In China findet gerade ein radikales Umdenken und Umlenken in der Wirtschaftspolitik statt. Lange Zeit galt dort das Motto „Zunächst sollen einige reich und sehr reich werden, sodann sickert deren Reichtum in die Mittelschicht und die ärmere Bevölkerung.“ Dieses neoliberale Dogma ist als trickle-down-Theorie bekannt. Offenbar hat dieses Prinzip zumindest in einer Richtung gewirkt, denn von den derzeit weltweit 2755 Dollar-Milliardären stammen 700 aus China. Das reichste Prozent der Chinesen besitzt mehr als die gesamte ärmere Hälfte. Nunmehr hat Staatschef Xi Jinping gefordert (Blendle-Link), „alle am Wohlstand teilhaben zu lassen, die Größe der Mittelschicht auszuweiten, die Einkommen von Niedrigverdienern zu erhöhen und exzessive Einkommen zu korrigieren.“
Auch in den USA hat ein Umdenken stattgefunden. Zwar hat sich Donald Trump nicht konkret auf den trickle-down-Effekt berufen (solche theoretischen Überlegungen lagen ihm wohl fern), doch entsprach seine Politik weitgehend diesem Ziel. Joe Biden hat einen radikalen Kurswechsel vollzogen. Er hat erklärt, dass „trickle down noch nie funktioniert hat“ und „es an der Zeit ist, die Wirtschaft von unten und von der Mitte her wachsen zu lassen.“ Steuererleichterungen für Unternehmen und Reiche wie unter Trump würde es bei ihm nicht mehr geben. Statt dessen will er Steuerschlupflöcher schließen und das oberste Prozent der Einkommensbezieher steuerlich stärker besteuern.
Förderung der Reichen soll allen dienen
Die Trickle-Down-Theorie ist eine schon im 18. Jahrhundert entwickelte Überlegung, dass der Einkommenszuwachs, den die Reichen in einer Gesellschaft erfahren, durch deren Konsum und Investitionen sukzessive auch zu den Mittelschichten und den Ärmeren in der Gesellschaft durchsickert. Manche Autoren sehen sogar die Einkommenszuwächse der Reichen als notwendige Voraussetzung für die Einkommenszuwächse beim Rest der Bevölkerung an.
Die moderne Fassung lautet wie folgt: Wer Konzernen und Reichen Steuervorteile gewährt und Managern finanzielle Vorteile einräumt, der setzt eine Welle von Investitionen und Wirtschaftswachstum in Gang. Arbeitsplätze werden geschaffen, Einkommen steigen, und die Gesellschaft profitiert flächendeckend. Neuere Forschungen bestreiten die Existenz des Trickle-down-Effekts aufgrund von empirischen Untersuchungen und theoretischen Überlegungen. Das zeigt schon ein Blick in Erhebungen über Investitionsmotive: Auch Reiche investieren nur, wenn sie rentable Anlagen sehen, und nicht, weil sie viel Geld haben. Andererseits finden lohnende Investitionen immer ihre Finanziers.
In Deutschland hat wohl keine Partei die Trickle-Down-Methode offensiv vertreten. Das wäre bei Wahlen nicht gut angekommen. In Erinnerung geblieben ist ein Zitat von Kanzler Helmut Schmidt: „die Gewinne von heute sind die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen“. Wissenschaftliche und statistische Analysen haben jedoch die Unhaltbarkeit dieser ebenso simplen wie komplexen Gleichsetzung ergeben.
In der praktizierten Politik waren die Ansätze jedoch nicht zu übersehen, vor allem die Steueränderungen fielen stets zugunsten der Vermögenden und Gutverdienenden aus: Der Einkommensteuerspitzensatz betrug bis 1970 56%, heute liegt er bei 42%. – Die Körperschaftsteuer betrug 1946 65%. 1953 erfolgte eine Differenzierung: ausgeschüttete Gewinne wurden mit 30% besteuert, nicht-ausgeschüttete mit 60%. 1958 wurden die Sätze auf 15% bzw. 58% gesenkt. Seit 1977 ist die Anrechnung der gezahlten Körperschaftsteuer auf die Einkommensteuer gestattet, der einheitliche Steuersatz beträgt 25%. – Die Erbschaftsteuer betrug 1955 15% für Ehegatten und Kinder und 60% für andere Erben. Heute ist sie nach Verwandtschaftsgrad und Höhe der Erbschaft gestaffelt und liegt zwischen 7% und 50%. Die Steuerfreibeträge wurden mehrfach angehoben. – Bis 1996 wurde eine Vermögenssteuer 1% bei Personen und 0,6% bei Körperschaften erhoben. Seitdem ruht die Vermögenssteuer, weil das Bundesverfassungsgericht die Wertberechnung der Immobilen beanstandete und die Politik sich einer Reform verweigerte.
Offenbar glaubt nur einige in der FDP irgendwie an die Wirkung des Trickle-Down-Effekts. Ihrem Bundestagswahlprogramm zufolge will sie die Steuerzahlenden pro Jahr um 60 Mrd. € entlasten, wobei die Spitzenverdiener jährlich 5.200 € und Geringverdiener nur 600 € erhalten sollen. Mit den Steuersätzen allein ist die Bevorzugung einkommensstarker Schichten jedoch nicht erschöpft. Es gibt eine Vielzahl von Vergünstigungen, Privilegien und Abschreibungsmöglichkeiten, die Normalverdienende mangels Masse gar nicht in Anspruch nehmen können (Immobilienspekulation, Sonderabschreibungen auf Investitionen, z.B. in erneuerbare Energien, Stiftungen, Kapitalanlagen im Ausland).
