„Um die Integrität des Öffentlichen Dienstes sicherzustellen, werden wir dafür sorgen, dass Verfassungsfeinde schneller als bisher aus dem Dienst entfernt werden können.“ So steht es im Koalitionsvertrag. Zunächst habe ich gedacht, das ist ein Rückblick in die Vergangenheit, und gleich folgt die Distanzierung. Doch so ist es nicht. Die Aussage ist ernst gemeint. Sogar eine Verschärfung ist vorgesehen: es soll „schneller“ gehen als bisher.
Genau 50 Jahre, nachdem der Radikalenerlass beschlossen wurde, wird er wiederbelebt. Der Koalitionsvertrag fordert eine Rückkehr zu den Siebziger Jahren, als junge Leute, denen der Verfassungsschutz unterstellte, nicht auf dem Boden der Verfassung zu stehen, nicht in den Öffentlichen Dienst aufgenommen oder daraus entfernt wurden (sofern nicht ein Gericht dem Einhalt gebot).
Am 28. Januar 1972 beschlossen Bundeskanzler Willy Brandt und die Ministerpräsidenten der Länder eine Vereinbarung über “Grundsätze zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst“. Ziel dieses “Ministerpräsidentenbeschlusses” war ein einheitliches Vorgehen gegenüber sogenannten Verfassungsfeinden im öffentlichen Dienst. Insbesondere konservative Kreise befürchteten damals eine Bedrohung des demokratischen Systems durch die sogenannte Außerparlamentarische Opposition.
Der Erlass sah vor, dass Bewerber für den Staatsdienst auf ihre Verfassungskonformität hin überprüft werden sollten. Grundlage waren in der Regel Berichte des Verfassungsschutzes zu der Frage, ob die/der Bewerber/in “auf dem Boden der Verfassung stehe“, also „aktiv innerhalb und außerhalb des Dienstes für die “freiheitlich-demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes” eintrete. Bei Zweifeln wurde der Eintritt in den Staatsdienst verwehrt. Anlass waren zum Beispiel das Engagement gegen die Notstandsgesetze, gegen den Krieg in Vietnam oder gegen das Wiedererstarken alter Nazis. Wobei mutmaßlich in den Prüfgremien Personen tätig waren, die schon im Nationalsozialismus Linke verfolgt hatten.
Das Verfahren wurde zunächst überwiegend “Radikalenerlass” genannt, während Kritiker/innen den Begriff “Berufsverbot” verwendeten, der sich auch im Ausland durchsetzte. Befürworter sprachen später zunehmend vom “Extremistenbeschluss”. Von 1972 bis zur Abschaffung, die 1985 begann und 1991 in Bayern endete, wurden bundesweit insgesamt 3,5 Millionen Personen überprüft. Dies führte zu 11.000 Berufsverbotsverfahren, 1256 Bewerbungen wurden abgelehnt (überwiegend als linksextrem eingestuft, vor allem Lehrer und Hochschullehrer) und 265 Personen entlassen. Der Erlass führte zu langjährigen heftigen Auseinandersetzungen. 1979 wurde er von der sozialliberalen Bundesregierung aufgekündigt, da kein politisches Einvernehmen mehr zu erzielen war. Die Bundesländer folgten zu unterschiedlichen Zeitpunkten, zuletzt 1991 Bayern, das ebenso wie NRW jedoch eine Ersatzlösung einführte.
1995 stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Fall einer wegen Mitgliedschaft in der DKP entlassenen Lehrerin einen Verstoß gegen Art. 10 und 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit) fest und verurteilte die Bundesrepublik zur Zahlung von Schadensersatz. Das Urteil bezog sich jedoch nur auf bereits eingestellte Beamte und nicht auf Bewerber/innen.
In seinem NPD-Urteil vom Januar 2017 stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass „nur jene zentralen Grundprinzipien, die für den freiheitlichen Verfassungsstaat unentbehrlich sind,“ eingefordert werden können. Dazu zählt es die Garantie der Menschenwürde sowie das Demokratie- und das Rechtsstaatsprinzip. „Unverzichtbar für ein demokratisches System“, so heißt weiter, ist „die Möglichkeit gleichberechtigter Teilnahme aller Bürgerinnen und Bürger am Prozess der politischen Willensbildung.“ – Genau diese Mitwirkung aller – also auch der Oppositionellen – wurde durch die Berufsverbotspraxis unmöglich gemacht, indem Andersdenkende bespitzelt und mit beruflicher Existenzvernichtung bedroht wurden. Besonders bedenklich war, dass den Betroffenen die Mitgliedschaft in einer politischen Partei vorgeworfen wurde, weil die Exekutive sie als „extremistisch“ einstufte. Bekanntlich ist das Engagement in allen Parteien durch das Grundgesetz geschützt, sofern bzw. solange nicht das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit der betreffenden Partei festgestellt hat.
