Was könnte nach dem NATO-Beschluss von Den Haag auf dem SPD-Bundesparteitag zum Thema Friedenspolitik noch diskutiert und beschlossen werden?
Im Koalitionsvertrag heißt es: „Die Höhe unserer Verteidigungsausgaben richtet sich nach den in der NATO gemeinsam vereinbarten Fähigkeitszielen.“ (Rz. 4132/3) Auf dem SPD-Bundesparteitag am Wochenende dürften die Verteidiger des 3,5 bzw. 5 Prozentziels am BIP für Verteidigung und Verteidigungsinfrastruktur darauf verweisen, dass bei der Mitgliederbefragung 84,6 Prozent der SPD-Mitglieder diesem Koalitionsvertrag zugestimmt hätten und dass man die schwarz-rote Koalition gefährden und den Parteivorsitzenden Klingbeil und den Verteidigungsminister desavouieren würde, wenn man diesen Vertrag nachträglich in Frage stellte. (Dass sich nur 56 Prozent der Mitglieder an der Abstimmung beteiligt haben, sei an dieser Stelle dahingestellt.)
Die Fähigkeitsziele der NATO lagen schon vor dem Koalitionsvertrag fest
Jochen Luhmann hat im Blog der Republik dargestellt, dass die Fähigkeitsziele schon vor Abschluss des Koalitionsvertrags und vor der Mitgliederbefragung von den NATO-Gremien vereinbart wurden, ohne dass diese Entscheidungen aber einer breiteren Öffentlichkeit bzw. im konkreten Falle den SPD-Mitgliedern bekannt gemacht worden sind, noch allgemein bekannt waren. Die Parteibasis hat der neuen Bundesregierung also lange vor dem NATO-Gipfel in Den Haag (am 24./25. Juni), auf dem das 3,5 Prozent-Ziel vom BIP für Verteidigungsausgaben im engeren Sinne plus 1,5 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt für die Verteidigungsinfrastruktur nur noch formell beschlossen worden ist, somit einen „Blankoscheck“ ausgestellt.
Kurz gesagt: Die neue Bundesregierung hat sich ohne einen Parlamentsbeschluss und ohne eine öffentliche Debatte an den Nato-Beschluss gebunden. Sowohl die Bevölkerung als auch die SPD-Mitglieder bei der Mitgliederbefragung wurden von der Bundesregierung und damit auch vom Koalitionspartner SPD durch die – kaum aussagekräftige, aber symbolträchtige – Formulierung im Koalitionsvertrag „hinters Licht geführt“.
Das schlechte Gewissen über diese Täuschung erklärt vielleicht auch, warum das Manifest der SPD-Friedenskreise und die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner derart aggressiv und mit Angriffen ad personam angegangen wurden. (Hier nur eine kleine Auswahl: „Tagträumer“, „geschichtsvergessen“, „nostalgisch verklärte Altgenossen“, Pistorius: „Realitätsverweigerung“, Kiesewetter: „ungeheuerlich“, Strack-Zimmermann: „Kotau vor einem Kriegsverbrecher“, Felgentreu: „Protagonisten einer gescheiterten Politik“ oder „Moskauer Flügel der SPD“ „mit Putin kann man nicht verhandeln“, „Wunschdenken“, „Appeasement“, „verantwortungslos“, „Signal der Schwäche an Putin“ usw. usf.)
Bundeskanzler Friedrich Merz behauptet zwar, dass die Bundesregierung dem Beschluss der NATO nicht zustimme, um Donald Trump einen Gefallen zu tun, sondern „aus eigener Anschauung und Überzeugung“.
Man fragt sich aber, warum ausgerechnet die USA im NATO-Beschluss nicht auf das 5 Prozentziel verpflichtet werden. Könnte es sein, dass die Europäer der Trump-Regierung nur geholfen haben, den Rückzug der US-Streitkräfte aus Europa zu rechtfertigen?
Warum fand eigentlich auf dem gestrigen EU-Gipfel keine Debatte über einen strategischen Wandel in Europa statt, nämlich dass die europäischen Länder sich ohne die USA verteidigen können müssen?
