Von Günter Bannas
Gestern vor 50 Jahren kam es zu einem Einschnitt in der deutschen Politik. Noch am Abend der Bundestagswahl am 28. September 1969 verabredeten Willy Brandt, SPD-Vorsitzender, Außenminister und „Vizekanzler“ der großen Koalition, und der FDP-Vorsitzende Walter Scheel ein Bündnis, das es auf Bundesebene noch nie gegeben hatte: die sozialliberale Koalition. Die Unionsparteien unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger waren zwar stärkste Kraft im Bundestag geblieben, wurden aber ausmanövriert. Schnell wie nie wurden die Koalitionsverhandlungen geführt. Brandt wurde der erste sozialdemokratische Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Scheel wurde Außenminister. „Mehr Demokratie wagen“, kündigte Brandt in seiner Regierungserklärung an. Das Vorhaben einer neuen Ostpolitik führte die beiden Parteien und ihre Vorsitzenden zusammen. Die sozialliberale Ära begann, die bis zum Herbst 1982 hielt. Der Wechsel war vorbereitet. In Nordrhein-Westfalen gab es eine SPD/FDP-Koalition. Wenige Monate vor der Bundestagswahl setzten SPD und FDP in der Bundesversammlung den Sozialdemokraten Gustav Heinemann als Bundespräsidenten durch. „Machtwechsel“ betitelte der Zeithistoriker Arnulf Baring sein Buch, das sich mit den Vorgängen befasste. Es wurde ein Bestseller.
Das Ende der Ära Adenauer hatte sich angekündigt. Die Koalition aus Union und FDP, die die Gründungsphase der Bundesrepublik geprägt hatte, war 1966 zerbrochen. Kanzler Ludwig Erhard, Adenauers Nachfolger, hatte das Bündnis nicht zementieren können. Kiesinger wurde Bundeskanzler der großen Koalition – für knappe drei Jahre. Die SPD führte den Wahlkampf unter „Wir schaffen das moderne Deutschland“. Die CDU versuchte es wieder einmal mit „Auf den Kanzler kommt es an“. Es waren noch die Zeiten des Drei-Parteien-Systems. 46,1 Prozent erhielten die Unionsparteien, 42,7 Prozent die SPD, die FDP überwand knapp die Fünf-Prozent-Hürde: 5,8 Prozent. Es waren unruhige und politisch polarisierte Jahre. FDP-Abgeordnete wechselten zur Union, SPD-Minister traten zurück. Ein Misstrauensvotum gegen Brandt scheiterte. 1972 wurde die Bundestagswahl vorgezogen. Mit „Willy wählen“ wurde die SPD erstmals stärkste Kraft. 1974 trat er zurück. Helmut Schmidt wurde Kanzler. Als er 1982 von Helmut Kohl (mit Hilfe der FDP) gestürzt wurde, war auch die Zeit des Drei-Parteien-Systems vorbei. Die Grünen kamen in den Bundestag.
Günter Bannas ist Kolumnist des HAUPTSTADTBRIEFS. Bis März 2018 war er Leiter der Berliner Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus “DER HAUPTSTADTBRIEF AM SONNTAG in der Berliner Morgenpost”, mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion.
Zum Weiterlesen: Albrecht Müller/nachdenkseiten war am fraglichen Tag im Krankenhaus. Seine – absehbar bitteren – Erinnerungen hier.
Diese tiefgreifende Veränderung der Politik wäre undenkbar gewesen ohne die ganz entscheidende Rolle der Jungdemokraten. Sie hatten seit 1965 die entscheidenden Mehrheiten zur Veränderung einer in natiolnalistisch-konservativer Erstarrung an die CDU gefesselten FDP herbeigeführt. Sie waren es, die die Mehrheiten bildeten, die es ermöglichten, dass die FDP 1968 zur “Anerkennungspartei” der DDR wurde und den entscheidenden Anstoß zur neuen Ostpolitik der Sozialliberalen Koalition gaben. Ihre Rolle wird auch von Baring völlig verschwiegen, dabei wäre Willy Brandt ohne die Vorarbeit der Jungdemokraten niemals Bundeskanzler geworden. Lucide Beiträge hierzu schreiben Günter Verheugen “Vom Herrmansdenkmal zu siozialliberaler Reformpolitik” und Jürgen Kunze “Jungdemokraten Plusminus 68” in: Grundrechte verwirklichen – Freiheit erkämpfen – 100 Jahre Jungdemokrat*innen, Appel/Kleff, Academia-Verlag Baden-Baden, 2019