein Urteil aufzubauen? Mir fiel wieder in die Hände, was der Gründer der Gazeta Wyborcza, Adam Michnik, vor vielen Jahren in einem Essay „An die deutschen Leser“ mit Blick auf den polnisch- deutschen Dialog geschrieben hatte. Ich zitiere daraus: „Gegenstand des Dialogs sollte das Schicksal der europäischen Demokratie sein. Wie kann man sich vor einer totalitären Bedrohung schützen? Wie Wege zur Demokratie suchen? Wie klares Denken und ein empfindsames Gewissen bewahren?“ (Adam Michnik: Polnischer Frieden, Rotbuch Verlag 1985, Seite 13).

Wie schauen unsere, uns so unendlich wichtigen Nachbarn im Osten heute auf uns? Müssen sie nicht denken: Was machen diese Deutschen da schon wieder? Die gemessen am Sozialprodukt immer noch drittgrößte Wirtschaftsmacht auf dem Globus. Ohne nennenswerte Arbeitslosigkeit, als Anlageland begehrt. Hauptfinanzier Europas. Ich hoffe, dass Polen nicht alles für bare Münze nehmen, was während der vergangenen Tage erklärt, behauptet, bestritten und erhofft wurde. Wer das tut, der könnte meinen, dass das 19. Jahrhundert auferstanden sei: Hysterie an allen Ecken und Enden – und dieses Mal litten, so könne man meinen, nicht nur die Frauen des Bürgertums unter der Krankheit des 19. Jahrhunderts, sondern alle möglichen Geschlechter. Glauben Sie nicht?

Am 2. September erschien in der FAZ (Seite neun, halbseitig links) ein Text des Zürcher Philosophieprofessors Michael Hampe mit der Überschrift: „Deutschland steht still.“ (Paywall) Echt: steht still. Auf der Phil. cologne habe er, der Professor Hampe, von jemandem gehört, der den Kanzler berät, dass der sich selten in Konflikten durchsetze. Habe er gehört. Der Zürcher Denker fügte gnädig mit Blick auf Scholz hinzu: „Er soll viel arbeiten“. Muss ich das ernst nehmen? Gott bewahre: Nein.

Abends zuvor waren nach Schließung der Wahllokale in Thüringen und Sachsen AfD und BSW ins geradezu Riesenhafte gewachsen. Nur zur Erinnerung: 2019 erreichte die AfD in Thüringen bereits 23,4 v.H. der gültigen Stimmen in der Landtagswahl. Eine Steigerung um 12,8 Prozent. Und in Sachsen waren es 2019 schon 27,5 v.H. – eine Steigerung um 17,8 Prozent. Die Erfolge der AfD in diesen Ländern haben demnach eine längere Geschichte.

Die für mich an diesem Abend so wichtige Frage der Rückwirkung dieser Entwicklung auf die nach Tausenden zählenden gewaltbereiten Rechtsradikalen wurde kaum aufgeworfen – am ehesten noch in der Lanz-Sendung am 3. September vom Sänger der Prinzen, Sebastian Krumbiegel. Der parlamentarische Rechts-Extremismus und die Gruppen der offen gewaltbereitem Rechts-Extremisten werden sich stärker abstimmen als bisher. Wir alle werden das zu spüren bekommen. Am meisten die Jüdinnen und Juden unter uns. Stattdessen Albernheiten. Ein Paradebeispiel hierzu war, was ARD-Moderatorin Jessy Wellmer am Abend des 2. September in den Tagesthemen bot. Wie eine Halbgöttin aus dem Kosmos des Herrn der Ringe erhob sie sich über den CDU-Politiker Jens Spahn, um von dem zu erfahren, wie es die Christdemokraten mit der Partei die Linke halte. Sie hätte ebenso den Schäferhund fragen können, was er von Nachbars Katze hält.

Ernstzunehmende Antworten auf die Frage, warum weit über zehn Prozent der abgegebenen, gültigen Stimmen in Thüringen und Sachsen auf ein parteiähnliches Bündnis entfielen, von welchem die Wählerinnen und Wähler buchstäblich nichts wissen, gab es nicht. Das ist extrem erstaunlich.

Nun ist´s ja so bei uns: Gewählte Leute, Abgeordnete bis zum Kanzler kann ich beschimpfen, dass es nur so dampft und kracht – bis hin zum „Holz-und-Papier-Galgen“, als Endstation einer politischen Karriere. Aber Kritisches über Wählerinnen und Wähler, also über Zuschauer und Abonnenten, das geht nicht. Gleichwohl wäre es doch aufschlussreich zu erfahren, warum viele Menschen die Amis nicht mögen – „go home“ wurde gegrölt. Und warum haben Russinnen und Russen so gute Kopfnoten. 1990 war das anders. Die frei gewählte DDR-Führung hatte durch Volkskammer-Beschluss in der Nacht vom 22. auf den 23. August 1990 den Beitrittsprozess in den Geltungsbereich des Grundgesetzes eingeleitet. Er sollte schnell vonstattengehen, denn in den Worten mancher Wortführender schwang Furcht mit, die sowjetischen Truppen auf dem Boden der DDR könnten dem Neubeginn ein Ende bereiten. Wahrscheinlich war die Furcht unbegründet; sie dokumentiert aber, dass die Einstellung der Roten Armee gegenüber wenigstens zwiespältig war. Anders als heute – Indiz einer kollektiven Amnesie?