Ein Initiativantrag im Sinne des Manifests der SPD-Friedenskreise dürfte auf dem Parteitag keine Abstimmungsmehrheit erhalten.
Könnte ein solcher Initiativantrag doch als Aufstand sowohl gegen die schwarz-rote Koalition, als auch gegen den SPD-Vorsitzenden und Finanzminister und den SPD-Verteidigungsminister ausgelegt werden.
Dennoch könnten Delegierte nach einer Analyse der Bedrohungslage hinter dem „Preisschild“ von 3,5 bzw. 5 Prozent vom BIP für Verteidigung fragen und weiter könnten sie Auskunft verlangen, welche einer solchen Lage abhelfenden Verteidigungsmittel zur Herstellung der Verteidigungsfähigkeit notwendig sind. Die Verteidiger der Prozentzahlen vom BIP verweigern darauf Antworten. Sollen denn diese Kernfragen von den Oppositionsparteien oder gar von der AfD aufgeworfen werden.
Es ist jedoch unklug, eine Kampfabstimmung herbeizuführen, bei der das Risiko hoch ist, dass man keine Mehrheit erringt. Eine Mehrheit für den Kurs der Bundesregierung, wäre über Jahre hinaus, für die friedenspolitische Kompetenz der SPD ein Niederschlag.
Geld der Steuerzahler gemessen an Prozentzahlen des BIP?
Kein Finanzminister der Welt wäre davon zu überzeugen, das Geld der Steuerzahler zu bewilligen, wenn ausschließlich Ausgaben nach Prozenten gemessen am BIP verlangt würden. Die Einschätzungen von Geheimdiensten oder von Experten (Masala, General Breuer , „russischer Großangriff 2029“ ; Neitzel, der „letzte Friedenssommer“) wonach Russland zwischen Herbst 2025 und den Jahren 2029/30 ein NATO-Land angreifen könnte, sind bisher nur allgemeine Behauptungen und nicht durch Fakten unterlegt. Die doch so oft herausgehobenen amerikanischen Geheimdienste sehen hingegen keine Bedrohung.
Verteidigungsausgaben dürfen nicht zu Lasten der politischen und sozialen Stabilität gehen
Auf dem Bundesparteitag der SPD könnte ferner ein Beschluss herbeigeführt werden, dass die immensen Summen für Verteidigungsausgaben und Verteidigungsinfrastruktur auf Dauer nicht zu Lasten des Sozialstaates, der Ausgaben für Bildung und Forschung und auf Kosten von Infrastrukturinvestitionen und der Transformation der Gesellschaft in Richtung Klimaneutralität gehen dürfen. Kurz ein Antrag mit der Zielrichtung: Dass die politische und soziale Stabilität durch die Verteidigungslasten in Zukunft nicht gefährdet werden darf.
Was nämlich hinter den „Preisschildern“ der Prozentzahlen (von Militärs und Politik wohl bewusst) verborgen bleiben soll, sind die absoluten Summen, die sich hinter den relativ klein erscheinenden Ziffern verbergen. Bezieht man z.B. die 3,5% bzw. 1,5% auf den zurückliegenden Haushalt von 2024 in Höhe von rd. 477 Milliarden, sind 3,5% vom BIP in Höhe von 4.305,3 Milliarden Euro stolze 151 Milliarden Euro und 5% vom BIP wären 215 Milliarden Euro. Das wären rd. 45% des normalen zurückliegenden Bundeshaushalts.
Mit Schulden finanziert
Zwar würden in Zukunft solche Summen wohl Großteils aus dem noch mit der Mehrheit von CDU/CSU, Afd, SPD, in der letzten Legislatur beschlossenen Sondervermögen für Verteidigung finanziert, aber die Zinsen fielen im Kernhaushalt an. Schon für dieses laufende Jahr liegt die Zinsbelastung bei rund 30 Milliarden Euro und würden die Schulden wie vom Finanzminister geplant bei über 840 Milliarden Euro, so würden die von Haushaltsstaatssekretär Steffen Meyer genannten 60 Milliarden kaum ausreichen.
