Der Westen solidarisiert sich mit Israel: Aber für welche Werte kämpft er eigentlich? – Wenn der Westen in den Krieg geht, werden unsere Werte zitiert, die wir verteidigen wollen. Aber was ist von diesen Werten geblieben? Nicht viel.

Nach der uneingeschränkten Unterstützung der Ukraine musste sich der Westen auf die Seite Israels schlagen, dem Opfer der Massaker und Terroranschläge der Hamas. Die westlichen Medien haben bereits begonnen, von einem „Angriff gegen den Westen selbst” zu sprechen, von einem Krieg, der alle westlichen Länder betrifft. Uns, so die Vorstellung, wurde von der Hamas der Krieg erklärt, einer Terror-Organisation, die nicht einmal mehr als „Feind“, sondern als Bande „menschlicher Tiere“ bezeichnet wird. Der israelische Verteidigungsminister definierte die Mitglieder der Hamas mit deutlichen Worten: Es handle es sich um eine Gruppe wilder Wölfe, die ohne Skrupel getötet werden müssen, da ihr Leben, ein tierisches Leben, kein Recht mehr darauf hat, gelebt zu werden. Wenn man in seinem Feind keinen Menschen mehr erkennt, scheint jede Gräueltat gerechtfertigt zu sein.

Die Berichterstattung über Israel und deren Wandel

An diesem Punkt stellt sich jedoch die Frage: Für welchen Westen kämpfen wir überhaupt und welche „Werte“ vertritt dieser Westen? Wohl nicht diejenigen, die sich um die „Menschenrechte“ kümmern und um die Verhinderung von kriegerischen Gräueltaten. Das zeigt sich allein, wenn unsere „Feinde“ des Westens als Subjekte definiert werden, die man vernichten muss.

Seltsam, dass sich heute kaum jemand mehr daran erinnert, wie vor nur drei Monaten in vielen westlichen Zeitungen Artikel erschienen sind, in denen von Israel als einer illiberalen Demokratie gesprochen wurde, nachdem Netanjahu die Rechte des Obersten Gerichtshofs ausgeweitet hatte, um ohne Widerstände durchregieren zu können.

Unser Traum ist zum Alptraum geworden

Jenseits von Netanjahu und Israel gibt es im Westen genug Demokratien, die ebenso über ein Legitimationsproblem verfügen. Ich frage also: Was ist dieser Westen, den wir verteidigen wollen? Wir kämpfen sicher nicht für jenen Westen, der auf den „Werten“ der sogenannten „jüdisch-christlichen Wurzeln“ basierte, die in der heutigen Gesellschaft weitgehend unterminiert werden. Worüber reden wir also?

Die Wahrheit ist, dass wir es nicht wissen. Oder besser gesagt, wir wissen, dass wir für einen Westen kämpfen, der sich als „demokratisch“, als „beste aller möglichen Welten“, als Garant für die Achtung der Menschenrechte legitimiert, ohne dass dies in Wahrheit der Fall wäre. In Wahrheit ist der Traum der allumfassenden Demokratisierung der Welt, ja der Belehrung der Welt zu Ende gegangen oder vielmehr noch: eigentlich zum Alptraum geworden. Wir wollen es einfach nicht wahrhaben, dass wir in Richtung einer multipolaren Welt gehen. Der alleinige Legitimierungsanspruch der westlichen Werte ist ausgeträumt.

Welche Zukunft verspricht uns unser Kampf?

Der Westen erkennt aber diese Veränderung, diese Multipolarität nicht an. Er verharrt in seinen blinden Flecken und geht davon aus, dass die westlichen Werte die einzig richtigen sind. Man könnte provokant sagen: Der Westen fühlt sich immer noch als der bessere Teil der Welt. Diese Idee hat die Geschichte des Westens tief geprägt und sich Seite an Seite mit dem „katholischen“ Ideal des Universalismus entwickelt, mit dem Anspruch, eine Wahrheit zu vertreten, die grundsätzlich für alle gilt, um sich schließlich in einem euro-zentristischen Imperium zu verwirklichen.
Aber welche Art von Zukunft verspricht dieser Kampf um unsere Werte, um die Ausweitung unseres Westens, den wir auch heute noch verteidigen? Die Wahrheit ist: Unsere heutige Gesellschaft ist nichts mehr als das sterile Produkt eines weit verbreiteten Nihilismus, ein Spiegel der Entleerung jeglichen Wertes, Spiegel einer destruktiven Finanzwirtschaft, einer Technik mit dem alleinigen Zweck der Selbstoptimierung. Wofür kämpfen wir also?

Der Autor (geboren am 16. Juni 1955 in Genua) ist ein italienischer Philosoph. Nach seinem Abschluss in Philosophie zog er nach Deutschland, wo er als Assistenzprofessor für Philosophie und Rechtssoziologie an der Juristischen Fakultät der Universität des Saarlandes und später als Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) arbeitete. Derzeit ist er ordentlicher Professor für Rechtsphilosophie an der Juristischen Fakultät der Universität Genua. Darüber hinaus war er bis 2017 Professor an der Universität Luzern.

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