Es wäre aufschlussreich zu erfahren, wie und wo sich die vielen Freunde des Russischen in den beiden Ländern über Putins Politik informieren. Auf Russia Today vielleicht? Diese russische Desinformations- Maschinerie behauptete beispielsweise am 19. Juni, die Schweizer Nationalrätin Priska Seiler-Graf, eine Sozialdemokratin, wolle Bomben auf Russland werfen lassen. Die Nationalrätin wolle die Schweiz in den Krieg führen. Totaler Blödsinn. BSW-Gründerin Sahra Wagenknecht behauptete, in der Ukraine kämpften bereits Soldaten der französischen Fremdenlegion. Blödsinn. Man wird´s ihr dennoch glauben. Der Glaube an Weisheit und Heilkraft der Wagenknecht- Politik ist in manchen Köpfen so felsenfest verankert wie die Überzeugung anderer von der Jungfräulichkeit Mariens. In der Politik versetzt der Glaube zwar keine Berge, aber er kann ganz schön Köpfe vernebeln.

Summe all dessen:

Die Gesellschaft der alten Bundesrepublik war eine durch und durch bürgerliche Gesellschaft: In ökonomischer Hinsicht und strukturell. Sie war gegliedert durch abertausende Vereine, Verbünde, soziale Zusammenschlüsse; es gab ein hohes Maß an Information und grundlegende partizipative Regelungen. Das war kein „Paradies“, gewiss kein Zuckerlecken, teils herrschten rigide Moralvorstellungen, ein autoritäres Staatsverständnis, es gab enorme soziale Gegensätze, allerdings im Zeitablauf zunehmende Zwänge zum Kompromiss sowie Bereitschaft zur Kooperation.

Breite Radikalisierungsschübe innerhalb kurzer Zeit gab es nicht; schon gar nicht auf längere Zeit. Allerdings bot die westdeutsche bürgerliche Gesellschaft Alt-Nazis unbehindert Betätigungsfelder und Rückzugsgebiete. Bürgerliche Gesellschaften sind per se janusköpfig, immer, unaufhebbar. Rollt man dieses Bild aus, wird deutlich, was die alte DDR-Gesellschaft ausmachte, und in welchen Bezügen sie sich heute noch von der der alten BRD unterscheidet.

Die alte DDR-Gesellschaft war keine bürgerliche Gesellschaft, sie ist es in weiten Teilen heute noch nicht. Sie ist immer noch eine Gesellschaft in der gesellschaftlichen Transformation. Der Beitrittsprozess war keineswegs irgendwie „organisch“, konnte er auch nicht sein. Es gab keine „Blaupause“. Er war brutal, er wurde auf der persönlichen Ebene vielfach als willkürlich und gewalttätig begriffen, empfunden. Brechen unersetzbare Warenmärkte von heute auf morgen komplett weg, wie das in der DDR geschah, gibt es keine happy Ends. Jedenfalls nicht kurz- oder mittelfristig. Auch die Ordnung sichernde Struktur, die bestimmende Partei, brach weg; viele der einhegenden sozialen Einrichtungen. All das ist wahr und war beklagenswert. Ist aber nun mal Vergangenheit.

Für den Übergang hatte Eugen Berthold Friedrich Brecht das Motto geliefert: „Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns / Vor uns liegen die Mühen der Ebenen.“ Dieses Mal sind die verschiedenen „Mühen“ freilich keine Etappen auf dem Weg zum vollendeten Staatssozialismus.

Es gibt während der „Mühen der Ebenen“ keinen überzeugenden Grund, sich klein, vernachlässigt oder hintangesetzt zu fühlen. Das begreifen, das müssen Bewohner und Bewohnerinnen in Thüringen und Sachsen schon alleine hinkriegen. Ist ihre Sache. Sonst wird wahr, was Adam Michnik hinzugefügt hatte: „Wenn die Kraft der Moral nicht mehr zählt, beginnt die Moral der Stärke zu herrschen.“

Über Klaus Vater / Gastautor:

Klaus Vater, geboren 1946 in Mechernich, Abitur in Euskirchen, Studium der Politikwissenschaft, arbeitete zunächst als Nachrichtenredakteur und war von 1990 bis 1999 Referent der SPD-Bundestagsfraktion. Später wurde er stellvertretender Sprecher der deutschen Bundesregierung. Vater war zuvor Pressesprecher des Bundesministeriums für Gesundheit unter Ulla Schmidt, Sprecher von Arbeitsminister Walter Riester, Agentur-, Tageszeitungs- und Vorwärts-Redakteur. Mehr über den Autor auf seiner Webseite.

Ein Kommentar

  1. w.nissing

    also wenn ich das lese würde ich den Betrag mit “Selektive Amnesie” aus der Eifel betiteln. Ich verschwende jetzt nicht meine Zeit mit Fakten Links um diesen Blödsinn gerade zu rücken. imho Hoffnungslos.

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