Der Haushalt für das laufende Jahr soll bei 503 Milliarden Euro liegen und die aufgenommenen Schulden bei 81,8 Milliarden Euro. Rechnet man die Mittel aus dem Sondervermögen für die Bundeswehr und für die Ukraine-Hilfen zusammen, so sind 2025 etwa 100 Milliarden für Verteidigung und Sicherheit veranschlagt. (Zeit Online v. 24. Juni 2025) Für 2026 sind es schon 118 Milliarden Euro, für 2027 sollen es 129 Milliarden Euro sein, 2028 schon 145 Milliarden Euro und 2029 sollen dann die 3,5 Prozent des BIP (im Volumen von geschätzten 4.629 Milliarden Euro) mit einer Summe von 162 Milliarden Euro für Verteidigung erreicht werden. Geht man von insgesamt 5 Prozent vom BIP aus, dann wären es sogar 231 Milliarden Euro.
Die Frage ist, warum in Deutschland die 3,5 Prozent schon 2029 erreicht werden sollen und nicht erst, wie der Beschluss von Den Haag besagt, erst 2035.
Die Lasten betreffen nicht nur Deutschland, sondern auch die EU
Die Ausgaben für Verteidigung betreffen aber nicht nur Deutschland, sondern auch die EU. Nimmt man die europäischen NATO-Länder (ohne die Türkei und Großbritannien), dann addiert sich das BIP 2025 auf 16 Billionen Euro, 5 Prozent davon wären 800 Milliarden Euro. Nimmt man die Türkei und das Vereinigte Königreich noch dazu, so käme die stolze Summe von über eine Billion Euro an Militärausgaben zusammen, also mehr als die USA derzeit im Jahr ausgeben, nämlich 997 Milliarden US-Dollar.
Wie sollte etwa Frankreich oder Italien mit ihrer extrem hohen Verschuldung die 5 Prozent vom BIP für Verteidigung schultern können?
Damit versäumten es Deutschland und Europa nicht nur, die Zukunft aktiv zu gestalten, sondern sie würden diese Zukunft „militarisieren und destabilisieren“. (So etwa August Pradetto, emeritierter Professor an der Helmut-Schmidt-Universität)
Militärische Verteidigungsfähigkeit und Diplomatie müssen erst wieder zu zwei Seiten einer Medaille werden
Lars Klingbeil sagt: „Militärische Stärke auf der einen Seite und diplomatische Bemühungen auf der anderen Seite, sind keine Gegensätze, sondern das sind zwei Seiten einer Medaille.“ Doch wo sind neben den immensen Anstrengungen auf Seiten der militärischen Stärke die Bemühungen auf der anderen Seite der Medaille, also bei den diplomatischen Bemühungen. Man müsste doch über den gegenwärtigen Krieg in der Ukraine hinausdenken und eine längerfristige friedenspolitische Doppelstrategie verfolgen: Verteidigungsfähigkeit muss mit unermüdlichen diplomatischen Bemühungen verknüpft werden, um nach und nach ein neues System gemeinsamer Sicherheit in Europa zu schaffen. Militärische Verteidigungsfähigkeit und Diplomatie müssen erst wieder zu zwei Seiten einer Medaille zusammen geführt werden.
Deutschland und die NATO-Staaten lassen sich durch Putin in eine Aufrüstungsspirale treiben
Gegenwärtig geschieht das Gegenteil, Deutschland und die NATO-Staaten lassen sich durch Putin in eine Aufrüstungsspirale treiben.