Eine gewandelte Haltung zum Radikalenerlass, nicht zuletzt seine 50. Wiederkehr, haben zu verschiedenen Initiativen auf Länderebene und im zivilrechtlichen Raum geführt. Niedersachsen berief bereits Anfang 2017 eine Niedersächsische „Landesbeauftragte für die Aufarbeitung der Schicksale im Zusammenhang mit dem sogenannten Radikalenerlass“. 1990 legte diese ihre kritische Dokumentation „Berufsverbote in Niedersachsen 1972-1990“ vor. So waren vom Berufsverbot vor allem Aktive legaler linker Gruppen betroffen, obwohl sich der Erlass gegen „Links- und Rechtsextremisten“ gerichtet hatte. Darunter waren Mitglieder kommunistischer, sozialistischer und anderer Organisationen bis hin zu Friedensinitiativen. Den Betroffenen wurden fast ausnahmslos legale politische Aktivitäten wie die Kandidatur bei Wahlen, die Teilnahme an Demonstrationen oder das Mitunterzeichnen politischer Erklärungen vorgeworfen. Die Berufsverbotspraxis hatte teilweise schwerwiegende berufliche und persönliche Folgen für die Betroffenen. 1990 beschloss die Niedersächsische Landesregierung, den Radikalenerlass und alle damit verbundenen Beschlüsse aufzuheben.
In Nordrhein-Westfalen brachten SPD und Grüne im November 2021 einen Antrag auf Aufarbeitung der Berufsverbote in NRW ein, der jedoch bislang nicht behandelt wurde. In Baden-Württemberg erklärte Ministerpräsident Kretschmann, der selbst unter dem Radikalenerlass zu leiden hatte, dass den Betroffenen Unrecht geschehen sei. Und eine Entschuldigung ausstünde. Er verwies auf eine laufende Untersuchung der Universität Heidelberg. Hamburg beschloss schon 2018, die Thematik aufzuarbeiten. Gleiches gilt für Berlin, wo dies 2021 unter dem Titel „Folgen des Radikalenerlasses in Westberlin anerkennen“ beauftragt wurde. Aus Bayern, Bremen, Hessen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und dem Saarland sind vergleichbare Initiativen nicht dokumentiert.
Nun aber ist er wieder da, der Radikalenerlass, und damit das Ziel der Entfernung sogenannter Verfassungsfeinde aus dem öffentlichen Dienst. Ausgerechnet vereinbart von jenen Parteien, deren Jugendorganisationen selbst unter dem Radikalenerlass zu leiden hatten und die damals zu den vehementesten Kämpfern dagegen zählten.
Wer ist überhaupt ein Verfassungsfeind? Sind es diejenigen, die bestimmte Artikel unseres Grundgesetzes für falsch halten und deren Änderung fordern? Oder diejenigen, denen die ganze Verfassung nicht passt und die eine antikapitalistische und antimilitaristische Grundordnung fordern? Oder sind es diejenigen, die immer wieder unser Grundgesetz ändern? Bis heute hat der Bundestag das Grundgesetz 60 mal „angepasst“. Oder diejenigen, die immer wieder verfassungswidrige Gesetze beschließen? Seit Inkrafttreten des Grundgesetzes hat das Bundesverfassungsgericht 660 Gesetze ganz oder teilweise als verfassungswidrig erklärt und aufgehoben.