Vermögens- und Einkommensverteilung
Die Wirkung dieser Politik auf die Vermögens- und Einkommensverhältnisse in Deutschland ist unübersehbar. Im Jahr 2017 lag das gesamte Nettovermögen in Deutschland bei 7,8 Billionen Euro. Es ist allerdings sehr ungleich verteilt: Die wohlhabensten 10% der Haushalte besitzen zusammen rund 60% des Gesamtvermögens. Das oberste Prozent hielt rund 18% des gesamten Vermögens – so viel wie die Ärmsten 75 Prozent. Die Zahl der Millionäre hat sich seit 2005 auf 1,535 Mio. verdoppelt. Nach Angaben des DIW gehört Deutschland innerhalb des Euroraums zu den Staaten mit der höchsten Vermögensungleichheit.
Auch die Einkommen sind ungleich verteilt. Die einkommensstärksten 10 Prozent der Bevölkerung hatten 2016 einen Anteil von 23,3 Prozent am Gesamteinkommen, demgegenüber lag der Anteil der unteren vier Zehntel zusammen bei 21,7 Prozent. Die einkommensschwächsten 10 Prozent der Bevölkerung verfügten lediglich über 3,2 Prozent des Gesamteinkommens. Insgesamt haben sich zwischen 1991 und 2016 die Realeinkommen der einkommensstarken Gruppen stärker erhöht als die Einkommen der einkommensschwachen. Das verfügbare Durchschnittseinkommen des obersten Zehntels ist dabei mit Abstand am stärksten gestiegen.
Die sich verfestigende oder gar wachsende Ungleichheit zeigt sich also sowohl beim Einkommen wie beim Vermögen. Bemerkenswert ist gewiss auch, dass die Einkommensmitte ausgedünnt wird. So ist der Anteil der beiden „Randgruppen“, der Armen und der Wohlhabenden, seit den 80er Jahren von damals zusammen 8 % auf heute 20 % der Gesellschaft gestiegen. Ein Jahrzehnt Wirtschaftswachstum und Rekordbeschäftigung hat also nicht zu einer Minderung der Armut und zu mehr Einkommensgleichheit geführt, sondern die Lage noch verschärft.
Statt von einem durchsickernden Reichtum muss man in Deutschland also von einem sich verstetigenden bzw. verstärkenden Reichtum sprechen. Eine Änderung durch die neue Bundesregierung ist nicht zu erwarten: Die Körperschaftssteuer, die Erbschaftssteuer und der Einkommensteuerspitzensatz sollen unverändert bleiben, die Vermögensteuer wird nicht wieder aktiviert.
Trickle-Down im Wohnungswesen?
Eine spezielle Interpretation des Trickle-Down-Effekts wird gern von Interessenvertreter/innen im Wohnungswesen genutzt: Egal wie teuer die Neubauwohnungen sind, so heißt es, durch die mit dem Einzug ausgelösten Umzugsketten würden sie nach und nach preiswerte Wohnungen freimachen, so dass selbst Luxusneubauten einen zumindest indirekten Beitrag zur sozialen Wohnungsversorgung leisten. Wer dort einziehe, mache eine günstigere Wohnung frei. Und so weiter bis herunter auf das Niveau des preiswerten Wohnungsraums. Ein der Wohnungswirtschaft nahestehendes Institut schrieb sogar, „Bezahlbare Wohnungen für breite Schichten entstehen durch Alterung hochwertiger Neubauwohnungen.“
Möglicherweise lässt sich der Sickereffekt beim Wohnungswesen leichter verfolgen und prüfen als bei der Einkommens- und Vermögensentwicklung. Daher hat das (marktliberale) Institut Empirica eine Studie mit dem Titel „Beitrag des Eigenheimbaus für die Wohnungsversorgung“ vorgelegt und als Ergebnis verkündet, der Sickereffekt sei nun nachgewiesen. Empirica untersuchte fünf sogenannte Umzugsketten, die durch den Erwerb von Eigenheimen ausgelöst wurden. Die Forscher/innen stellten dabei tatsächlich fest, dass auch Mietwohnungen aus dem einfachen Marktsegment durch den Umzug ins Eigenheim neu vermietet werden konnten.
Ein solcher Trickle Down wäre eine schöne Wirkungskette. Doch hat diese Argumentation ihre Mängel: Erstens werden gar nicht so viele hochwertige Wohnungen gebaut, dass ein spürbarer Effekt bei den Wohnungen zu angemessenem Mietzins entsteht. Zweitens werden Mieterwechsel in der Regel dazu benutzt, die Miete zu erhöhen (Neuvermietungsrendite). Drittens hat die Empirica-Studie gezeigt, dass nur 30 Prozent der frei werdenden Wohnungen von Haushalten mit unterdurchschnittlichen Einkommen bezogen wurden. Viertens fließen bekanntlich die meisten Investitionsmittel in den Kauf von Wohnungsbeständen statt in Neubauten, weil dort höhere Renditen und Chancen für Mietsteigerungen winken (z.B. durch Modernisierungen).
Die Trickle-Down-Theorie ist also keine Lösung gegen fehlende Wohnungen und steigende Mieten. Wohnen ist und bleibt ein Grundrecht. Deshalb darf man dieses Feld nicht dem „freien Markt“ überlassen. Der Staat muss eingreifen. Dazu steht ihm ein vielfältiges Instrumentarium zur Verfügung, nicht nur Mietpreisbremse und kommunaler Wohnungsbau.
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