„In den letzten zehn Jahren hat Russland jährlich rund vier Prozent seines BIP für das Militär ausgegeben (mehr als doppelt so viel, wie die NATO jetzt dafür einsetzt). 2022 belief sich das russische Budget für die Streitkräfte auf 86,4 Milliarden US-Dollar. Der russische Verteidigungshaushalt ist drastisch gestiegen und wird im Jahr 2024 auf etwa 109 Milliarden US-Dollar geschätzt, knapp ein Drittel des gesamten Staatshaushalts. Aber allein der Verteidigungsetat der europäischen NATO-Länder ist größer als der gesamte russische Staatshaushalt. Obwohl die Militärausgaben eine schwere Belastung für die russische Wirtschaft darstellen, die inzwischen weitgehend auf Kriegswirtschaft umgestellt ist, sind die Ausgaben der NATO in Europa und Kanada dreieinhalb Mal höher. Mit den neuen NATO-Mitgliedern Finnland und Schweden ist die negative militärische Bilanz Russlands noch ausgeprägter. Russlands Militärausgaben belaufen sich auf lediglich zehn Prozent der Ausgaben der NATO, wenn man die US-Ausgaben mit einbezieht. Allein Frankreich (53,6 Milliarden US-Dollar) und Deutschland (55,8 Milliarden US-Dollar) haben 2022 insgesamt so viel ausgegeben, wie Russland jetzt plant…
Gemessen an diesen Zahlen hat es nie ein (finanzielles) Defizit gegenüber Russland gegeben und gibt es, trotz aller Anstrengungen Moskaus, auch heute nicht. Selbst wenn die unterschiedliche Kaufkraft in Russland und in der NATO berücksichtigt wird, zeigt sich ein deutliches Übergewicht der NATO. Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn man die Zahl der Soldaten oder die Ausrüstung mit Kampfflugzeugen, Kampfpanzern, Raketen, Kriegsschiffen und U-Booten vergleicht. Schließlich waren Russlands Streitkräfte nicht in der Lage, die als schwach eingestufte Ukraine sofort erfolgreich zu besetzen. Dass die NATO rein quantitativ betrachtet hoch überlegen ist, wird aber kaum thematisiert…
So liegt Deutschland auf Platz 6 der Weltrangliste bei den Militärausgaben.“
(So Herbert Wulf, Leiter des Bonn International Center for Conflict Studies (BICC))
Egon Bahr: „Russland ist unverrückbar“
Die aktuelle massive Unterstützung des militärischen Abwehrkampfs der Ukraine darf nicht zu dem Trugschluss führen, dass auch nach einer Beendigung dieses Krieges Frieden und Sicherheit nicht auf der Basis von Vereinbarungen mit, sondern nur in permanenter Frontstellung gegen Russland erreichbar seien. Denn es gilt, was Egon Bahr schon vor über zehn Jahren gesagt hat: „Russland ist unverrückbar“.
Friedenspolitik ein Grundanliegen sozialdemokratischer Politik
Warum denkt man nicht an eine Art „Doppelbeschluss“, wie ihn Helmut Schmidt 1979 durchgesetzt hat?
Breschnew war nicht weniger großmachtsüchtig als Putin. Friedenspolitik sollte doch ein Grundanliegen sozialdemokratischer Politik sein. Ohne eine Verständigung über Rüstungskontrolle und Rüstungsbegrenzung gibt es Sicherheit für niemanden. (So Christoph Habermann) Es darf nicht so kommen, wie Klaus von Dohnanyi befürchtet, dass die SPD „die Wurzel der Friedenspolitik einfach abhackt.“
Wer verweigert eigentlich die Realität?
„Wer die Fortsetzung des „Abnutzungskrieges“ für unverantwortlich hält und das Einfrieren für unzumutbar, der muss sagen, was ansonsten die Konsequenz ist. Die Fokussierung auf eine weitere Aufrüstung einer schon hoch gerüsteten NATO allein ist es nicht. Das bestehende Drohpotenzial der NATO hat Putin bisher von keiner Attacke abgehalten. Auch die weitere Aufrüstung wird Putin nicht zu der Einsicht bewegen, sich vergaloppiert zu haben und die Besatzung der Ostukraine aufzugeben. Konsequenterweise müsste dann ein Teil der Rüstungsmehrausgaben durch die Ausweitung des Krieges auf Russland zur Anwendung kommen, und das würde die Kriegsgefahr über die beiden Staaten hinaus extrem erhöhen.“ (Schreibt Norbert Walter-Borjans zurecht) Wer verweigert eigentlich die Realität?
Dieser Beitrag ist zuerst im “Blog der Republik” erschienen. Mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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