Sehr geehrter Herr Jüttner,
danke, dass Sie zum Jahrestag der Verabschiedung des „Radikalenerlasses“ vor fünfzig Jahren – am 28. Januar 1972 – an dieses unselige Kapitel der westdeutschen Nachkriegsgeschichte erinnern. Und dieses Kapitel soll nun keineswegs abgeschlossen sein? Vielmehr streben die Parteien der Ampelkoalition laut Koalitionsvertrag eine Neuauflage dieses Verfolgungsinstruments an: „Um die Integrität des Öffentlichen Dienstes sicherzustellen, werden wir dafür sorgen, dass Verfassungsfeinde schneller als bisher aus dem Dienst entfernt werden können.“
Welche der drei Koalitionsparteien war es, auf deren Betreiben dieses Ziel in den Koalitionsvertrag gelangt ist? Die Freiheit, die die FDP in ihrem Namen trägt, diente vorrangig noch nie dem Ziel, Lokführern und Briefträgern den Weg ins Berufsbeamtentum zu ebnen. Willy Brandt, Kanzler der damaligen SPD/FDP-Koalition, war nicht unmaßgeblich am Zustandekommen des Radikalenerlasses beteiligt. Doch schon einige Jahre später schien er das zu bereuen: „Ich habe natürlich nicht geahnt, welcher Unfug damit betrieben würde.“
Die Grünen traten als Partei erst 1980 in Erscheinung. Das Schicksal, als Berufsverbotsopfer auf der Strecke zu bleiben, blieb ihren Mitgliedern daher weitgehend erspart. Lediglich eines ihrer Gründungsmitglieder in Baden-Württemberg machte eine Zeitlang Bekanntschaft mit den Nachstellungen des Verfassungsschutzes. Doch der Karriere von Winfried Kretschmann, seit 2011 amtierender Ministerpräsident in Baden-Württemberg, tat dies langfristig keinen Abbruch. Er kommt daher wohl kaum als Befürworter einer Neuauflage des Radikalenerlasses infrage. Aber wer war es dann?
Der Saarländische Rundfunk hat in einer Dokumentation für die ARD an dieses unselige Kapitel erinnert: „Jagd auf Verfassungsfeinde. Der Radikalenerlass und seine Opfer“. Der Film wurde am 17. Januar 2022 ausgestrahlt und ist ein Jahr lang in der ARD-Mediathek als Video abrufbar:
https://www.ardmediathek.de/video/geschichte-im-ersten/jagd-auf-verfassungsfeinde-der-radikalenerlass-und-seine-opfer/das-erste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL2dlc2NoaWNodGUtaW0tZXJzdGVuLzc0OWQyYTg4LTIzMmYtNGI3OS1hYTZlLTE3NzhjODgxMGVhYg/
Liebe Redakteurinnen und Redakteure des Beueler Extradienstes,
als Betroffene freut es uns sehr, dass auch Sie sich in die bundesweit erfreulich breite Reihe von Veröffentlichungen zum 50. Jahrestag des Radikalenerlasses und der Berufsverbote einreihen („Radikalenerlass wiederbelebt“, 28.01.2022).
Herzlichen Dank an Herrn Jüttner und Ihr Organ. Auch für Ihren Hinweis, dass in Bund und Ländern ausgerechnet um den 50. Jahrestag wieder an einer neuen Maßnahme gebastelt wird – dieses Mal nicht als Erlass, sondern als Gesetz (in Brandenburg soll bis Juni die Verabschiedung durch sein) – und alles unter dem Vorwand, gegen rechts.
Ein Hinweis auf drei kleine Unkorrektheiten in Ihrem Bericht sei erlaubt:
1. Die Landesbeauftragte für die Dokumentation „Berufsverbote in Niedersachsen 1972 – 1990“, Jutta Rübke, hat diese 2018 vorgelegt (nicht 1990).
2. Auch der Satz „1990 beschloss die Niedersächsische Landesregierung, den Radikalenerlass und alle damit verbundenen Beschlüsse aufzuheben“, kann so kaum korrekt sein. Gemeint sein könnte, dass damals die sog. Regelanfrage aufgehoben wurde – oder es stimmt auch an der Stelle die Jahreszahl nicht.
3. Unter den Bundesländern, in denen es bisher keine Parlaments-Initiative zur Aufarbeitung der Berufsverbote gegeben hat, führen Sie fälschlicherweise auch den Stadtstaat Bremen auf. Tatsächlich hat die Bürgerschaft bzw. der Senat Bremen als erster bereits 2011 einen Beschluss zur Aufhebung des Erlasses gefasst und sich für eine Rehabilitierung und Entschädigung ausgesprochen. Zumindest in einigen wenigen Fällen wurden auch Renten Betroffener angehoben.
Mit freundlichen Grüßen
Martin Hornung, Eppelheim (bei Heidelberg)
(Mitglied der baden-württembergischen Initiativgruppe gegen Radikalenerlass und Berufsverbote)
Beiden Kommentatoren meinen herzlichen Dank. Leider lässt es sich wohl nie ganz vermeiden, dass Tippfehler auftauchen oder Informationen übersehen werden.